Sommer 2015. Auf einmal kam uns Onlinerinnen eine Aufgabe zu, mit der wir nicht gerechnet haben. Weil wir schon morgens auf dem Klo mehr kommunizieren als die meisten unserer Nachbarinnen über den ganzen Tag, waren wir im Vorteil. Wussten früher, was passiert, hatten früher die Informationen zusammen, haben früher erfahren, wie es andere vor uns gemacht haben, bei denen schon ein, zwei, viele Wochen vorher Vertriebene angekommen und in Hallen und Zelten untergebracht worden waren. Und auf einmal haben einige von uns Aufgaben übernommen, von denen sie vorher noch nie gehört haben. Waren Führungskräfte in der Zivilgesellschaft geworden und Leitungen im Ehrenamt. Viele von uns zum ersten Mal in ihrem Leben. Onlinerinnen kommt eine Schlüsselrolle im Bau der neuen Zivilgesellschaft zu, die wir annehmen müssen und ausfüllen können.
Rund um dieses Thema und entlang dieser Überlegungen werden übrigens Silke Plagge, Sven Dietrich und ich einen Lightning Talk
bei der re:publica halten.
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I. Das Beispiel „Meiendorf Hilft“
Bei uns in Meiendorf haben drei der vier halbwegs reichweitenstarken Bloggerinnen und Online-Aktivistinnen im dörflichen Stadtteil, am Rande Hamburgs, mitgemacht. Alle um die vierzig, alle mit Familie, alle mit Beruf. Wir kennen uns online, sind uns hin und wieder über den Weg gelaufen, leben in verschiedenen Kreisen. Es ging damals schnell und mehr oder weniger passiert alles per Zufall. Eine von uns entdeckt durch Zufall die Meldung genau in der Minute, in der die Stadt bekannt gibt, dass eine sehr große Unterbringung für Vertriebene zu uns kommt – und twittert die anderen (offen) an. Innerhalb von etwas mehr als einer Stunde wissen wir alles, was es öffentlich dazu zu wissen gibt. Ich selbst bin im Dorf aufgewachsen und kenne hier schon immer die Leute aus Stadtteilkonferenz, Kirche und Sportverein. Die quasi-Bürgermeisterin und Lokalpolitikerin ist die frühere Leichtathletik-Trainerin meiner Jungs. Der dritte kennt welche, die drei Dörfer weiter in Hamburg seit drei Wochen eine Zeltstadt begleiten. Also gehen wir offline – und rufen all diese Leute an.
Nach einem Tag sind die Vereine, die Kirchen, die Parteien an Bord. Reden in E-Mail-Verteilern, telefonieren. Für uns drei ist es ein Wochenende mit so vielen Telefonaten wie nicht mehr, seit wir aus der Pubertät raus waren und online gingen.
Und dann passierte etwas, das uns verändert hat: Wir haben es in die Hand genommen. Einen
Twitter-Account angelegt. Eine
Facebook-Gruppe gegründet (die heute rund 1000 Mitglieder hat). Unsere Freunde bei Jimdo angeschrieben und eine
Website gebaut. Einfach losgelegt, ohne dass uns jemand beauftragt hätte. Heute sind wir drei in der Koordinierungsgruppe von „Meiendorf Hilft“. Nicht, weil wir von irgendwelchen Vereinen delegiert worden wären – sondern weil wir es können. Weil wir da waren. Weil wir Antworten hatten, als andere noch Fragen stellten. Weil unsere Nachbarinnen uns vertrauen, weil wir sofort loslegten.
Auf der Infoveranstaltung der Stadt haben wir schon sagen können, dass es Twitter und Facebook gibt. Als die Offlinerinnen, die helfen wollten, noch einen Zettel auslegten, in den sich die anderen eintragen sollten, haben wir ein Google-Doc gebaut und ein Google-Form auf der Website gehabt, die online war, bevor die anderen überhaupt daran dachten, dass so was sinnvoll sein könnte.
Als wir 200 Menschen zusammen hatten, die in den Listen und Datenbanken waren, weil sie helfen wollten, und sich die Koordinierungsgruppe tatsächlich erst das erste Mal traf und eine Vollversammlung her musste, war uns klar, wie die laufen wird. Uns. Nicht den erfahrenen Ehrenamtlichen. Denn wir kannten Barcamps. Und haben einfach einen Open Space mit 300 Nachbarinnen veranstaltet. Wovor wir mehr Angst hatten als vor jedem anderen Vortrag und jeder anderen Session vorher. Vor der Moderation war ich aufgeregter als vor jedem Vortrag vor 500 Menschen, den ich bisher gehalten habe. Denn dies war nicht unser Gebiet. Wir kannten Online-Freaks und Kommunikationsprofis. Aber keine pensionierten Lehrerinnen und Mütter von Grundschulkindern, die aktiv werden wollten.
Bis heute sind wir – nicht weil wir dazu gewählt worden wären, sondern weil wir da waren und dachten, dass wir wissen, was wir tun – einige der Gesichter von „Meiendorf Hilft“. Hat unser Wort online und offline Gewicht. Führen und organisieren wir 300 Menschen in unserem Stadtteil.
II. Warum wir Onlinerinnen?
Weil wir es können. So merkwürdig das klingt und so halbironisch wir es online sonst immer sagen: weil wir es können, müssen wir es tun. Die meisten von uns sind nicht die, die tagsüber vor Ort anpacken, die Kinderspielstunden für die Vertriebenen veranstalten, die sie zu Ämtern begleiten. Das machen vor allem diejenigen Nachbarinnen, die tagsüber am Stadtrand sind, die in der Kinderphase weniger für Geld arbeiten, die schon im Ruhestand sind, deren Arbeit eher zu Hause stattfindet.
Aber wir können kommunizieren und wissen, wie wir schnell etwas formulieren müssen, damit Menschen es verstehen und angesprochen sind. Selbst die Nerds unter uns sind (vor allem online) sicherer mit Worten als die Lokalpolitikerin und die Lehrerin. Auch wir wenden Zeit auf, was nur geht, weil es unserer Arbeitgeberinnen und Auftraggeberinnen mittragen. Aber wir machen es eben auch unterwegs, in der U-Bahn, auf dem Klo.
III. Grundsätzliche Überlegungen zur neuen Zivilgesellschaft
Wir haben etwas gelernt über Aktivierung und Zivilgesellschaft, über Ehrenamt und ganz normale Leute, das über unseren konkreten Fall hinaus reicht. Wenn wir mit anderen Hilfs-Gruppen sprechen, merken wir, dass es überall da, wo es ähnlich läuft wie bei uns, funktioniert. Und woanders eher nicht.
Wir erleben, dass Menschen aktiv werden, die vorher noch nie ehrenamtlich irgendwo engagiert waren, und mit anderen, die das schon anderswo gemacht haben (oder früher mal gemacht haben), zusammen arbeiten. Das ist auch bei uns so. Ich beispielsweise war mein ganzes Leben rund um Kirchen, Schulen und Parteien ehrenamtlich aktiv, andere von uns eher noch nicht. Und eine, die freiberuflich und in der Familienphase ist, ist das Bindeglied zu denen, die tagsüber im Lager sind, weil sie dort selbst mit anpackt. Wir sind im Grunde ein ganz guter Querschnitt der Helferinnen (mal abgesehen davon, dass wir dazu ein bisschen zu männlich und ein bisschen zu online sind).
Ohne die (neue) Zivilgesellschaft wäre die Flüchtlingsarbeit, die Arbeit für Vertriebene nicht möglich. Und ohne die „Berufsehrenamtlichen“ aus Kirche und Vereinen und ohne die Lokalpolitikerinnen ebenso wenig. Zivilgesellschaft gegen Politik auszuspielen, wie es hin und wieder passiert in der Diskussion, ist falsch.
Ohne die Kontakte und vor allem die Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der Verwaltung, wie sie die (ehrenamtlichen) Lokalpolitikerinnen mitbringen, wäre „Meiendorf Hilft“ innerhalb von Tagen in sich zusammengefallen. Ohne die Fähigkeit, schnell große Mengen von Menschen online und offline ins Gespräch zu bringen, wie es die Onlinerinnen mitbringen, wäre „Meiendorf Hilft“ wochenlang nicht aus dem Quark gekommen. Ohne die erfrischende und zupackende Naivität des Etwas-Tun-Wollens der vielen Freiwilligen, die erstmals aktiv wurden, wäre all das, was wir uns ausgedacht haben, versandet.
Wir erleben, dass die „alte“ Gesellschaft aus Politik, Kirche und Vereinen etwas lernt, was wir ihr beibringen: Den Kontrollverlust nicht nur zu ertragen sondern lustvoll damit zu arbeiten und zu leben, abzugeben. Und eine Geschwindigkeit in Kommunikation und Aktion, die im Herbst 2015 einfach notwendig war und die sie nicht kannte. Wir aber ja.
Und wir erleben, dass die „neue“ Gesellschaft aus Online-Aktivistinnen und neuen Freiwilligen etwas lernt, was die „alte“ ihr beibringt: Die Geduld und Beharrlichkeit in der Zusammenarbeit mit der Stadt, der Verwaltung, den Trägern der Einrichtung. Und nicht aufzugeben, wenn etwas nicht in der Geschwindigkeit geht, die im Herbst 2015 eigentlich notwendig gewesen wäre, damit es noch besser geklappt hätte.
Nur weil drei Gruppen – erfahrende Ehrenamtliche, Onlinerinnen, neue Aktive – zusammen gekommen sind und ohne nachzudenken auch zusammen gearbeitet haben, klappt das mit der Hilfe für die Vertriebenen noch. Ohne diese ungewöhnlich Kombination hätte Merkel nicht Recht, dass wir das schaffen. Ohne diese Bandbreite würden heute nicht jugendliche Punker von der Stadtteilschule und eine CDU-Lokalpolitikerin gemeinsam für die Vertriebenen da sein. Und ja, es ist auch so: Ohne uns Onlinerinnen wäre „Meiendorf Hilft“ nicht die einzige Hilfegruppe in Hamburg, in der eine CDU-Funktionärin in vorderster Reihe mitarbeitet.
Es entsteht eine neue Zivilgesellschaft und wir verändern diese Gesellschaft und unsere Stadt gerade. An der Basis, am Stadtrand.
IV. Bonustrack: Die Rolle von Facebook. Wer hätte das gedacht
In der Debatte um die Veränderung dieser Gesellschaft wird immer auf den Hass hingewiesen, der aus Facebook quillt. Und viele von uns Onlinerinnen kehren Facebook aus den unterschiedlichsten Gründen den Rücken.
Aber für den Bau der Zivilgesellschaft bei uns am Stadtrand und überall spielt Facebook eine Rolle, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Die Kraft der Aktivierung ist phänomenal. Die Gruppenfunktion – überhaupt neben dem Messenger das beste, was Facebook zu bieten hat – ermöglicht uns, schnell und egal, wo wir sind, hunderte Menschen innerhalb einer Stunde zu aktivieren und zu erreichen. Der Messenger hilft uns, die vielen Fragen, die unsere Nachbarinnen haben, halbwegs effizient zu beantworten. Denn ja, wir Onlinerinnen, die wir hier Verantwortung übernommen haben, bekommen allein im Rahmen dieses Engagements zwischen 100 und 300 Nachrichten (Mail, Chat, etc) am Tag. Was „normale“ Ehrenamtlichen gar nicht bewältigen könnten.
Facebook ist nicht nur der Katalysator für Pediga und Hass. Facebook ist ebenso der Katalysator für die neue Zivilgesellschaft, für das neue Dorf, das wir bei uns zu Hause bauen, für das gute Deutschland, das aus der Arbeit mit und für Vertriebene entsteht. Und was uns vor Ort gelingt, ist dies: aus dem Klick und „Gefällt mir“ Aktion in der Kohlenstoffwelt zu machen. Wir sind eher online, aber die von uns Organisierten und Aktivierten werden ganz handfest in der Kohlenstoffwelt aktiv.
V. Fazit und Ausblick
Dass wir für unsere Moderation, für unser Community-Management Lob von den neuen Aktiven bekommen, tut mir gut. Dass sich so viele Menschen dann, wenn wir in der City im Büro sind oder bei Kundinnen, vor Ort um die Vertriebenen kümmern, macht mich stolz. Und dass wir mit dem, was wir können und was unsere Leidenschaft ist, dabei helfen können, eine neue Zivilgesellschaft zu bauen und unser Dorf, unsere Stadt, unser Land zu einem besseren Ort zu machen, macht mich froh.