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20.11.23

Trotz

Ja, Trotz ist das Wort, das mir als erstes einfällt, wenn ich der gerade zurückgetretenen Ratsvorsitzenden der EKD zuhöre. Sie sei mit sich im Reinen, sie habe im Grunde keine Fehler gemacht, ominöse, anonyme Feind*innen schürten, so legt ihre Formulierung nahe, einen Konflikt zwischen Opfern und ihr als Amtsträgerin. Um es klar zu sagen (und ohne dass ich inhaltlich weiß, was Frau Kurschus konkret vorgeworfen wird, was ihre Rolle dabei war, dass Missbrauch in ihrer direkten Umgebung möglich war, und so weiter) – die Art ihrer Rücktrittserklärung und ihre, ja, trotzige Verletztheit lassen mich zu dem Schluss kommen, dass es gut ist, dass sie zurück getreten ist. 

Zumal mich ihre Erklärung und ihr Tonfall erschreckend an den Rücktritt meiner Bischöfin Jepsen damals, im Juli 2010, erinnern. Aber der Reihe nach.

8.4.23

Auftanken

Wir gehen fast nicht mehr in die Kirche. Seit Corona noch weniger. Und dass die Liebste auf den Bänken nicht sitzen kann und sich zurzeit nicht anstecken sollte, lässt es noch weniger zu. Es gibt aber Tage, an denen es mir wichtig ist. Und darum war ich dann allein im Karfreitagsgottesdienst. 

Es ist ja der mir allerwichtigste religiöse Tag, schrieb ich neulich was zu. Viele Jahre war ich in den Andachten zur Sterbestunde, bis mir die grotesken antisemitischen Improperien in ihrer mittelalterlichen Text- und Musikform, die der linke Pfarrer meiner Heimatgemeinde mit einer Schola zelebrierte, das final verleideten. 

Gestern darum der Morgengottesdienst, 9.30 Uhr in der sehr schönen Kirche in Fissau. Ohne Orgel, dafür mit Abendmahl. Karfreitag ist ja vor allem ein Genuss für Menschen, die sicher in der Liturgie sind und halbwegs singen können. 

Sehr angetan war ich von den modernen Improperien, die die Klage über „mein Volk“ nicht wie im Mittelalter auf die Juden bezog (weshalb es ja immer zu den Karfreitagspogromen kam durch aufgepeitschte Gottesdienstbesucher*innen) sondern auf das gesamte Gottesvolk. Kein Vorwurf des Gottesmords wie sonst üblich. Das war wunderbar. Und hat mir zusammen mit dem Abendmahl und den Liedern und Gebeten Kraft gegeben. 

15.11.22

Das Ende der Mehrheit

Vor einigen Wochen habe ich in Österreich einen Vortrag halten dürfen – zum Jubiläum einer lutherischen Kirche, die in ihrer Gegend, wie überall in Österreich, in einer sehr kleinen Minderheit ist. Es war für mich ein Anlass, weiter über mein schon lange in immer neuen Varianten ventiliertes Thema der Minderheiten-Mehrheit, also der Veränderung der Gesellschaft, wenn es keine Mehrheit mehr gibt, nachzudenken. 

Die Rede, die fast eine halbe Stunde dauerte und die ich im Parlament der Bundeslandes Niederösterreich halten durfte, dokumentiere ich hier leicht adaptiert, also etwas von den sehr spezifischen Passagen bereinigt, die sich auf die konkrete Kirche und ihre Situation bezogen. Am Tag nach der Rede habe ich mit rund vierzig Menschen noch einen Workshop zu dem Thema gestaltet, was weiteres sehr wertvolles Feedback bedeutete, das in das Nachdenken und Weiterschreiben einfloss und einfließt.

Viele viele bunte Schokolinsen

23.11.20

Pastorale

 

Noten, Pastorale
Schon im Studium war "pastoral" latent ein Schimpfwort. Sozusagen das, was wir unbedingt zu vermeiden suchen würden, wenn wir denn predigen. Was in gewisser Weise schräg war, denn der Beruf, den wir damals fast alle anstrebten, nannte sich "Pastorin". Heute heißt er auch in meiner Kirche "Pfarrerin". Pastorin kommt aus dem Lateinischen und meint Hirtin. Was ja wiederum etwas mit dem Beruf zu tun hat. Und in dem Sinne wäre pastoral eigentlich auch ganz ok, denn dann meinte es ja so was wie fürsorglich, aufpassend, achtsam und so. 

Aber wenn wir reden, dann ist pastoral nicht gut. Meistens meint meine Blase damit etwas, das ich als leicht gesungen, überakzentuiert, fast etwas affektiert in der selbstreferenziellen Emotionalität bezeichnen würde. Im Grunde wisst ihr wahrscheinlich, was ich meine.

Als ich in einige Reden auf dem digitalen Parteitag meiner Partei (der Grünen) reinhörte, fiel mir auf, dass ich – selbst wenn ich die Inhalte gut fand und den Rednerinnen normalerweise gerne zuhöre – viele Reden als pastoral empfand. Das hat mich gewundert. Ich weiß, dass viele, anders als ich, mit dem gefühligen, unscharfen Ton von Robert Habeck beispielsweise nicht viel anfangen können. Ich dagegen schon. Emotional und intellektuell spricht er mich auf eine Weise an, wie es bis dahin nur Björn Engholm damals vermochte, der interessanterweise einen ähnlichen Tonfall hatte. Aber auf dem Parteitag war es ja nicht nur er, der so sprach.

Merkwürdigerweise war selbst Annalena Baerbock, die sonst einen ganz anderen, zupackenden Ton hat, ähnlich. Zuerst hatte ich den Verdacht, dass sie die gleiche Sprechtrainerin hatten, die sie auf den Parteitag vorbereitete. Kann auch gut sein – erklärt es aber nicht. Und erklärt vor allem nicht, wieso sie beide so pastoral klingen.

Predigen ohne Publikum

Mein Verdacht ist, dass es eher daran liegt, dass sie quasi ohne Publikum sprechen. Denn das wäre das, was sie mit Predigten gemeinsam haben. Die Reden auf einem digitalen Parteitag sind so wie Predigten in der Kirche – wo Predigerinnen im Grunde in einen (quasi) leeren Raum reden. 

Vor allem aber: ohne irgendeine sichtbare Reaktion, kein Jubel, kein Klatschen, kein sichtbares Mitgehen. In den Kirchen, in denen ich zu Hause bin, wird Predigten gelauscht. Punkt. Und vielleicht beim Rausgehen noch ein lobendes Wort hinterlassen. Wenn es hoch kommt, gucken wir interessiert hoch auf die Kanzel. Oder lächeln mal ganz schwach. Aber eigentlich zeigen wir keine Reaktion. Wie bei einer Rede in einem Webinar oder einer virtuellen Konferenz.

Ich habe mich schon oft gefragt, wieso Predigten meistens so anders, so viel künstlicher in ihrer Emotionalität und Intensität sind als "normale" Reden. Es ist mir vorher nie in den Sinn gekommen, aber ich glaube inzwischen wirklich, es liegt am Publikum. Oder eben daran, dass es still ist oder fehlt.

Selbst merke ich es ja auch. Ich denke, dass ich als Redner ganz ok bin, zumindest oft, zumindest bekomme ich hin und wieder dieses Feedback. Und ich merke, dass mir das Reden ohne (sichtbares, reagierendes, körperlich spürbares) Publikum schwerer fällt. Dass es mich verunsichert und ich dazu neige, mehr abzulesen und – ja tatsächlich wie beim pastoralen Stil – dazu neige, überzuakzentuieren. Wenn das ein Wort ist, das als benutzbar gelten kann. Ihr wisst, was ich meine.

Menschen, die wie Annalena und Robert oft wirklich gute Rednerinnen sind, und bei denen ich merke, dass sie mit dem Publikum in eine Beziehung treten, werden etwas blutleer, wenn sie in den leeren Raum sprechen. Und sehen aus, als ob die den Teleprompter nutzen, also ihre Rede ablesen – wo sie sonst oft stundenlang frei reden (können). Sie werden pastoral.

Lustigerweise habe ich durch den digitalen Parteitag der Grünen mehr über das Predigen gelernt als über digitale Parteitage. Oder, wie ein geschätzter Kollege und Mit-Christ antwortete, als ich diesen Gedanken teilte: Ich glaube, ich werde in Gottesdiensten künftig mehr klatschen.

10.6.20

Alerta

Ich lebe am Rande einer Kleinstadt. Diese Kleinstadt ist sehr lebenswert und interessanterweise sehr divers. Sie hat eine der letzten größeren Militär-Kasernen und eine Polizei-Kaserne. Sie hat mehrere Wohnanlagen für Alte. Etliche Schulen jeder Geschmacksrichtung für eine ganze Region. Etliche lokale Handwerksbetriebe und Geschäfte haben sich zu einer "Faire-Welt"-Initiative zusammen geschlossen. 14- und 15-jährige Mädchen organisieren eine der großen Fridays-for-Future-Gruppen in der Region. Ein Volksentscheid gegen ein Inklusionshotel in bester Lage ist sang- und klanglos gescheitert.

Das alles ist noch nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der Nazi-Aufkleber an Laternenpfählen überhand nahmen. In der sich Nazis im Straßenbild breit machten. In dieser Zeit lebte ich nicht hier, ich war nie in dieser Kleinstadt. Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Und aus anderen Gegenden. Mitte der 80er war ich kurze Zeit Antifa-Koordinator im letzten Juso-Kreisvorstand, den es in meinem Hamburger Bezirk gab.

***

Als vor ein paar Jahren die Rechten eine Kampagne gegen Antifaschistinnen fuhren und sich die meisten so genannten "Bürgerlichen" nicht schnell genug von ihnen distanzieren konnten – was sie ja bis heute machen –, ist einer Freundin, die damals schon in jener Kleinstadt lebte, der Kragen geplatzt.

Damals, erzählt sie, gab es ein paar junge Leute in der Stadt mit Lederjacken und bunten Haaren und Springerstiefeln. Die nannten sich Antifa. Und wenn sie und ihre Freundinnen, alle aktiv in der evangelischen Kirchengemeinde der Kleinstadt, loszogen, um unter merkwürdigen Blicken der meisten Einwohnerinnen die Nazi-Aufkleber von den Laternenpfählen abzupulen, waren diese jungen Leute die einzigen, die sich ihnen anschlossen. Und wenn sich auf der anderen Straßenseite ein paar von den Nazis aufbauten, die offen zum Straßenbild der Kleinstadt gehörten, dann waren diese jungen Leute da. Mal einfach nur so. Mal in Bewegung.

Sie war die jüngste der Frauen damals. Und keine der grauhaarigen Freundinnen ließ oder lässt etwas auf die Antifa kommen. Ohne Antifa, sagen sie, wäre diese Kleinstadt heute noch ein gefährliches Pflaster für sie, für Christinnen. Ohne Antifa hätten sich in den Jahren danach nicht die ersten Ladenbesitzerinnen zusammengeschlossen, um eine Initiative für Schutzräume und dann später für Fairen Handel zu bilden. Es waren (meist ältere) Frauen der evangelischen Kirche und die jungen Leute der Antifa, die die einzigen waren, die der beginnenden Dominanz der Nazis im Stadtbild etwas entgegensetzten.


***

Sich von "der Antifa" zu distanzieren, halte ich für dumm, unpolitisch und gefährlich. Und "man" muss es sich auch leisten können. Denn seit den 80ern gab und gibt es nicht viele andere, auf die sich verlassen kann, wer Nazis entgegentritt. Fast überall (im Westen) waren es damals Aktive aus Kirchengemeinden zusammen mit jungen Leuten, die keine Angst davor hatten, dass es vielleicht auch mal wichtig sein könnte, sich (körperlich) zu wehren. Und als 2015 in unserem Stadtteil am Rand von Hamburg die größte Unterkunft für Vertriebene eingerichtet wurde und die Nazis aus den Nachbarstadtteilen ankündigten, das nicht zuzulassen, waren es junge Leute mit Lederjacken und bunten Haaren, die die Nächte im Gewerbegebiet verbrachten. Und das evangelische Gemeindehaus bewachten, das das Basislager der Helferinnen war. Und sonst niemand.



***

Im ersten Kreisvorstand der Jungen Sozialdemokraten, der unseren letzten Juso-Kreisvorstand ablöste, gab es selbstverständlich keinen Koordinator für Antifa-Arbeit mehr. Ich weiß sehr genau, auf wen ich mich verlassen kann, wenn ich von Nazis bedroht werde. Und das ist ganz sicher niemand, der oder die sich von "der Antifa" abgrenzen zu müssen meint.




6.4.19

Wer das glaubt

Als damals „Jana glaubt“ online ging, war ich neugierig. Aus zwei Gründen: Zum einen, weil meine Agenur ja selbst Programme macht, für die Kanäle und Protagonistinnen aufgebaut werden. Und zum anderen, weil ich meiner Kirche sehr verbunden bin (ohne zu den Hochverbundenen zu gehören, aber dazu gleich mehr). Gerade ist der Kanal wieder in der Diskussion, aus Sicht der Auftraggeberinnen heute zusammengefasst von Hanno.

Neben den furchtbaren Inhalten finde ich bemerkenswert (und deutlich dramatischer), dass nicht erkennbar ist, was tatsächlich mit diesem Kanal und dem Programm erreicht werden soll. Denn irgendein Ziel muss es ja geben, wenn (meine Schätzung, nicht bestätigt) zwischen 200 und 250 Tausend Euro ausgegeben werden durch Kirchens. Alles, was wir zum Ziel erfahren, ist: jüngere Menschen als sonst mit kirchlichen Medien. Naja.

Mit so einem Briefing ist das Ergebnis nicht überraschend. Da geht die Agentur dann halt den einfachen Weg: sichere, homogene Community, die klickt. Auch, wenn die Kirche sie nicht „braucht“. Klar, dass eine freikirchliche Protagonistin „ihre“ Leute treu bei der Stange hält. Und diese Art von Gemeinden wächst ja auch relativ (von sehr niedrigem Niveau, das sind weiterhin wenige – auch wenn es uns oft anders vorkommt). Nur: beide volkskirchlichen Gruppen, die ich mir als Zielgruppe für die EKD vorstellen könnte, erreicht mit dieser Form von Frömmigkeit niemand. Weder der engste Kreis der Gemeinde, die so genannten Hochverbundenen, noch die Distanzierten, die nicht aktiv mitmachen aber auch nie austreten würden. In beiden Gruppen gibt es Fromme und Evangelikale. Aber eben quasi keine pfingstlerisch Orientierten. Selbst die von der geistlichen Gemeindeerneuerung sind nicht (mehr) so.

Was also will die EKD, will ihre Publizistik, mit diesen und bei diesen Menschen erreichen? Preaching to the choir? Absurd, sorry.

Dabei kann ich mir schon vorstellen, was wichtig wäre. Beispielsweise: Dieses Jahr wird das vierte meiner Kinder konfirmiert. In den letzten knapp zehn Jahren habe ich vier Kinder konfirmieren lassen. Und keines von denen interessiert sich über die selbstverständliche Familientradition hinaus für Kirche. Für keines hatte „die Kirche“ ein publizistisches Angebot, das die geistliche Armut unserer Gemeinde ausgleichen konnte. Das wäre mal spannend gewesen.

Und übrigens (nur als Beispiel, mir fallen auch noch einige weitere ein) wäre das auch eine Zielgruppendefinition und ein Ziel, die ich aus Agentursicht hinreichend und spannend fände. 14- bis 20-jährige nach der Konfirmation. Und die für Kirche und Glauben interessiert halten. Dass da so was wie „Jana glaubt“ nicht funktioniert, ist klar.

Vielleicht ist aber auch noch was anderes das eigentliche Problem, wenn ich Hannos Text richtig verstehe: Dass die Auftraggeberinnen unbedingt Video/YouTube machen wollten. Denn vielleicht ist der Kanal einfach doof. Vielleicht auch nicht. Aber den Kanal vor dem Ziel vorzugeben, ist jedenfalls ein bisschen unglücklich.

Übrigens bin ich gespannt, wie sich Theresa auf YouTube entwickelt.

2.10.17

Abendmahl


Es ist irgendwie merkwürdig, dass es immer wieder das Abendmahl ist, das mir in (neuen) Gemeinden für Irritationen sorgt. Es ist das, was mir an Gottesdiensten neben der Musik am wichtigsten ist, vielleicht darum. In der Musik, wenn sie denn gut ist, und im Abendmahl erlebe ich die Gegenwart Gottes. Und gerade das Abendmahl gibt mir auch ganz real Kraft.

Ich bin in einer Gemeinde aufgewachsen, in der es jeden Sonntag, in jedem Gottesdienst, Abendmahl gab. Und war darum sehr irritiert, als ich als Jugendlicher während des Konfirmandenunterrichts in meiner Wohngemeinde erlebte, dass es nur einmal im Monat gefeiert wurde. Ein Gottesdienst ohne Abendmahl war für mich irgendwie keiner. Und auch, wenn ich mich daran gewöhnt habe über die Jahre, ist es mir fremd geblieben, wie eine Gemeinde darauf verzichten kann, es jede Woche zu feiern.

Der Kampf ums Abendmahl

In den letzten Jahrzehnten habe ich, wenn ich aktiv war oder Verantwortung trug in Gemeinden, oft um das Abendmahl gekämpft. Von der Frage, ob Kinder eingeladen sind an den Tisch über die Frage Wein oder Traubensaft bis hin zur Feier selbst, vor allem um den Kelch. Und darum irritiert mich die Abendmahlspraxis in meiner aktuellen Gemeinde in Eutin so sehr.

Während der 80er, als es die AIDS-Hysterie gab, entstanden in vielen evangelischen Gemeinden Ängste rund um die Hygiene des Kelchs und die Ansteckungsgefahr. Machte der Kelch die kleine Drehung, bevor die nächste ihn bekommt? Mag ich überhaupt aus dem einen Kelch trinken? Es begannen die ersten, ihre Oblate in den Kelch zu tunken auch, wenn sie nicht selbst krank waren (und ich es auf Rücksicht auf die anderen vertretbar finde). Viele Gemeinden schafften diese kleinen Schnapsgläser an, in die das Blut gegossen wurde. Ich selbst bin bis heute beim Gemeinschaftskelch geblieben. Und bleibe auch (stur) dabei in Gemeinden, in denen das nicht (mehr) üblich ist.

Eutin ist eine liberale Gemeinde, darum akzeptieren sie, dass es verschiedene Formen gibt während des Abendmahls. Aber die allermeisten tunken hier die Oblate ein, es sind nur ein paar wenige alte Menschen, wir und einige aus einer sehr frommen, fast freikirchlich orientierten Tradition, die es anders machen. Die den Kelch nehmen und trinken.

Gerade jetzt, in dem Jahr, in dem wir den 500. Jahrestag der Befreiung von Kirche und Bibel aus den Fängen einer korrupten Klerikerkirche feiern, ist mir völlig unverständlich, wie wir eine der großen Errungenschaften der Reformation einfach so aufgeben können: den Kelch für alle, Christi Blut, das nicht nur den Priestern gehört sondern allen Christinnen und Christen in Gemeinschaft. Von unseren Vorfahren wurden etliche hingerichtet, weil sie um den Kelch kämpften. Und das geben einige von uns auf? Ok, in reformierten Zusammenhängen vielleicht, wo das Abendmahl mehr symbolisch ist. Aber in lutherischen? Wo wir daran glauben, dass Brot und Wein/Traubensaft eben im Abendmahl nicht nur Brot und Wein sind – sondern dass es zugleich und wirklich Christi Leib und Christi Blut sind? Das zu trinken wir aufgefordert sind? Das Tunken der Oblate finde ich theologisch absurd und historisch fast schon pervers. Es ist glaubens- und geschichtsvergessen. Und ich bin dankbar, dass es bei uns zumindest möglich ist, den Kelch zu nehmen.

Die Unbarmherzigkeit

Der andere Punkt, der mir immer fremd bleiben wird, ist, wie es sein kann, Menschen vom Abendmahl auszuschließen. Zumal die Beichte, die notwendig ist, damit wir uns nicht "zum Gericht essen", ja Teil unserer Abendmahlsliturgie ist. Aber immer noch gibt es Gemeinden, die Kindern diesen wunderbaren Zugang zum Glauben verweigern. Oder unklar sind, wie sie damit umgehen sollen. Vor allem, weil ja fast nur Kinder mit zum Abendmahl gehen, die von ihren Eltern in das Glaubenszeugnis mit hineingenommen werden. Gestern, ausgerechnet an Erntedank, führte das zu einer absurden, peinlichen, sehr verstörenden Situation, als der Küster an einem kleineren Kind, das die Hände ausstreckte, vorbei ging zu seinem größeren Geschwister (das aber auch noch zu jung war, um konfirmiert zu sein, was in vielen Gemeinden immer noch der Zeitpunkt ist, zu dem sie Kinder erst zum Abendmahl "zulassen", was für ein theologisch absurdes Wort). Der Vater teilte daraufhin seine Oblate mit dem Kind. Aber mich machte es sehr zornig und er warf mich völlig raus aus der Gemeinschaft.

Kaum etwas, so scheint mir, ist so sehr ein Zeichen für die geistliche Armut unserer Gemeinden wie ihr Umgang mit dem Abendmahl. Und an ihrer Abendmahlspraxis kann ich sehen, wes Geistes Kind eine Gemeinde ist.

8.9.17

Das cor incurvatum und das Virtuelle

Das in sich gekrümmte Herz

Dass Luther die Figur vom cor incurvatum von Augustin wieder entdeckte, gehört zu dem Wunderbarsten der Theologie der Reformation. Das Bild eines Herzens, das sich so zusammenkrümmt, dass es nur sich selbst sieht und sehen kann (nicht umsonst ist es das in se, was noch dazu gehört), ist die mich vielleicht am stärksten berührende Beschreibung eines Lebens fern von Gott. Es beschreibt nicht nur Egoismus, sondern diesen sich im eigenen Leid suhlenden oder im eigenen Glück badenden Menschen, der Hoffnung, Trauer, Mitleid nur aus sich selbst kennt und auf sich selbst bezogen sieht. Das "und was ist mit mir"-Rufen, das Gefühl, immer die zu sein, die zu kurz kommt, ist das eigentliche Zeichen von Gottesferne. Der Neid, der entsteht, wenn Menschen mit in sich gekrümmtem Herzen ihrer Mitwelt begegnen, ist das, was ich "der Teufel" nenne. Der Hass auf die, denen so ein Mensch begegnet, auf die, von denen der Mensch zu sehen glaubt, dass sie alles bekommen, was er nicht bekommt, dass sie ihm alles wegnehmen, dieser Hass ist im Kern ein Hass auf Gott.

Die große Erkenntnis hinter dem cor incurvatum ist doch, dass ein Mensch, der sich – die Philosophie würde sagen: solipsistisch – nur auf sich selbst bezieht, gefangen ist und nur durch Gott befreit werden kann. Nur durch Glauben "gerecht" werden kann. In christlichem Kontext jetzt, klar. Aber dass dieser Mensch eben auch befreit werden muss. Oder sich selbst befreien muss. Dass es unbarmherzig ist, diesen Menschen nicht damit zu konfrontieren, dass er dem Teufel aufgesessen ist. Wir haben im (europäischen) Luthertum schon lange keine Tradition des Exorzismus mehr (und das ist unglaublich gut so, denn das, was damit an Schindluder getrieben wurde und teilweise noch wird von den Kirchen und ihren Pfaffen, ist ein Verbrechen), aber neu über diese Frage nachgedacht, ist eine Handlung, die Menschen ohne falsche Rücksicht auf die Verkrümmung ihres Herzens rüttelt und schüttelt und aufrichtet, die einzige, die aus Barmherzigkeit kommt, finde ich. Eine Handlung, die kein Verständnis hat sondern klar benennt, wo das Böse ist.

Ob die eitle Einsamkeit des cor incurvatum Symptom oder Ursache ist, weiß ich nicht. Dass sie überwinden muss, wer leben will, glaube ich.

Das Virtuelle

In konservativen Kreisen meiner Kirche, auch in links-konservativen, wie unlängst am Reformationsmoratorium von Schorlemmer und Wolff zu besichtigen, wird die existenzielle Einsamkeit und Gottesferne des cor incurvatum heute gerne mit der scheinbaren Vereinzelung von Menschen in heutigen digitalen Netzwerken beschrieben:
Das „Selfie“ mit dem iPhone steht für die zunehmende und alleinige Konzentration des Menschen auf sich selbst. Von Kindesbeinen an daran gewöhnt, führt das zu einer inneren Vereinsamung, lässt menschliche Beziehungen verkümmern und den realen Nächsten zugunsten des virtuellen aus den Augen verlieren.
So schreiben Schorlemmer und Wolff in einem ansonsten überwiegend eher lesenswerten Text. Knut Dahl-Ruddies sagt dazu ein bisschen was.

Da ist er.
Der Schrecken.
Aller, die Nähe nur aus der Kohlenstoffwelt zu kennen glauben.
DAS VIRTUELLE.
Das, was ich nicht berühren kann, wo ich keine Stimme, keine Mimik habe. Wo wichtige Dimensionen der Kommunikation und der Nähe und der Intimität fehlen.

Da sprechen sie wie die Verächterinnen der Religion. Die es absurd finden, dass ich eine lebendige Beziehung zu Gott habe. Dass ich im Gebet in ein Gespräch mit Gott trete. Dass wir bei der Feier des Abendmahls davon überzeugt sind, dass Jesus anwesend ist, dazu tritt, ganz, nicht nur in unseren Gedanken.

virtuell, sehr


Wer das Virtuelle gering schätzt, kann eigentlich keine Christin sein. 

Wirklich nicht. Denn seit Himmelfahrt ist unser Glauben und vor allem unsere Glaubenspraxis sehr wesentlich von einer virtuellen Beziehung geprägt. Vom Ende der kohlenstofflichen Nähe dessen, von dem wir glauben, dass er ganz Mensch und ganz Gott ist. Und der doch nah bleibt und Generationen nah gewesen und geblieben ist.

Wer wenn nicht Christinnen und Christen sollte verstehen, dass Nähe und Intimität nicht auf den Kanal ankommt, auf dem Kommunikation und Gemeinschaft stattfindet? Wer hat so sehr über Jahrhunderte geübt, mit virtuellen Freundinnen und Freunden zusammen zu sein. Und wer wüsste so gut wie Christinnen und Christen, dass weder eine Gemeinschaft von Menschen in der Kohlenstoffwelt noch eine einsame Gemeinschaft mit einem oder einer, die virtuell da sind, ausreichen für die Fülle des Lebens. Dass ich einsam und in mich gekrümmt sein kann, ob ich unter Menschen in der Kohlenstoffwelt bin oder nicht. Dass sogar Menschen zusammenstehen und sich aneinander berauschen können, wenn sie vom Teufel besessen sind und ein in sich selbst gekrümmtes Herz haben. Wie in Finsterwalde und anderswo.

Das Virtuelle gegen das cor incurvatum

Wo das "Selfie" nur auf sich selbst zeigt, wo es nur um mich geht, wo ich meine Einsamkeit durch leere Inszenierung zu übertünchen suche und doch auf mich selbst zurück geworfen bin, da ist es Ausdruck der furchtbaren Entfremdung vom Leben und von Gott. Aber das hat nichts mit dem Virtuellen zu tun. Denn das hatte auch die Stiefmutter von Schneewittchen schon.

Im Gegenteil – wo das "Selfie" der Beginn einer Interaktion mit anderen wird, wo ich Antworten bekomme wie "du Schöne", "HDL" oder "Beste", da trete ich im besten Fall heraus aus meiner Verkrümmung. Denn Liebe und affirmative Kommunikation helfen fast immer, wenn der Teufel Neid oder der Teufel Hass mein Herz verkrümmen. 

Und so, wie für einige von uns Christinnen und Christen kurze, über den Tag verteilte, Kommunikation mit dem Virtuellen dem Tag Rhythmus geben, ohne jedes Mal von besonderer und besonders tiefer Substanz zu sein, wie wir "Danke" sagen für Kleinigkeiten – und die Wärme der Gemeinschaft spüren, so kann, wenn es gut läuft, auch in anderen virtuellen Kommunikationen sein. 

Bleibe bei mir, sagen wir. Und meinen das nicht kohlenstofflich.
In deinem Namen, sagen wir. Und wissen, dass es auch anderswo so ist.
Wir läuten die Glocken, wenn wir das Vaterunser beten, damit andere einstimmen können, die nicht hier sind. Hier, im kohlenstofflichen Sinne.

Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, lernen wir. Und das soll ausgerechnet dann nicht gelten, wenn es Gemeinschaft und Kommunikation gibt, die wir nicht verstehen? Die ihr nicht verstehe, nicht nachfühlen könnt? Es tut mir leid, Friedrich und Christian, liebe Brüder, das kommt mir sehr arm vor. Und sehr kleingläubig. Zumindest von dir, Friedrich, habe ich es anders erwartet. Denn du warst für mich ein wichtiger Lehrer für Glauben im Leben.

14.6.17

Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen

Vorweg

Im Grunde bin ich Arte und dem WDR ja dankbar. Denn sie hätten die unliebige Dokumentation über den alltäglichen Judenhass und Antisemitismus in Europa auch irgendwann um 1.30 Uhr senden können. Aber da sie den Streisand-Effekt offenbar nicht kannten, haben nun viele diesen Film gesehen, der immer wieder auf YouTube auftaucht und den einige, ich auch, auf ihrer Festplatte haben. Und das ist gut so, weil so die Chance besteht, den Stand der Antisemitismus-Diskussion mehr Menschen zugänglich zu machen. Vor allem solchen, die weit von sich weisen, Antisemiten zu sein, obwohl sie es sind.

Es gibt eine Form des Antisemitismus, die ich gut kenne – weil ich in ihr aufgewachsen bin und sie in meinem Umfeld auch heute noch weit verbreitet ist. Darum schreibe ich hier über diese Form.

[Was nicht heißt, dass der klassische rechte oder islamische Antisemitismus weniger schlimm wäre. Ich kenne ihn nur nicht so gut aus eigenem Erleben, denn ich kenne nur wenige Nazis und ebenfalls nur wenige gläubige Moslems.]

Und zusätzlich verweise ich mit großer Zustimmung auf eine Rezension und kurze erste Einschätzung der Doku und ihrer Stärken und Schwächen bei meinem Lieblingskonservativen Philipp Kurowski, Pfarrer an der Küste (wir haben gleichzeitig Theologie studiert, kommen aus diametral entgegengesetzten Ecken der evangelischen Kirche und oft zu theologisch und politisch sehr gegenteiligen Schlüssen, beschäftigen uns aber seit vielen Jahren mit den gleichen Themen und für mich ist Philipp eine sehr wichtige und mehr als nur geschätzte Stimme).

Das ist doch nicht antisemitisch

Es ist beim linken, linksliberalen und evangelischen Antisemitismus total faszinierend, dass er so auffallend blind ist dafür, dass er eben dieses ist: Antisemitismus. Während es im emanzipatorischen Diskurs normalerweise als selbstverständlich gilt, dass Rassismus oder Sexismus auch da existieren, wo sich Menschen dessen nicht bewusst sind, soll das ausgerechnet beim Antisemitismus anders sein? Oder wie soll ich die wütende Empörung interpretieren, wenn ich ihre Vertreterinnen darauf hinweise, dass sie antisemitisch reden (oder handeln)?

Bei allen Schwächen der Dokumentation (vor allem, darauf weist ja Philipp auch richtig hin, die Skandalisieren und Pauschalisierung, ohne die, denen Vorwürfe gemacht werden, zu Wort kommen zu lassen) ist eine ihrer größten Stärken aus meiner Sicht, dass sie solide durchargumentiert, wieso obsessive Israelkritik sich komplett in antisemitischen Mustern und Denkformen bewegt.

Der Schlüssel ist dabei hier das Adjektiv: obsessiv. Denn anders kann nicht beschrieben werden, mit welcher Vehemenz und in welcher Menge Israel für seine Kritikerinnen Thema ist. Objektiv betrachtet ist das Palästina-Problem etwa mit dem Kosovo-Problem vergleichbar. Die Aufmerksamkeit aber für Palästina und Israel ist so übersteigert, dass sie einer Sucht gleicht. Diese Obsession ist meines Erachtens die moderne Spielart des "ewigen Juden" und der ewigen Schuldfrage. Sobald die Judenfrage gelöst ist, ist der Terror, der Kapitalismus, der Nahostkonflikt, *setze ein beliebiges Problem ein* gelöst.

Die Projektion

Der linke, linksliberale und evangelische Antisemitismus kommt aus einer Haltung der Solidarität mit den Unterdrückten. Und äußert sich in dem Entsetzen, dass doch "gerade die Juden", an denen ja der Holocaust verübt wurde, es besser wissen müssten. Auch hier haben wir es wieder mit einer Obsession zu tun – mit der absurden Vorstellung, dass das Feuer des Holocaust aus seinen Opfern bessere und beste Menschen gemacht haben muss. Im Kern geht es dann eben doch um das bittere, zynische Wort, dass die Linke den Juden den Holocaust einfach nicht verzeihen kann (so eben zynisch und falsch dieser Satz ist).

Am Ende ist es eine obsessive Projektion und eine Opfer-Täter-Umkehr, aus dem unendlichen Leid, das dem jüdischen Volk zugefügt wurde, zu schließen, dass der Zufluchtsstaat eben dieses Volkes eine besondere moralische Verantwortung habe und unter besondere Beobachtung gestellt gehöre, ob er dieser besonderen Verantwortung auch gerecht werde. Und aus dieser obsessiven Projektion heraus wird einem einzigen Staat auf der Welt das verweigert, was für alle anderen Staaten als selbstverständlich gilt: dass er sich verteidigen darf, wenn er angegriffen wird. Wo dieses aus radikalen pazifistischen Gründen so ist, ist die Situation etwas anders – denn eine Pazifistin kann und wird auch den Krieg der Nachbarn und die militärische Instrumentalisierung der Palästinenserinnen genau so heftig kritisieren. Oh, das passiert nicht? Also doch Antisemitismus?

Seht welch ein Mensch

Die Wurzel des linken, linksliberalen und evangelischen Antisemitismus, die ich biografisch am besten kenne, kommt aus der Anti-Apartheitsbewegung. Schon zur Hochphase der Solidarität mit dem ANC und mit Mandela in Deutschland, beispielsweise beim Kirchentag 1987 in Frankfurt, war Israel für die Gruppen, in denen ich als Kind und Jugendlicher sozialisiert wurde, und war Israel sehr explizit für meine Eltern immer auf der gleichen Stufe wie Südafrika. Der Südafrika-Boykott wurde schon damals von weiten Teilen der kirchlichen Dritte-Welt-Arbeit (so hieß das damals noch) mit einem Israel-Boykott verbunden. 
Darum bin ich auch ein bisschen skeptisch ob der oben verlinkten Stellungnahme von "Brot für die Welt" zur Dokumentation – mein Erleben spricht nicht dafür, dass evangelische Eine-Welt-Arbeit und die aktuelle Antisemitismus-Diskussion sich auf der gleichen Wellenlänge befinden.

In diesem als Israelkritik getarnten Antisemitismus evangelischer Prägung lebt der alte Urmythos des christlichen Antisemitismus weiter, dass "die Juden" unseren Christus umgebracht haben. Was im Mittelalter zu den regelmäßigen Karfreitagspogromen führte, angestiftet von den liturgischen Improperien, die in meiner Heimatgemeinde mit all ihrem Judenhass weiterhin jeden Karfreitag gesungen werden (und wo der ehemalige Pfarrer, der heute persönlicher Referent des Landesbischofs ist, auch nachdem ich mit ihm drüber sprach, jeden Antisemitismus in diesen Texten zurückwies. Kann ja nicht sein. Er ist schließlich selbst Minderheit und mit Opfern solidarisch. QED).

Spätestens seit dieser Zeit, der Südafrika-Aktivisten-Zeit, sind im links-evangelischen Spektrum erstaunlich viele mehr oder weniger engagierte Leute wie beispielsweise mein Vater offene Antisemiten – und würden es doch weit von sich weisen. Gefestigt durch solidarische Reisen in palästinensische Partnergemeinden. Und selbst nicht-interpretationsfähige Sätze sah mein Vater nie als antisemitisch (beispielsweise als er mich raunend warnte, damals, als ich 2006 bei Edelman anheuerte, dass ja die Unternehmenskultur "bei den New Yorker Juden" ein bisschen besonders sei).

Diese Muster finden sich rauf und runter in den Szenen, in denen ich mich mein Leben lang bewegt habe - bei Sozialdemokratinnen, Grünen, Linken, links-evangelischen Christinnen. Nicht bei allen, wahrscheinlich nicht mal bei der Mehrheit. Aber doch bis in viele Gremien und Medien hinein stilbildend. Gemeinsam haben sie, dass sie Antisemitismus schrecklich finden und verdammenswert. Und dass sie nicht sehen, dass ihre Solidaritäts- und Boykottmuster eben dieses sind: Antisemitismus.

Die Dokumentation

Das macht für mich auch verständlich, warum die Judenhass-Dokumentation so irritiert und nicht gesendet wird: weil sie die eigenen Gewissheiten einer sich auf der richtigen Seite (der guten, der Seite der Unterdrückten) wähnenden Haltung in Frage stellt. Weil es in den letzten Jahren nicht gelungen ist, die Ergebnisse der Antisemitismus-Forschung und -Diskussion bis zu ihnen zu tragen.

Bei allen berechtigten Kritikpunkten an der Dokumentation ist das aber eine Leistung, die sie erbringt: den Stand der Forschung und Diskussion zusammenzufassen und solide durchzuargumentieren. Sagte ich ja oben bereits beim Thema Obsession. Gilt aber auch für andere Bereiche.

Mich hinterlässt das, obwohl für mich persönlich nur wenig inhaltlich Neues dabei war (außer die Musikdinge und einiges zu Frankreich), traurig und auch ein bisschen verstört. Was für eine Doku ja nicht das Schlechteste ist.

15.1.16

Alle Christen hassen Homos

Seit vielen Jahren setze ich mich sehr kritisch mit "dem Islam" auseinander. Mindestens seit 2010 auch hier im Blog (auf die Schnelle fand ich keinen älteren Beleg hier). Wahrscheinlich stört es mich deshalb so sehr, wenn ich in den letzten Tagen und Wochen immer wieder von Leuten auf Interviews mit "Islamkritikerinnen" aufmerksam gemacht werden, deren Tenor in etwa ist: Ich weiß das, denn ich komme aus einer islamischen Familie. Und alle muslimischen Männer verachten Frauen und alle muslimischen Mütter erziehen ihre Söhne zu Frauenhassern. Und so weiter und so ähnlich.
Wie die meisten, die mich schon länger als zwei, drei Tage lesen, wissen, bin ich mehr als nur skeptisch, was den organisierten Islam, auch und vor allem den in Deutschland angeht. Und ja, wer sich ein bisschen mit Geschichte auskennt, weiß, dass das organisierte Christentum auch nicht direkt aus seinen Institutionen heraus die ersten Schritte gemacht hat, um im Zuge der Aufklärung und vor allem dann im Zuge der Modernisierung nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs (die für die Kirchen theologisch noch weit prägender und verändernder war als das Versagen der nicht-lutherischen Kirchen während des Nationalsozialismus) ein auf Freiheit und Menschenfreundlichkeit ausgerichtetes Selbstverständnis zu entwickeln. Und ja, Teilen des organisierten Christentum (glücklicherweise nur in einer sehr verschwindenden, wenn auch lauten Minderheit) ist das bis heute nicht gelungen. Und ja, die unterschiedlichen Erfolgsgeschichten von Islam und Christentum hängen auch damit zusammen, dass sie - nach meiner Auffassung - in unterschiedlich starkem Maße den Keim zur Aufklärung und zum Selbstdenken in sich tragen. So weit dazu.

Aber: So wenig, wie wir aus einem durchgeknallten Erzbischof in Spanien [Edit: auch die Meldung in dieser Quelle und nicht nur in der gewohnt unseriösen, die ich nicht verlinke, die runter und rauf gereicht wurde die Tage, ist falsch und basiert auf einer Lüge. Ist sozusagen das QED der These dieses Posts hier, was fast schon skurril ist. Also: der Bischof mag durchgeknallt sein, was ich nicht weiß, aber er hat ausdrücklich das Gegenteil dessen gesagt, was ihm vorgeworfen wird. Paradoxerweise ist das schon ohne Spanischkenntnisse in dem auch bei der HuffPo verlinkten Originaltext seiner Predigt sofort zu erkennen. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich den Link nicht vorher aufgerufen habe. Unten im Kommentar von Martin Recke ist ein Link auf eine deutsche Übersetzung der Predigt.] auf alle Christinnen schließen ("wir" sind hier, tschuldigung, alle, die nicht aus ideologischen Gründen genau so argumentieren wie die aus dem Islam Konvertierten), können wir behaupten, alle Moslems, männlich wie weiblich, seien so oder so.

Selbstverständlich ist es Alltagswissen und auch die privatempirische Erfahrung von allen, die mit Jugendlichen arbeiten, dass es unter jungen Männern, die aus muslimischen Familien kommen, überproportional viele gibt, die eine Haltung zu Frauen haben, die sie ausschließlich als Objekt sieht. Nur gibt es auch ganz andere und in unserem Teil von Hamburg beispielsweise leben sehr, sehr viele Familien, in denen das ganz anders ist. Und, erschreckend: diese abstruse Haltung nimmt unter biodeutschen und anderen Jugendlichen aus nicht-muslimischen Umfeldern in den letzten Jahren ebenfalls wieder massiv zu. Was nicht ausschließlich der Einwanderung zuzuschreiben ist, weil es auch in Gegenden so ist, in denen nicht die Kinder der Einwanderinnen milieuprägend sind. Es ist im Gegenteil erschreckend zu beobachten, wie in Milieus und Stadtteilen, in denen eher Mittelschicht und obere Mittelschicht zu Hause ist, "Mackerverhalten" massiv zunimmt. Was übrigens überwiegend aus nicht mehr christlich geprägten Familien heraus passiert.

Ich finde es schräg - und das, obwohl ich religiös und politisch zu den Gegnerinnen des organisierten Islam gehöre - wie bereitwillig und unwidersprochen eine Beschreibung des Islam als so ist dann dann wohl akzeptiert wird, die exakt so ist wie die Beschreibung des Christentums von den religiösen Atheistinnen (so aggressive Lobbygruppen wie die Humanistische Union und andere) - obwohl mit denen nur sehr wenige andere der Meinung sind, dass ihr Zerrbild der christlichen Wirklichkeit in diesem Land entspreche.

Selbstverständlich kann man der Meinung sein, dass Religion an sich das Problem ist. Dass alles Übel aus der Religion kommt. Ungefähr so, wie man auch der Meinung sein kann, dass Vegetarismus an sich das Problem ist, weil der einzige europäische Staatsführer im 20. Jahrhundert, der Vegetarier war, Deutschland in singuläre Verbrechen geführt hat. Merkt ihr, ne?

Als Faustregel setze ich ja bei so was an, dass diejenigen, die sich im Streit von einer Gruppe, zu der sie gehörten, getrennt haben, nicht die idealen Zeugen sind, wenn ich ein sachlich-kritisches Bild von dieser Gruppe haben will. Sei es eine Religion, eine Partei, eine Familie.


31.8.15

Lev19,33f

Gestern wurde in der Evangelischen Kirche der so genannte "Diakoniesonntag" gefeiert. Alle Texte und Themen des Gottesdienstes waren an diakonischen Aufgaben und dem diakonischen Auftrag orientiert. Beispielsweise war die Evangeliumslesung das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Bei uns in Meiendorf-Oldenfelde hat Pastor Gastmeier, den ich schon lange kenne, denn ich war damals im Kirchenvorstand, als er nach Meiendorf kam, die Predigt genutzt, um sehr klare Worte in unsere Situation hinein zu sprechen.

Er hat mir erlaubt, seine Predigt zu veröffentlichen, was ich gerne tue. Ich finde, dass sie es verdient hat, von vielen gelesen zu werden. Und ich hoffe (und gehe davon aus), dass in vielen, vielen Gottesdiensten gestern die Willkommenskultur und die Hilfe für die Vertriebenen ein großes Thema für klare Worte war. Über Hinweise auf anderen gute Texte und Predigten freue ich mich darum. Sagt es weiter, teilt diesen Text, werdet bei euch vor Ort aktiv - fast überall werden die Kirchen euch dabei unterstützen, fast überall sind sie wichtige Anlaufstellen für die, die helfen wollen und nicht wissen, wie.

26.3.15

Die Medienrevolution und die Kirche

Als Ende letzten Jahres in meiner Kirche neue Beauftragte für das Internet eingeführt wurden, durfte ich ein paar Gedanken mit auf den Weg geben. Das habe ich gemacht. Es war eine kurze Ansprache. Etwas überarbeitet, kann es aber auch ein Blogpost sein...
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HansLufftWer sich heute beruflich für ein Unternehmen, eine Institution oder einen Verein mit "dem Internet" und der digitalen Transformation beschäftigt, ist aus meiner Sicht so etwas wie eine Pfadfinderin in eine Gegenwart, die wir in einigen Jahrzehnten als eine ähnlich revolutionäre Zeit betrachten werden wie die Reformation. Dann, in diesen paar Jahrzehnten, werden die meisten unsere Namen nicht mehr kennen, so wie Hans Lufft heute nur noch einigen wenigen Expertinnen geläufig ist. Aber wenn wir  unsere Arbeit gut machen und unsere Unternehmen und Institutionen uns unsere Arbeit gut machen lassen, wird diese Arbeit uns überdauern, so wie wir heute noch davon profitieren, dass Hans Lufft 1534 die erste Bibel Luthers druckte und viele seiner Schriften.

Wir befinden uns ja zurzeit an der Kreuzung zweier Wege.
Zum einen mitten in der erst dritten richtigen Medienrevolution der Menschheit. Und zum anderen am Ende des kurzzeitigen Irrwegs der Massenmedien. Und wir Internetpeople haben die undankbare und großartige Aufgabe, unsere Leute über diese Kreuzung zu führen, damit sie sich in dieser unübersichtlichen Zeit nicht verlaufen oder gar, wie es manchmal ja noch aussieht, aus Versehen oder Ignoranz einfach zurück gehen oder stehen bleiben und weinen.

Die eine Straße, auf der wir an der Kreuzung stehen, ist die der Medienrevolutionen.
Die umfassende Digitalisierung aller medialen Äußerungen der Menschen setzt eine Entwicklung fort, die die gesamte Geschichte durchzieht und die sich an den beiden anderen Medienrevolutionen exemplarisch zeigen lässt - die Entgrenzung von Gedanken, Erlebnissen, Worten, Bildern, Tönen. Die Überwindung von Zeit und Raum, der die gesamte Medienentwicklung der Menschheit gewidmet ist.

  • Mit der Erfindung (und vor allem: Verbreitung) der Schrift überdauerten Gedanken und Erfahrungen erstmals halbwegs zuverlässig die Menschen, die ihre Urheberinnen waren. 
  • Mit der Erfindung der beweglichen Lettern für den Druck erreichte das Kopieren und die Verbreitung von Geschriebenem eine neue Dimension, gigantische Skalierungseffekte waren die Folge.
  • Mit der Digitalisierung überwinden wir nun den Mangel an Zeit, Raum und Transportmitteln. 

Bundesarchiv Bild 183-1988-0512-007, Dresden, Bibeldruck von Hans Lufft


Unendlicher Platz, unendliche parallele Sendezeit, weltweite (und theoretisch auch darüber hinaus) gleichzeitige Verfügbarkeit – was mit der Schrift begann, findet seinen aktuellen Höhepunkt. Der Menschheitstraum wird wahr. Raum und Zeit sind keine Begrenzungen mehr für unsere medialen Äußerungen.

Die andere Straße, die die dritte Medienrevolution gerade kreuzt, ist die auf der das Ende der Massenmedien passiert.
Zurzeit geht eine nur rund 170 Jahre lange Sonderphase in der Geschichte der Medien zu Ende. Wir sollten nicht vergessen, dass die Medienwelt, die für die älteren von uns die Normalität darstellte, eigentlich nur ein Unfall und Zufall der Geschichte war.

Erst 1843 mit der Gründung der New York Sun hat es das erste auf Massenverbreitung setzende Medium gegeben. Rundfunk – erst Radio, dann Fernsehen – ist ein Kind dieser Epoche. Alle Medien vorher waren faktisch soziale Medien, die entlang von sozialen Beziehungen von Menschen verteilt und weitergeleitet wurden. Und alle Medien danach werden es wieder sein.

Jetzt, wo die Frage, was wie veröffentlicht und verteilt wird, nicht mehr von Mangel geprägt ist – sei es der Mangel an Papier, an Verkaufsstellen, an Anzeigen oder an Sendezeit nach der künstlichen Verknappung der Frequenzen durch die Regierungen, denen der freie Rundfunk suspekt war, jetzt wo dieser Mangel endet, enden auch die Medienmodelle, die auf diesem Mangel beruhten. Wir finden gerade wieder zurück in die mediale Normalität nach dieser Ausnahmesituation, in die Normalität, die 2000 Jahre herrschte, bevor gerade einmal 170 Jahre lang die Mangelmedien die Szenerie bestimmten. Doof für die von uns, die ihr Unternehmen auf diese Sondersituation gebaut haben, aber nicht zu ändern.

Diese beiden Wege treffen sich heute an der Kreuzung, die Zurück in die Zukunft führt.
Eine spannende Gegenwart, in der wir leben und arbeiten, finde ich. Mitten in der dritten Medienrevolution, die mitzugestalten wir die Chance haben, wenn wir sie annehmen. Und am Anfang der Rückkehr zur medialen Normalität der Menschheit.

Für mich ist dabei übrigens Ansporn und Anspruch, wie meine Kirche und ihre Vorläuferinnen mit solchen Situationen umgegangen sind. Denn sie haben jede Medienrevolution genutzt und umarmt. Immerhin ist die hebräische Bibel die Grundlage einer der ersten Schriftreligionen überhaupt. Immerhin wäre die Reformation ohne den neuen Druck weder denkbar noch möglich gewesen.

Und immer wurden die neuesten Methoden zur Medienverbreitung genutzt, sobald sie in Mode kamen. Immerhin haben Paulus und die anderen Anführer der jungen Gemeinden das damals gerade neue und aktuelle Briefsystem der römischen Elite raffiniert und mit großem Erfolg verwendet. Und unsere Kirchen haben sich immer dafür eingesetzt, die neuen und neuesten Medien dann auch aktiv und für alle zu nutzen:

  • Die ersten Gemeinden haben Menschen ermutigt, lesen und schreiben zu lernen. 
  • Die Bibel für alle (durch die Übersetzung und den Buchdruck) führte zu einer beispiellosen Alphabetisierungskampagne in der Neuzeit. 
  • Die Missionskirchen nutzten die internationale Post und Telegrafie, um ein Netzwerk, ein soziales Netzwerk übrigens, zu bauen. 
  • Bis heute sind die Kirchen fast (oder sogar ganz?) die einzigen, die das Drittsenderecht im Privatfunk nutzen. 

Es gibt keine Tradition der Zurückhaltung gegenüber Medien in meiner Kirche. Und die Bedenkenträgerinnen hat sie immer schnell zum Verstummen gebracht. Die aktuelle Bildungsoffensive ist eine, die positiv mit der Digitalisierung umgeht. Oder, wie die Synode der EKD neulich sagte:
Ein besseres Verständnis von Digitalisierung, Daten und Netzwerken liefert Grundlagen für Freiheit und Teilhabe. Die evangelische Kirche hat die Aufgabe, digitale Bildungsprozesse aus christlicher Perspektive neu zu denken. Evangelische Kirche tritt grundsätzlich dafür ein, dass Teilhabe für alle möglich wird, unabhängig von Alter, Herkunft, Wohnort und Einkommen.
Für diesen Weg und diesen Optimismus haben wir mit unseren Altvorderen tolle Vorbilder:
Anders als Plato, der zwar eifrig schrieb, aber doch sehr große Sorgen hatte, dass Schreiben zum Verlust des Gedächtnisses führe (und dass auch weniger schlaue Leute als er ihre unwichtigen Gedanken aufschreiben könnten), haben die Vorläufer unserer Kirchen das Schreiben geliebt.

Anders als Erasmus, der die Drucktechnik eifrig nutzte, aber doch sehr große Sorgen hatte, dass dümmere Menschen als er dumme Dinge schreiben könnten, die dann gedruckt würden, dass es gar Romane oder ähnliches geben könnte, die Menschen dumm machen, haben unsere Kirchen dem Druck ihre Existenz zu verdanken und Luther nicht nur Dinge drucken lassen, die heute die theologische Kammer passieren würden.

Anders als die Mediziner, die in der Eisenbahn eine Gefahr für das Gehirn sahen, sind unsere Missionare mit ihr bis ans Ende der Welt gefahren, um die frohe Botschaft weiterzutragen, selbst, wenn sie noch nicht sicher wussten, ob die Mediziner nicht Recht haben könnten.

Anders als Manfred Spitzer oder Jaron Lanier, die das Internet eifrig nutzen, aber doch sehr große Sorgen haben, dass auch Menschen es nutzen, die anders leben und andere Erfahrungen haben als sie und sogar in der Lage sind, ihre falschen Fakten zu dekonstruieren, sammeln unsere Kirchen Menschen und sehen die Chancen dieser spannenden Zeit.

Hans Lufft hat damals nicht gefragt, was die Obrigkeit zum Druck sagt, was die Landesdatenschützerinnen oder die Stilpolizei anzumerken haben. Er hat eine neue Infrastruktur, eine neue Medientechnik, hat Skalierungseffekte zu nutzen gewusst, um die frohe Botschaft unter die Leute zu bringen. Er war der Diener der Reformation. Und als Kollateralnutzen wurde er auch noch reich, aber das ist eine andere Geschichte.

19.12.14

Am Weihnachtsgottesdienst hängt die Zukunft unserer Kirche

Es sind die großen Geschichten, die faszinieren, die wir immer wieder hören können, die uns bewegen – zu Tränen, zum Lachen, zu tief empfundenem Glück. Und es sind die großen Ideen, die uns sofort ansprechen, die uns dazu bringen, innezuhalten, aufzubrechen, zu kommen.

Weihnachten hat alles, was eine große Geschichte braucht – Gut gegen Böse, Überraschung, einen Helden, dem niemand das Heldsein zutraut, die Rettung der Welt oder der Menschheit. Alles süßliche, wunderbare, überfrachtete Brauchtum könnte den Erfolg von Weihnachten nicht erklären, wenn es keine große Geschichte wäre.

Wenn wir als Werberinnen und Kommunikationsfachleute etwas bewegen wollen, sind wir immer auf der Suche nach so etwas wie Weihnachten. Einer großen Geschichte, hinter der eine große Idee steht, aus der die gesamte Kampagne fließt und sich entwickelt.

Wir brauchen große Ideen, um zu bewegen. Und eine große Idee ist eigentlich ganz einfach an drei Punkten zu erkennen (und das wiederum hilft, zu verstehen, wieso Weihnachten so irre erfolgreich ist):

Herrnhuter Weihnachtssterne
(1) Sie muss nicht erklärt werden, sondern leuchtet sofort ein. (2) Aus ihr folgt sofort und quasi wie von selbst, was ich daraus machen kann, wie ich sie umsetze in eine Kampagne. Und sie beruht (3) auf einem Insight, wie wir in verschwurbeltem Agentursprech dazu sagen – was meint, dass sie eine tiefe, emotionale, menschliche Wahrheit anspricht, die sich so anfühlt, als würde ich sie schon immer kennen, selbst, wenn ich sie das erste Mal höre oder erlebe.

All dies trifft auf Weihnachten zu. Auf die Idee und die Geschichte. Und dass dann auch noch die Idee von Weihnachten auf eines der größten und etabliertesten Feste gelegt wurde, die es schon gab, war ein genialer Schachzug, der nur den besten Werbern einfällt. Denn es ist die hohe Kunst der Kommunikation, mit der eigenen Geschichte und Idee nicht etwa eine Welle anzustoßen sondern eine bereits große Welle zu surfen.

Mit der Idee, dass die Welt und vor allem wir Menschen gerettet seien, ausgerechnet an den Tagen um die Ecke zu kommen, an denen wir aufzuatmen beginnen, weil die deprimierenden dunklen Tage langsam wieder heller und länger werden, ist genial. Denn das haben wir aus der Forschung gelernt, wie Werbung wirksam sein kann: Auch die beste und größte Idee und Geschichte muss auf fruchtbaren Boden fallen, um Resonanz auszulösen. Sonst wäre das alles ja viel besser planbar als es ist, sonst wären die großen sogenannten viralen Wellen nicht so sehr von Zufällen abhängig. Und die Wintersonnenwende ist genau das Umfeld, in dem die Hoffnung und der Traum von Weihnachten sofort einleuchtet.

Gegen allen Kitsch, gegen alles moderne Schimpfen auf den falschen Schein von Friede-Freude-Eierkuchen, gegen jede der Statistiken, die über Weihnachten besonders viel Streit in den Familien behaupten, gegen all dies steht die Idee und die Geschichte von dem kleinen, verletzlichen Kind im Stall, das unvorstellbar groß ist und eine so radikale Veränderung bedeutet. Und trifft auf eine tiefe Sehnsucht und eine tiefe emotionale Wahrheit. Die Wahrheit davon, dass es anders sein kann als im hektischen Alltag. Und dass es möglich ist, in dieser Welt bereits anders zu leben. Die Sehnsucht nach Frieden und Veränderung und – ja, auch – Erlösung.

Deutsche und britische Soldaten am 26.12.1914
Jedes irgendwie gelingende Weihnachtsfest ist ja tatsächlich ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes. So klein es uns scheinen mag. Und so wenig substanziell es daher kommt. Wie oft hat es wirklich den Weihnachtsfrieden gegeben? Wir mögen ihn vergessen im Stress des Geschenkejagens und Essenkochens. Aber gerade in diesem Jahr, in dem sich der Beginn der großen europäischen Katastrophe des ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal gejährt hat, lohnt es sich, auf die Geschichten vom Weihnachtsfest über den Gräben der Front in Frankreich zu hören, um zu erahnen, was Weihnachten sein kann.

Tief in uns schlummern diese Geschichten und Erinnerungen. Sonnenlauf, Kindheitserinnerungen, kollektive Erlebnisse – all das bildet den Resonanzraum für die erfolgreichste Mobilisierungskampagne des Jahres, die unsere Kirchen zu bieten haben: Weihnachten wird in der Krippe entschieden.

So kommen Menschen über unsere Kirchentüren. Getrieben von einer Mischung aus Erwartung, Tradition und tiefen Sehnsüchten. Sie haben sich vorbereitet, wie man sich auf ein Fest vorbereitet – geschmückt mit ihrer besten Kleidung, die Wohnung geputzt, das Essen geplant, die Familie zusammen getrommelt. Voll freudiger Erwartung.

Mein Kommunikatorenherz schlägt schneller, wenn ich an diese Chance denke. Menschen, die bereit sind, zuzuhören, aufzunehmen, zu fühlen. Die wissen und erwarten, dass etwas passiert, das nicht wirklich und voll in diese Welt und Gegenwart passt. Offen für die Magie der großen Geschichte. Für das Heilige. Bereit für die Begegnung.

Aus Sicht eines Christen, der in Werbung und Kommunikation arbeitet und Ideen und Kampagnen entwickelt, ist Weihnachten ein Geschenk. Im Grunde so etwas wie der Elfmeterpfiff – es legt uns den Ball auf den Punkt, wir, die Kirche, die Gemeinde, die Pastorinnen, müssen ihn nur noch reinmachen. Die beste Werbung sind gute Produkte, das wissen wir. Was wir mit Kampagnen und Ideen machen, ist, Menschen dazu zu bringen, sie auszuprobieren. Wir stellen die Menschen sozusagen an die Rampe. Danach muss das Produkt überzeugen, mehr kann eine gute Geschichte, eine große Idee nicht leisten.

Weihnachten bringt so viele Menschen wie nie über die Schwelle der Kirchentür. Danach muss Kirche, muss das Bodenpersonal überzeugen und begeistern. Nur dann hat die große Geschichte einen Sinn. In der großen Kampagne, die wir Mission nennen könnten, ist Weihnachten der wichtigste Baustein, dicht gefolgt von Hochzeiten und Taufen. Sie sind die großen Leuchtturmprojekte der Kampagne. Und sind doch nur so viel Wert, wie das, was wir mit unserem „Produkt“ daraus machen.

Gelingt es uns, die Menschen, die so offen zu uns kommen, anzurühren? Mit dem etwas widerständigen, aus der Zeit gefallenen, irgendwie etwas von der Ewigkeit erzählenden Erleben und Hören und Singen im Gottesdienst? Es ist alles bereitet. Und doch erkennen so viele dieser Menschen nicht, sehen nicht, schmecken nicht, fühlen nicht, wie freundlich und anders und quer zum Alltag Gott ist.

Mein Kommunikatorenherz blutet, wenn ich in den Gottesdiensten, zu denen die Menschen durch die großen, ewigen Geschichten von Liebe, Freude, Hoffnung und Frieden kommen, geistliche Armut erlebe oder eine Nachlässigkeit aus Arroganz oder Langeweile. Oder wenn eine Predigt vergessen wird. Oder ich ohne geistliche Nahrung nach Hause geschickt werde. Oder es nur modern, schick oder feierlich war.

erste Seite des Weihnachtsoratoriums
Ich habe den Traum, dass ich nach der Christvesper aufstehe, nach oben sehe, tief Atem hole und sicher bin, etwas Besonderes erlebt zu haben. Etwas, das mir in den nächsten Wochen etwas bedeutet und mir etwas mitgegeben hat auf meinem Weg, auf den mich der Segen geschickt hat. Das mich trägt und in mir den Funken und die Sehnsucht nach mehr und mehr richtigem Leben entzündet. Und mich früher als Ostern oder das nächste Weihnachten wieder hier hin zieht.

Oft fühlt es sich an, als wäre der Weihnachtsgottesdienst für die, die mich doch eingeladen haben, eine lästige Pflicht. Oft machen Ablauf und Predigt, wenn es denn überhaupt eine gibt, den Eindruck, als wäre dieser Gottesdienst nicht wirklich mit Herzblut vorbereitet. Dabei müsste es doch derjenige sein, der die meiste, frischeste, aufmerksamste Arbeit des gesamten Jahres bedeutet. Denn die große Geschichte, die Kampagne von der Rettung der Welt durch dieses kleine Kind, hat so viele offene Menschen wie sonst nie zu uns gebracht. Hier brauchen wir unsere besten Predigerinnen und Sänger, die begnadetsten Menschenfischer. Denn hier, einmal im Jahr, entscheidet sich, ob wir als Kirche eine Zukunft haben, ob uns die Menschen zutrauen, ihnen das zu geben, was sie suchen und brauchen und was Gott ihnen versprochen hat: Save Our Souls.

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Eine gekürzte Version dieses Textes erscheint in der aktuellen Ausgabe der Evangelische Zeitung, der Kirchenzeitung für Norddeutschland. Ich bin gespannt auf die Reaktionen. Die Christvesper werden wir wahrscheinlich in Volksdorf mitfeiern.

13.11.14

Der Mensch, die Welt, der digitale Wandel

Meine Kirche hat nun also etwas gesagt zur Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Eigentlich sogar noch zu anderen Dingen, vor allem dazu, was aus evangelischer Sicht Teil einer gelingenden digitalen Gesellschaft sein müsste.

Mir waren ein paar Dinge wichtig, weshalb ich aktiv mitgearbeitet habe und dafür gekämpft, Menschen und ihre Haltung zum Thema zu "drehen", teilweise auch in vielen vielen vielen einzelnen Gesprächen:

  • Dass meine Kirche mit einer Haltung der Zuversicht und Freude mit dem digitalen Wandel der Gesellschaft umgeht. Und dass sie auf die Chancen blickt.
  • Dass die Synode, das Bundesparlament sozusagen, ein Zeichen der Ermutigung und der Unterstützung an die sendet, die bereits in der digitalen Gesellschaft angekommen sind. Denn bisher werden einige von ihnen in unserer Kirche noch etwas schräg und misstrauisch beäugt.
  • Dass meine Kirche sich nicht auf die Seite der Diskussion schlägt, auf der der Untergang der Kultur vermutet wird. Und nicht auf die Seite der Verwertungsmafia.

Ich selbst durfte ja an der Vorbereitung des Themas mitwirken, insofern bin ich vielleicht etwas parteiisch. Aber ich freue mich, dass diese Ziele weitgehend erreicht sind - auch wenn die Jugenddelegierten der Synode, die das Thema auf die Tagesordnung gebracht haben, zwischendurch etwas frustriert waren (siehe da hinter dem Link auch meinen Kommentar unter dem Text) und mehr wollten und mit einigen konkreten Anträgen durchgefallen sind.

Die drei Punkte, die mir am wichtigsten sind bei der Bewertung dessen, was die Synode da beschlossen hat, habe ich noch am Abend in aller Kürze zu sagen versucht.
Hier ein bisschen Kontext und Fleisch dazu.


Diese Frage ist theologisch nicht trivial und für Kirche und Kirchenverständnis hoch relevant, wenn auch wahrscheinlich nur für Theologinnen wirklich in ihrer Brisanz spannend. Aber dass die Synode explizit den Antrag des badischen Altbischofs ablehnte, das Wort Gemeinde zu streichen, wenn es um nichtkohlenstoffliche Zusammenkünfte geht, ist ein sehr großer Schritt.

Theologisch geht der Disput um die Frage, ob "zusammen sein" eine physische Anwesenheit erfordert. Ob also Gemeinschaft auch nicht-körperlich möglich ist. Das ist übrigens eine uralte Frage in den Kirchen, zu der sich die orthodoxen Kirchen schon vor dem Mittelalter anders als die "Westkirchen" positionierten, aber das nur am Rande. Wichtigstes Argument für die Position, die die Synode jetzt gefunden hat und vertritt, ist, dass zumindest die Lutheraner an die reale Anwesenheit Jesu Christi im Gottesdienst glauben. Der auch eher nicht so direkt körperlich da ist.

Hier öffnet die Synode den Weg dazu, neue Gemeindeformen zu erproben, die eher über eine personale Beziehung als über eine physikalisch-räumliche Nähe konstituiert werden. Sehr spannend, offener Ausgang. Und die Gegenposition zu dem, was Justizminister Maas auf dem Empfang der SPD am Rande der Synode sagte. Fein.


Bei aller Euphorie über die Medienrevolution und bei aller in der Geschichte unserer Kirche begründeten Begeisterung für neue Medienformen (immerhin gäbe es die evangelischen Kirchen nicht ohne die letzte große Medienrevolution - Buchdruck - , gäbe es überhaupt keine Kirchen ohne die davor - Schrift und Briefe), vergisst die Position, die die Synode bezieht, nicht, dass die christliche Vorstellung vom Menschen immer auch mit seiner Heiligkeit, mit Unverfügbarkeit, mit Geheimnissen zu tun hat.

Zwar konnte sich die Synode nicht dazu durchringen, eine klare und eindeutige (politische) Position zum Handeln der Bundesregierung und der Geheimdienste zu beziehen - aber an vielen Stellen im Text und in den Bitten an den Rat der EKD (sozusagen die Bundesregierung der Kirchen) ist die Position dennoch klar formuliert. Die Realvision der Post-Privacy-Aktivistinnen und das Konzept im Roman The Circle lehnt die Synode sehr klar und eindeutig ab.

Entlang der Frage des Menschenbildes und der Verfügbarkeit und Öffentlichkeit des Menschen, entlang der Frage, was denn der Mensch sei, wird - davon bin ich überzeugt - eine der großen gesellschaftlichen Debatten des digitalen Wandels geführt werden in den nächsten Jahren. Und hier scheint jetzt endlich eine evangelische Stimme in dieser Debatte auf. Das ist der Anfang einer wichtigen theologischen und ethischen Arbeit. Darauf freue ich mich.


Das freut mich ganz besonders. Denn dass so viele Menschen die Diskussion um den digitalen Wandel und die digitale Gesellschaft als eine um Facebook und Social Media führen, nervt mich gewaltig. Die Gefahr bestand auch auf der Synode, denn die Diskussionen und Gespräche drehten sich oft nur um die Frage der Nutzung von Social Media - und sie wählte ja auch den "Facebook-Bischof" zum Chef der EKD. Und Social Media ist ja auch das, was wir erst einmal am besten verstehen, weil es so wunderbar sichtbar ist, weil wir hier sehen, was passiert.

Ich finde es großartig, dass das größere Thema digitale Gesellschaft immer wieder im Mittelpunkt steht, nicht die Äußerungsform Social Media. Weiter so.

Wie geht es weiter?
Es sind einige konkrete Bitten an den Rat der EKD und andere Adressatinnen in der Kirche gerichtet. Aus meiner Sicht ermöglicht die Erklärung der Synode aber vor allem denen, die an der Basis in digitalen Räumen arbeiten und arbeiten wollen, sich auf die Kundgebung zu beziehen. Wenn im Pfarrkonvent Kritik oder Unverständnis laut wird, haben die Leute etwas in der Hand, das wie ein Schutzschild funktioniert.

Bildung und Ausbildung wird ein Schwerpunkt sein, auch mit Geld ausgestattet werden. Internetbeauftragte von Landeskirchen und Kirchenkreisen werden Servicestellen für Praktikerinnen sein können.

Sehr spannend wird sein, ob und wie eine theologische und ethische Weiterarbeit an dem Thema gelingen kann. Die Referate von zwei Professorinnen der praktischen Theologie auf den Synoden sind da ermutigend (Christian Grethlein und Ilona Nord/PDF). Ich persönlich würde mir ja wünschen, dass der Rat der EKD eine Kammer für digitalen Wandel einrichtet, die an dem Thema wissenschaftlich und politisch arbeitet. Mal sehen.

18.10.14

Bleibt alles anders

Stalking, Aufforderung zur Lynchjustiz, Mobbing durch Identitätsklau, illegales Kopieren von Filmen und Musik – die Digitalisierung unserer Lebenswelten hat bei weitem nicht nur positive Auswirkungen. Immer wieder begegnet mir daher bei Eltern und Menschen, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen, eine große Unsicherheit: Wie sollen wir damit umgehen? Mit all den völlig neuen Fragestellungen, die uns überrollen?

Als jemand, der aktiv die Digitalisierung seiner Lebens- und Kommunikationsumgebung vorantreibt und gestaltet, habe ich zunächst ebenfalls vermutet, dass die Veränderungen so radikal sind, dass auch neue ethische Fragen entstehen (müssen). Und war dann überrascht, dass das nicht der Fall ist.

Sowenig das Internet ein „rechtsfreier Raum“ ist, so wenig sind Prozesse, die sich durch die Digitalisierung verändert haben und verändern, „ethikfrei“. Bei den meisten Themen helfen die Fragen und sogar die Antworten, die die (evangelische) Ethik sich erarbeitet hat, weiter. Sinnfällig wird das schon daran, dass die großen Fragen rund um die Digitalisierung exakt die gleichen sind, die immer die großen Fragen der Ethik waren: die vom Verhältnis von Freiheit und Verantwortung; von Recht und Rücksicht; von Eigentum und Verpflichtung; von Egoismus und Altruismus. Um nur einige zu nennen.

Wie bei jeder Technologie, die Wissen − was auch Daten meint − und Kommunikation besser verfügbar macht, ergeben sich auf einmal für mehr Menschen Fragen, die vorher eine Minderheit oder Elite berührten. So wie die Digitalisierung „Skalierungseffekte“ in fast allen Bereichen bringt, bringt sie auch „Skalierungseffekte“ in der Ethik – also die Herausforderung, dass mehr ethische Fragestellungen in kürzerem Abstand für immer mehr Menschen aktuell und relevant werden.

Es ist auffällig, dass Platons Polemik gegen das Schreiben und Erasmus’ Polemik gegen das Drucken fast wörtlich die Vorbehalte gegen die Veröffentlichungen im Internet wiedergeben. Und zugleich beide das, was sie kritisierten, sehr fleißig und erfolgreich für sich selbst nutzten. Sie hatten einfach große Probleme mit der Vorstellung, dass weniger Gebildete als sie dies auch tun könnten. Auch ihre Anfragen an Wahrheit, Nachvollziehbarkeit, Wahrhaftigkeit, Medienkompetenz – alles ethische Fragestellungen – sind faszinierenderweise fast wörtlich die gleichen, die sich heute, bei der dritten großen Medienrevolution, stellen. Vor allem die Frage, welcher Information, welchen Daten wir trauen können, ist heute ähnlich wie damals hochaktuell.

Was neu ist, auch in den ethischen Fragestellungen, ist der Personenkreis, der für sich diese Fragen beantworten muss. Medienethik ist nicht mehr ausschließlich Thema professioneller Medienschaffender. Umgang mit Persönlichkeitsrechten betrifft jede Person, die ein Smartphone, also einen Fotoapparat mit Internetanschluss, besitzt. Ethische Fragen rund um die Vervielfältigung von Inhalten sind für alle relevant geworden. Und so geht es weiter.

Haben sich durch die Erfindung und die Etablierung des Buchdrucks neue ethische Fragen ergeben? Nur wer das mit Ja beantworten kann, wird auch gute Argumente auf seiner Seite haben für die These, dass die Digitalisierung neue ethische Fragen aufwirft. Und nicht „nur“ ein neues Nachdenken über die Antworten erfordert.

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Diesen Text habe ich zuerst für das Lesebuch zur diesjährigen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland geschrieben, das die Synodalen (Abgeordneten) auf das Schwerpunkttheme vorbereiten soll: Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Dieses Thema inhaltlich mit vorzubereiten und auch den Entwurf der Kundgebung der Synode mitzuverfassen, hatte ich ja in diesem Jahr auf Einladung der Präses der Synode die Freude. 

Übrigens merke ich, dass ich mit dieser Mitarbeit sehr viel mehr am gesellschaftlichen Diskurs bewegen kann als mit fast allen netzpolitischen Aktivitäten, die denkbar wären. Allein, dass der Begriff "geistiges Eigentum" im Kundgebungsentwurf nicht vorkommt, ist ein wunderbares Zeichen...

1.8.14

Teilhabe in der digitalen Gesellschaft

Ich bin ja vor einiger Zeit in den Vorbereitungsausschuss der Synode (Parlament) der Evangelischen Kirche in Deutschland berufen worden, weil sie sich im Herbst mit dem Thema Kommunikation* des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft beschäftigen wird. Dabei habe ich mich wieder mehr mit ethischen und kirchlich-praktischen Fragen beschäftigt, die sich aus der Digitalisierung ergeben. Ein paar Gedanken bringe ich jetzt ein - wenn es darum geht, meine Kirche in dieser Frage zu positionieren. Hier seien sie einmal etwas unsortiert und unvollständig geteilt. Der etwas pathetisch-appellative Ton ist dem geschuldet, dass es Entwurfssätze für eine Stellungnahme, ein Papier sind. Mal sehen, was von diesen Gedanken die nächsten Monate und Runden überdauert, bis die Synode im November zusammen kommt und was sagt.

* [Update 20.8.] hier stand zuerst "Verkündigung". Das ist aber falsch und auch irreführend, weil wir zwischen Kommunikation (multidirektional in Worten, Bildern, Taten) und Verkündigung unterscheiden.
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Kirche und digitale Räume

Für eine evangelische Kirche als einer Kirche des Wortes und der Kommunikation ist es notwendig, da aktiv und ansprechbar zu sein, wo Menschen zusammen kommen, um miteinander zu sprechen und zu kommunizieren. Die fortschreitende Digitalisierung von Kommunikation, Texten, Bildern und anderen Medien hat einen neuen Raum geschaffen, in dem Menschen dieses tun.

Kirche hat sich in Verkündigung und Kommunikation in ihrer Geschichte immer schon der jeweils innovativsten Mittel und Orte bedient. Bereits Jesus war mehr unterwegs als es zu seiner Zeit üblich war. Paulus und die frühen Gemeinden nutzten das bis dahin fast nur der römischen Politik vorbehaltene System der Briefe und Kopien. Ohne die revolutionäre Technologie des Druckens wäre die Reformation nicht möglich gewesen. Radio und Fernsehen wurden von missionarischen Kirchen seit ihrer Erfindung eingesetzt. Die Chancen der Digitalisierung und der digitalen Netzwerke und des Internet mit Kraft und Überzeugung zu nutzen, steht in einer guten Tradition und ist für evangelische Kirchen alternativlos.

Eine Herausforderung in jeder Medienrevolution ist es, die richtigen Räume und Sprachen zu finden, um das Evangelium weiterhin kommunizieren zu können. Insbesondere die Ent-Räumlichung von Nähe ist dabei eine Rahmenbedingung, auf die evangelische Kirche noch keine Antwort gefunden hat: Wie können unter der Bedingung der Digitalisierung virtuelle und anfassbare Räume und Orte geschaffen werden, an und in denen sich Gemeinde bilden kann und Kirche und Christinnen und Christen sich finden lassen können? Was ist der Kirchturm in digitalen Welten, die zunehmend Teil der Lebenswirklichkeit der Menschen sind?

Die Digitalisierung schreibt die Entwicklung fort, die seit Erfindung der Schrift begonnen hat: Sie macht Kommunikation unabhängiger von Raum und Zeit. Mit der Digitalisierung ändert sich vor allem die Geschwindigkeit dieser Entwicklung. Eine kirchliche Praxis, die Menschen in der digitalen Gesellschaft erreichen will, muss ihren Erwartungen an Verfügbarkeit und Geschwindigkeit entsprechen. Vor allem die Chance, sich in digitalen Räumen finden lassen zu können, kann nur ergreifen, wer in ihnen präsent ist und ihre Medienregeln beachtet.

Die Digitalisierung von Inhalten und Beziehungen hat diese durchsuchbar und auffindbar gemacht. Nur wenn Verkündigung und Kommunikation digital vorliegt oder digital übersetzt ist, wird Kirche weiterhin Teil der Gesellschaft und des Alltags der Menschen sein können. Im neu entstandenen Bereich zwischen "privat" und "öffentlich" ist eine Form der Zugänglichkeit entstanden, den die kirchliche und gemeindliche Praxis nutzen wird.

Christin und Christ in der Welt kann ja nur sein, wer in der Welt lebt. Wenn digitale Räume und Netze für immer mehr Menschen aller Generationen fester Bestandteil ihrer Welt sind, muss es kirchliche Verkündigung und christliches Zeugnis in diesen Räumen und Netzen geben. Ohne aktiv in diese Welt zu gehen, scheitert kirchliche Praxis. Unabhängig von der je eigenen Befindlichkeit und Meinung zu ihnen, ist die Ansprechbarkeit in digitalen Räumen und Netzen auf das eigene christliche Bekenntnis für alle notwendig, die sich der Kommunikation des Evangeliums widmen.

Die Digitalisierung der Gesellschaft hat die Entwicklung beschleunigt, dass es neben der Parochie andere, gewählte Gemeindeformen gibt. Das ist nicht neu, sondern schon durch die Urbanisierung und Globalisierung entstanden. Umgemeindungen waren hier ein Instrument und eine Antwort. Jetzt entsteht durch die Ent-Räumlichung von Heimat und Beziehungen das Bedürfnis nach ent-räumlichten Gemeinden. Für Menschen, die Nähe ohne räumliche Nähe suchen und finden, muss und wird evangelische Kirche Gemeinden (er)finden und Gemeinschaft schaffen müssen, die anderen Menschen fremd sind. Hier Verbindlichkeiten und Verlässlichkeit zu entwickeln, wird nur möglich sein, wenn sich diese Gemeinden in digitalen Netzen bilden können.

Wie in den vergangenen Medienrevolutionen wird es auch bei der Digitalisierung der Gesellschaft darauf ankommen, christliches Leben und kirchliche Praxis so zu interpretieren und beispielhaft zu zeigen, dass Freiheit in Gemeinschaft möglich wird.

Bildung als kirchliches Thema

Lesen und Schreiben hat Menschen ermöglicht, sich mehr Teilhabe zu erobern. Die Kirchen der Reformation haben das immer unterstützt. Medienethische Bildung und Wissen über Wirkung und Wirkweisen von Bildern und Texten helfen Menschen, Manipulation zu erkennen. Und heute hilft ein besseres Verständnis von Digitalisierung, Daten und Netzwerken, Freiheit und Teilhabe zu erlangen. Dies ist eine Aufgabe für eine Kirche der Freiheit.

Die evangelische Kirche hat die Alphabetisierung unterstützt und fördert alle Bildungsoffensiven, die zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe führen. Dazu gehört heute, dass in immer mehr Ländern beispielsweise Algorithmen und Programmiersprachen zum Curriculum der Schulen gehören. Jede Entmystifizierung von Daten und Prozessen ist ein Schritt zu freier Entfaltung. Die Gesellschaft darf nicht in "user" und "loser" zerfallen. Teilhabe in der digitalen Gesellschaft darf nicht abhängig sein von Bildung und Einkommen.

Wissen und Rationalisierung sind Voraussetzungen für Freiheit im Umgang mit Technologien und Medien. Darum setzt die evangelische Kirche digitale Bildung im Sinne von "digital literacy" auf die Agenda ihrer eigenen Bildungsangebote und fördert und unterstützt alle Initiativen, digitale Bildung im gesellschaftlichen Bildungskanon zu verankern..

Und Datenschutz? 

Teilhabe in der digitalen Gesellschaft hat unmittelbare Implikationen auf Datenschutz und Datensicherheit. Für die evangelische Kirche stehen dabei der Mensch und seine Freiheit und Autonomie im Mittelpunkt. Die Vorstellung einer naturgesetzliche Eigendynamik digitaler Prozesse widerspricht evangelischer Sicht auf die Gesellschaft. Dennoch sieht und anerkennt die evangelische Kirche, dass sich Vorstellungen von Datenschutz und Privatsphäre im Verlauf der Geschichte immer wieder geändert haben und weiter ändern. Es widerspricht evangelischem Verständnis, den Status Quo per se für besser zu halten als eine Veränderung.

Die eigenen Regeln zum Umgang mit Daten müssen dem Ziel dienen, das Evangelium in digitalen Räumen und Netzen zu kommunizieren. Datenschutz ist kein Wert an sich und kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz der Menschen vor staatlicher Überwachung. Heute muss dieser Schutz gegenüber Unternehmen und nicht-staatliche Organisationen ausgeweitet werden.

Datenschutz kann und darf aber nicht zum Rückzug aus der Welt und der digitalen Gesellschaft führen. Wo kirchliche Richtlinien eine aktive Kommunikation des Evangeliums in digitalen Räumen und Netzen verhindern oder Mitarbeitende von Kirchen in ihrer Arbeit in diesen Räumen und Netzen behindern, bedürfen sie einer Revision.

13.6.14

Die offene Tür

Dies ist die Geschichte von einem, der ein so genannter distanzierter Christ ist. Und dem sein ehemaliger Pastor eine Tür geöffnet hat. Die Geschichte von mir und Pastor Fahr aus Hamburg-Duvenstedt.

Denn schon bevor wir aus Duvenstedt wegzogen, war mein Kontakt zum Pfarrer etwas abgerissen, als wir uns so über einen Kindergarten stritten, aber das ist eine andere Geschichte. Immer wieder suchte ich einen Anfang mit meiner Kirche, aber ich fand keinen. Ich saß zwischen allen Stühlen, irgendwo zwischen Gemeinden in geistlicher Armut und in evangelikalem Verfolgungswahn. Mir lag meine Kirche, die lutherische, immer irgendwie am Herzen, aber ich distanzierte mich lebensweltlich immer mehr von ihr.

Es war nicht so, dass ich meinen Glauben verlor, gar nicht. Zu Hause blieben die Rituale, die Gebete, die Erziehung, die Konfirmation der beiden Großen. Und mir blieben beispielsweise die Losungen ein Wegbegleiter, auch die Bibel. Witzigerweise würde ich mich als fromm bezeichnen, theologisch ohnehin eher sehr als wenig lutherisch. Nur zu der Kirche und ihren Veranstaltungen fand ich kaum noch Zugänge, allen neuen Versuchen zum Trotz.

Doch dann war es genau andersrum. Dann fand die Kirche einen Zugang zu mir. Ich glaube, als erstes war es Pfarrer Pohl.
Der nicht von irgendwelchen Dingen schwafelte oder mit frommen Sprüchen um sich warf. Sondern jeden Morgen treu alle die Menschen persönlich begrüßte, die er schon in seiner Timeline auf Twitter gesehen hatte. Sozusagen per Handschlag an der Kirchentür.
Und schließlich kam mein "alter" Pastor in meine Heimat. Wie es seine Art ist, auch in der Kohlenstoffwelt seine Art ist, etwas lauter, ein bisschen mit Poltern sozusagen. Aber mit Neugier und mit geraden Worten. Mit einer Sprache, die wir hier verstehen. Nicht verschwurbelt, wie die, die meine Kirche heute die Hochverbundenen nennt (was für ein beknacktes Wort übrigens), es verstehen würden oder die Esoterikerinnen, an deren Sprach- und Erlebnisraum meine Kirche so oft anknüpft (was ironischerweise dazu führt, dass kirchlich hochverbundene Gruppen im Wortsinne auch esoterisch sind, also eingeweiht in die - in diesem Fall - sprachlichen Mysterien).

Wie niemand anders in den letzten Jahren hat Peter Fahr mir so tatsächlich wieder eine Tür geöffnet. Und mich eingeladen, zu ihm zu kommen, wenn ich möchte. Ohne mir einen Vorwurf zu machen, wenn ich es nicht tue. Höchstens mal mit einer sanft-strengen Mahnung, dass ich jederzeit willkommen sei.

Er interveniert auf Twitter oder Facebook, wenn er findet, dass ich zu streng mit Menschen bin. Er fragt nach, wenn ich in Szenejargon verfalle, vielleicht weil er sensibel für den Jargon seiner eigenen Szene ist und den vermeidet. Er widerspricht und begründet. Er mischt sich ungefragt ein, ohne übergriffig zu werden. Auch wenn ich mir am Ende seines Sabbaticals hin und wieder gewünscht hätte, dass er endlich wieder zurück in die Gemeinde geht und weniger Zeit für uns in diesem Lebensraum hier hat.

Ihr seht: Ich mag ihn. Und das macht mich vielleicht ein bisschen offener. Aber noch mehr mag ich, wie er im digitalen Teil meiner Heimat umsetzt, was eine gelingende missionarische Volkskirche heute überall versucht: da zu sein, die Tür sichtbar zu öffnen, einzuladen, aber nicht in meinen Tanzbereich einzudringen, bevor ich sie dazu auffordere. Angebote zu machen, die niedrigschwellig sind aber nicht übergriffig.

So wie er früher im Dorf sichtbar war und mich ein-, zweimal in der Woche, wenn ich ihm bei Rewe oder im Eiscafé begegnete, allein durch die Begegnung daran erinnerte, dass ich jederzeit zu ihm kommen kann, zumal er mich - wie alle, denen er je vorgestellt worden war - jedes Mal mit Namen begrüßen konnte. So ist er heute in meinem Heimatraum sichtbar und erinnert mich, wenn ich ihn aus dem Augenwinkel sehe, daran, dass ich jederzeit zu ihm kommen kann.

In einschlägigen Untersuchungen über Spiritualität oder Frömmigkeit oder Glaubensthemen in Social Media wird er wie Pfarrer Pohl und viele andere nicht auftauchen. Weil er nicht die von den Kaspern, die zurzeit solche Studien anfertigen, ausgesuchten Stichworte benutzt. Weil er nicht mit Bäffchen rumläuft sondern mit Fliege. Weil er das Gespräch sucht und nicht die Verkündigung. Weil er mit uns lebt in dieser Welt und zu uns kommt. Und nicht nur hofft, dass wir zu ihm kommen und ihn verstehen.

Und doch ist da viel Frömmigkeit und viel geistliche Nahrung für mich und für andere. Dafür bin ich dankbar. Und dafür, dass er die Möglichkeiten, die mein digitaler Lebensraum bietet, erkundet.

Und nennt es Eitelkeit, aber zugleich zeigt dies ja doch auch, dass meine Überlegungen für eine Social-Media-Strategie der evangelischen Kirchen nicht völlig doof sind.

9.4.14

Richtiges Leben

These für hier-stehe ich.de
Eines der Dauerthemen, mit denen ich in meinem Leben und meiner (sozialen) Umgebung konfrontiert bin, ist die Frage nach dem "richtigen Leben". Sei es durch die Sorge, das richtige Leben zu verpassen, sei es durch die Frage, was denn Qualitätszeit sei. In der politischen und kirchlichen Arbeit kommen dann noch die Fragen von Gemeinschaft und von Verbindlichkeit als weitere Dimensionen hinzu.

Seit langer Zeit schon spreche ich darum ganz konsequent und auch in beiläufigen Zusammenhängen von der Kohlenstoffwelt (oder von kohlenstofflichen Begegnungen), wenn ich vom dem rede, was mein Umfeld das "richtige Leben" nennt. Ich mache das so wie mit inklusiver Sprache - ich thematisiere es nicht, ich tue es einfach.

Interessanterweise führt das immer wieder zu guten Gesprächen und zu Nachdenklichkeit. Der große Vorteil des Sprechens von der Kohlenstoffwelt ist ja, dass dieses Wort auch für diejenigen unmittelbar verständlich ist, die an sich sehr weit weg sind von meiner Art zu leben und zu arbeiten.

So oder so geht es um Menschen. Ich bin davon überzeugt: Technologie ist nur dann relevant, wenn sie entweder Dinge in der Kohlenstoffwelt einfacher macht. Oder wenn sie mich mit anderen Menschen verbindet. Und genau das - und zwar witzigerweise beides zugleich - macht mein digitaler Lebensraum.

Das Projekt der Evangelischen Akademie im Rheinland Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Identitätssuche im digitalen Zeitalter finde ich spannend. Und es fordert mich heraus. Teil des Projektes ist, als Vorbereitung auf eine Tagung in der Akademie Thesen zusammenzutragen. Thesen von Menschen über Identität in dieser Welt. Und das Team bringt die dann auf Plakate und ins Blog.

Die ersten Einsendungen, die ich online sah, waren mir viel zu pessimistisch. Von der Hoffnung geprägt, dass etwas nicht verloren gehen möge durch die Digitalisierung. Das ist eine Haltung, die mir fremd ist und auch nicht meiner Erfahrung entspricht. Ich wollte etwas zur Heimat Internet schreiben. Weil mir das wichtig ist. Und dann wurde es etwas zum Thema Beziehungen. Über richtiges Leben. Und über die doppelte Bedeutung des Wortes "Netz", die mir immer wichtiger wird.

Ich bin ja eigentlich ein Distanzmensch und introvertiert. Aber je älter ich werde, desto wichtiger werden mir Menschen. Und ihr Netzwerk, das mich trägt und auffängt. Und für einen Distanzmenschen ist eine digital vermittelte Nähe wunderbar. Darum bin ich so dankbar dafür. Und gibt es mir Sicherheit und Heimat.

Richtiges Leben ist, wo Menschen sind. 
Ihr Netz gibt mir Sicherheit und fängt mich auf. 
Ob digital oder in CO2.

27.3.14

Wandel

In der letzten Zeit las und hörte ich wieder häufiger euphorisierte Beiträge, dass sich alles ändere. Wahlweise durch das Internet oder durch die Digitalisierung. Und ich gehöre zu den letzten, die kleinreden wollen oder werden, dass wir uns in einer großen Umbruchzeit befinden. Aber dennoch wünsche ich mir manchmal, dass das aufgeregte Geschnatter etwas erwachsener wäre. Und dass die Diskussion um den Wandel etwas stärker auch eine historische Perspektive hat.

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Über die historische Perspektive, in der ich die Digitalisierung sehe (und nicht etwa das Internet, das halte ich tatsächlich für nur eine, vielleicht sogar nicht einmal die wichtigste Folge der Digitalisierung), habe ich ja immer wieder gesprochen und geschrieben. Ich bin je länger desto mehr davon überzeugt, dass eine genaue Betrachtung des Wandels, den der Druck mit beweglichen Lettern nach sich zog, helfen kann, zu verstehen, was gerade passiert. In aller Ambivalenz.


Denn die Frage, ob die Digitalisierung ein größerer Bruch sei als die beweglichen Letter, finde ich müßig. Das werden wir ohnehin erst in ein- bis zweihundert Jahren wissen. Können wir uns einigen, dass es ein vergleichbar großer (Kultur) Bruch ist?



Am letzten Wochenende war ich zur ersten Sitzung des Vorbereitungsausschusses der EKD-Synode eingeladen, in dem ich mitwirken darf. Und war fasziniert, einmal ernsthaft und mit Erwachsenen erwachsen (edit) über Themen zu sprechen, an denen ich arbeite (Schwerpunkt der Synodaltagung wird ja "Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft"). Auf einem Reflexionsniveau, das beachtlich war. Und - trotz all der unterschiedlichen Vorkenntnisse und Meinungen zum Thema "digitale Gesellschaft" - aus einer gemeinsamen Haltung heraus, auf die sich alle am Tisch einigen konnten: der des mehr freudigen als ängstlichen Akzeptierens der Veränderungen samt einem Blick auf die Chancen.

Leben kam in die Bude, als ich meiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass durch den digitalen Wandel recht eigentlich keine neuen ethischen Fragestellungen entstanden seien. Dass zwar vieles heute schneller und weiter gehe, aber gegenüber dem Buch- und Flugblattdruck eigentlich keine real neuen Fragen entstanden seien.  Aber dazu werde ich im Laufe des Jahres noch einmal ausführlicher schreiben und arbeiten.



Ohnehin ist der eigentliche Wandel, der unsere (digitale) Gesellschaft bestimmt, ja doch ein anderer. Und ein sehr kohlenstofflicher. Und hier mache ich mir sehr viel mehr Sorgen um unser Land als bei der Behauptung, es würde den digitalen Wandel verschlafen (was ja ohnehin nicht stimmt, aber das ist noch einmal eine andere Geschichte).