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21.1.21

Christianismus – eine massiv unterschätzte Gefahr für unsere Gesellschaft

 

Bild einer Kreuzzugspredigt
Christianismus, der – radikale politische Ideologie, die sich (aus Sicht der meisten Christ:innen: fälschlicherweise) auf das Christentum beruft und vorgibt, eine christliche Gesellschaft formen oder erhalten zu wollen. Die politisch radikale Form eines christlichen Fundamentalismus, oft auch als "religiöse Rechte" oder als "politisches Christentum" bezeichnet.

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Während über den Islamismus, den "politischen Islam" viel geredet und geschrieben wird und weitgehende Einigkeit besteht, dass Muslim:innen sich vom Islamismus aktiv zu distanzieren haben (auch wenn der in dieser Forderung praktisch inhärente Rassismus noch mal gesondert zu besprechen wäre), ist der Christianismus weitgehend undiskutiert, wenn es nicht um die religiöse Rechte in den USA oder die rechtsradikalen Pflingstgemeinden in Brasilien geht. 

Dass aber der Christianismus auch in Europa und speziell in Deutschland ein massives und sehr gefährliches Problem ist, diskutieren wir selten. In Ansätzen erlebe ich die Kritik und die Diskussion langsam in theologisch konservativen evangelischen Kreisen, die sich bewusst und aktiv gegen eine Vereinnahmung durch faschistische Bewegungen und Parteien wehren, aber nicht in der Breite meiner Kirche. Und schon gar nicht in der Politik. Nicht hilfreich (aus religiöser Binnensicht) ist sicher auch, dass ansonsten diese Diskussion eher von einer Gruppe getrieben wird, die ich als "religiöse Atheist:innen" bezeichnen würde, also denen, die Religion – und insbesondere das Christentum – an sich und mit religiösem Eifer ablehnen oder hassen, und den Christianismus darum als "natürliche" Form und logische Konsequenz des Christentums sehen und beschreiben.

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Und die Versuchung des Christianismus ist für Christ:innen ja auch real – denn wenn ich glaube, dann versuche ich, mein Leben danach auszurichten. Und wenn ich glaube, dass es eine Wahrheit gibt, dann wäre es auch schön, wenn das Leben allgemein auf diese Wahrheit ausgerichtet ist. Wer hier stehen bleibt und daraus ableitet, dass Gesellschaft und Politik so organisiert werden sollen, ja: müssen, überschreitet sehr leicht die Linie, die eine liberale Demokratie von einem autoritären Regime unterscheidet. Und darum sind Christianist:innen so gefährlich, selbst wenn sie (davon gibt es ja bis hin zu Abgeordneten im Bundestag einige) in demokratischen Parteien organisiert sind. Denn in ihrem Inneren können sie nicht akzeptieren, dass die Mehrheit eine andere Entscheidung fällt in Fragen, in denen Christ:innen eine Leitschnur haben. Wer darauf besteht, dass Politik sich an der Wahrheit, an die ich glaube, ausrichtet, kann nicht akzeptieren, wenn sie es nicht tut.

Darum, so denke ich, sind Christianist:innen so anfällig für autoritäre Politikangebote bis hin zu faschistischen Parteien und Bewegungen wie die AfD oder Trump. Weil der Christianismus am Ende nichts mit einer Demokratie anfangen kann. Wer nicht nur für sich selbst keine Grautöne kennt sondern sie auch bei anderen nicht akzeptieren kann, bedroht die Art, wie wir in diesem Land zusammenleben.

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Den evangelischen Christianismus gibt es in seiner jetzigen Form seit etwa den 1980er Jahren – und er hat sich immer weiter radikalisiert, je mehr sich die Gesellschaft in eine inklusivere, offenere Richtung entwickelte. Am Anfang stand eine Bewegung, die sich gegen die Öffnung der evangelischen Kirchen in Deutschland für nicht-konservative Menschen wendete. Die den Eindruck hatte, dass die evangelischen Kirchen mit ihrer Unterstützung der Ostverträge und mit ihrem Eintreten für eine Friedensethik den Boden von dem verlassen hätten, was sie Bibel und Bekenntnis nannten. 

Als jemand, der in den 1980ern sowohl religiös als auch politisch aktiv wurde, erinnere ich mich noch gut, wie die frühen Christianist:innen (eine ihrer damals die Freund:innen meiner Eltern und teilweise auch meine Mutter selbst besonders stark bedrohenden Vertreterinnen bei uns im Norden sitzt heute für die CDU Bremen im Bundestag) in Nordelbien (Hamburg und Schleswig-Holstein) einen Kirchenkampf starteten, den sie mit Spitzeleien führten (beispielsweise indem sie von meinem Propsten jede Predigt mitschrieben und Dienstbeschwerden daraus ableiteten, bis er im Burnout landete). Ein etwas skurril zu lesender Text aus der "Zeit" damals dokumentiert Teile dieser Anfänge ganz gut.

Ich selbst hatte mit der zweiten Generation der Christianist:innen in meiner Kirche immer wieder zu tun, weil ich einige ihrer theologischen Ansätze teilte, vor allem ihre Betonung der lutherischen reformatorischen Tradition. Weshalb ich (als politisch damals Linker) nie bei ihnen mitmachen konnte, war, weil sie schon damals als einzige politische Konsequenz aus einem klaren und entschiedenen Christentum nur einen autoritären Konservatismus akzeptierten. Also schon in den 1990er Jahren aus ihrem radikalen Christ:in-Sein ein eindeutiges politisches Mandat ableiteten. "Left evangelicals", wie es sie in den USA und teilweise in England gibt, gab es damals bei uns nicht, höchstens am Rande in den methodistischen Kirchen.

Meine Beobachtung ist, dass die Christianist:innen sich in dem Maße, in dem sie immer mehr in eine immer kleiner werdende Minderheit gerieten (sowohl kirchlich als auch gesellschaftlich) immer weiter selbst radikalisierten. Im Grunde ähnlich wie die rasante Selbst-Radikalisierung im Zeitraffer, die wir, katalysiert durch Social Media, in den letzten wenigen Jahren auch in vielen anderen Bereichen erleben (bestes Beispiel scheint mir neben einigen Journalisten im Pensionsalter gerade dieser Wirtschaftsprofessor Homburg zu sein, dessen Abgleiten in Verschwörungserzählungen sich quasi live auf Twitter verfolgen lässt bis hin zur Einlassung, seine Kritiker:innen seien von Regierung und Pharmaindustrie bezahlt). 

Spätestens seit die sichtbare Galionsfigur des deutschen Christianismus und zugleich ihr (letztes?) Scharnier in den demokratischen Konservatismus, Ulrich Parzany, keine öffentliche Resonanz mehr findet, hat die Selbstviktimierung und damit die Radikalisierung noch einmal an Fahrt aufgenommen. Wie sehr, zeigen die Reaktionen aus dieser inzwischen antidemokratischen Bewegung auf den Rücktritt des sächsischen Bischofs 2019 aufgrund seiner faschistischen Texte um 1990 herum und seiner späteren Auftritte in rechtsextremen Think Tanks.

Ähnlich wie Islamist:innen geraten auch Christianist:innen fast zwangsläufig in eine Situation, in der sie eine offene Gesellschaft und eine liberale Demokratie ablehnen (müssen), weil diese sich nicht an ihrer jeweiligen Wahrheit zu orientieren bereit ist. Auch da, wo sie formal noch in demokratischen Organisationen aktiv sind (Christianist:innen gar nicht so selten in führenden und hauptamtlichen Positionen in der CDU und ihren Arbeitsgemeinschaften), geraten sie immer wieder in Konflikte aufgrund der Tatsache, dass sie eine Toleranz für andere Positionen oder einen anderen Glauben ablehnen. Bei beiden religiösen Deformationen schließt diese Ablehnung auch die jeweilige Mehrheit ihrer Religionen ein. 

Christianismus ist darum aus meiner Sicht weit gefährlicher als Islamismus, weil seine Vertreter:innen in der Mitte der Gesellschaft leben und arbeiten, in Medien, in Parteiorganisationen, in Kirchen. Die Beispiele USA, Polen und Brasilien zeigen, dass sie sehr leicht in eine Koalition mit offen faschistischen Führern eintreten, wenn diese ihnen eine Überwindung oder Bekämpfung der offenen Gesellschaft versprechen. Und das passiert vor allem darum, weil sie die Spielregeln der Demokratie für weniger wichtig halten als ihren Glauben, zu dem in seiner extremistischen Variante gehört, dass es falsch und geradezu verbrecherisch ist, ihn nicht zu teilen. Und wenn sie also vor die Wahl gestellt werden, die Demokratie zu verteidigen oder ihren (extremistischen) Glauben, werden sie sich notwendig immer für den Glauben entscheiden. 

Sie sind die ersten, die gegen die offene Gesellschaft auch aktiv zu Felde ziehen, wenn es den Hauch einer Chance gibt. Was das irritierende Verhalten auch in Deutschland von Menschen, die sich als christlich identifizieren und dennoch autoritäre und faschistische Parteien wählen, im Zuge der Selbstradikalisierung zumindest erklärt. Was fehlt, ist meines Erachtens eine klare Distanzierung der Kirchen und von (konservativen) Christ:innen von diesen Radikalen. 

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Einmal ganz praktisch: Wo die Grenze zwischen (konservativen) Christ:innen und Christianist:innen verläuft, kann – nur beispielhaft – am Thema Abtreibung gezeigt werden. Gemeinsame Position ist, Abtreibung abzulehnen. Während eine christliche Position, die sich als Teil einer offenen, liberalen Gesellschaft versteht, dann (etwas holzschnittartig) ist, für das werdende Leben zu werben und die eigene Position (werbend) zu erläutern, verlangen Christianist:innen, dass ihre Position auch das staatliche Gesetz ist und können einen anderen Beschluss des Parlaments nicht akzeptieren und wenden psychische Gewalt gegen Menschen an, die ihre Position nicht teilen. Im Zuge ihrer Radikalisierung gehen sie dann manchmal noch weiter, wie wir in Polen und den USA sehen, und wenden auch physische Gewalt an. Hier überschreiten sie die allzu feine Linie vom Extremismus zum Terrorismus, auch das ähnlich wie bei Islamist:innen.

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Und noch als Ergänzung, weil die eine oder andere gefragt hat: der Christianismus ist meines Erachtens noch mal sehr anders als der (mir ebenfalls unsympathische) Pietismus, vor allem der rheinischer Prägung, der nicht umsonst Pietkong hieß. Aber er war eben auch – so unangenehm er für andere Christ:innen immer war und ist aufgrund seiner Aufdringlichkeit – sehr persönlich und nach innen gerichtet und nicht auf die Welt. Ähnlich wie in den USA, bevor Reagan die rechten Christ:innen politisierte. Insofern halte ich den Christianismus für anders und vor allem extrem viel gefährlicher. 

28.4.17

Rossballett

Das Requiem gehört (neben den Streichquartetten aber die auch nur vom Alban-Berg-Quartett gespielt) zu den wenigen Werken von Mozart, die ich immer und uneingeschränkt liebte. Und es bleibt für mich ein unvergessenes Erlebnis, als wir das mit unserer Kantorei damals sangen.

Als Rossballett ist es noch etwas besondererer, oder? Irre. Love it.

23.3.17

Wahrheit

Ein Gedanke von Michael Seemann hat mich in den letzten Wochen elektrisiert und nicht mehr losgelassen. Sein mehrteiliger und erst höchstens halbfertiger Essay über "demokratische Wahrheit" lohnt eine intensive Lektüre - am besten wirklich von Teil I an und da durchhangeln und auf die Teile V bis VIII oder so warten.

Die Idee, vergröbert und verkürzt, dass Wahrheit heute gefühlt und – vor allem – wirkmächtig einer Demokratisierung unterworfen sei, verstört, ist für mich aber überzeugend und erklärt einiges, was sonst schwer zu erklären ist.
Wahrheit, nämlich

Tatsächlich aber lohnt es sich, diesen Gedanken einmal bis zum Ende durchzudeklinieren. Er ist ein Kontrapunkt zur liberalen Selbstgewissheit, dass die Anhängerinnen von Verschwörungsideen, die Leute, die Russia Today Deutsch für Nachrichten halten, die Fehlgeleiteten, die an Lügenpresse und die Merkeldiktatur glauben, dass alle diese eigentlich nur dumm seien oder überzeugt werden könnten, wenn wir nur mit den richtigen Argumenten kämen.

Vor allem aber hilft die Idee der "demokratischen Wahrheit", besser zu verstehen, warum wir nicht dialog-, noch nicht einmal sprechfähig sind. Im Kern ist es ja auch folgerichtig, dass nach und nach alle Lebensbereiche und Weltbereiche demokratisiert werden. Im Kern ist das etwas, das unsere Gesellschaft, das vor allem der liberale Teil unserer Gesellschaft, für richtig, für "gut" hält.

Wer sich vom Internet, damals, seit den 90ern, Demokratisierung versprochen hat, Zugang zu Wissen und Informationen, das Ende der Torwächterinnen für Wissen und Nachrichten, kann kaum wirklich überrascht oder auch nur dagegen sein, dass dieses jetzt auf einmal anders als gedacht wirklich wird. Was "wahr" ist, wird einem demokratischen Prozess ausgeliefert. Menge, Mehrheit, gefühlte Mehrheit – all das entscheidet über Wahrheit.
Ich habe es im Internet gelesen.
Viele Leute haben es gesagt, retweetet, geteilt.
Also muss es wahr sein.
Der liberale Mainstream hat sich angewöhnt, über diese Argumentation zu lachen. Aber ist sie unlogisch? Ist sie (ethisch) schlecht?

Wahrheit, אמת, kann ja recht eigentlich nur dann "objektiv" sein, wenn es eine Instanz gibt, die über sie entscheidet. Hier sind wir Jüdinnen und Christinnen in einer (sozusagen) "besseren" Situation als die Liberalen – denn genau davon sind wir überzeugt.

Vielleicht sind es deshalb die organisierten Religionen, in unserem Land vor allem die christlichen Kirchen, die besonders wahrnehmbar und laut gegen das Regime der demokratischen Wahrheit und gegen die Autoritären ihre Stimme erheben.

Mir ist, das merke ich in den letzten Wochen, in denen ich über den Gedanken dieser Demokratischen Wahrheit nachdenke, die Idee nicht nur unsympathisch, dass Wahrheit über demokratische Prozesse bestimmt werden könnte. Sie macht mir auch Angst, wenn ich ehrlich bin.

Ich weiß die Wahrheit nicht, sie ist mir entzogen, ich werde, so hoffe und glaube ich, nach meinem Leben in dieser Welt die Wahrheit erkennen. Aber ich bin mir sicher, dass es eine Wahrheit gibt. Und dass mein Gott sie kennt und dass Gott versucht, sie uns zu zeigen. Was wir in meiner religiösen Tradition mit dem Heiligen Geist zu erklären versuchen.

Dieses Wissen, dieses Glauben, diese Hoffnung verhindern, dass ich Wahrheiten auf den Leim gehe, die ihre Legitimation aus einem demokratischen Prozess beziehen. Wie das aber für eine ganze Gesellschaft funktionieren soll, wenn einmal die Demokratie "losgelassen" ist, weiß ich nicht. Und ich fürchte, dass wir uns als Gesellschaft daran werden gewöhnen müssen, dass es mehrere demokratische Wahrheiten gibt.

Was für ein Grauen.

3.2.17

Murmeln

Zuerst hielt ich es für etwas albern, aber habe trotzdem mitgemacht, denn es passte andererseits in die Situation. Inzwischen freue ich mich jeden Tag daran.

Weihnachten hatten wir es endlich einmal geschafft, in die sehr schöne Kirche bei uns in Eutin zu gehen. Der Propst predigte und der wunderbare Kirchenmusiker leitete seine erstaunlich jung klingende Kantorei. Was tolle Musik doch für einen Unterschied macht in einem Gottesdienst, vor allem die Orgelvorspiele von Martin West (der, kaum dass wir ihn entdeckten, in den Ruhestand ging, Pech), die mich an die inspirierende Zeit von Klaus Vetter in Bramfeld erinnerten.

Zu Beginn der Weihnachtspredigt ließ der Propst den Klingelbeutel rumgehen – und jede Besucherin sollte sich eine Murmel rausnehmen und gut festhalten. Irritation in den Kirchenbänken war garantiert.

Sinngemäß sagte er: "Nehmen Sie die Murmel mit. Stecken Sie die in die Tasche. Und wenn Sie darauf treffen in den nächsten Tagen, erinnern Sie sich daran, wie es war, ein Kind zu sein, das Leben und die Welt mit Kinderaugen zu betrachten." So ungefähr jedenfalls. Es ging ihm nicht um Weltflucht, im Gegenteil. Sondern um die Freude und das Staunen von Kindern gegenüber der Welt. Und das Vertrauen. Und den Lebensmut und die Hoffnung und Zukunftserwartung, wenn man so will (auch wenn Kinder es nicht so nennen würden).

Seit Heiligabend trage ich die Murmel tatsächlich in der rechten Hosentasche mit mir herum, packe sie ganz gewissenhaft aus und wieder ein, in Jeans, in Anzughosen, sogar in Reithosen. Und spüre ihr nach über den Tag hinweg. Und jedes Mal, wenn ich die Murmel anfasse, erinnert sich etwas in mir daran, was sie mir sagen will.

eine Murmel auf meiner Hand
Das Verrückte ist, dass es funktioniert. Ich weiß, ich werde sie irgendwann verlieren, werde sie mit Kleingeld, das ich in der gleichen Hosentasche mit mir rumtrage, herausziehen und fallen lassen, sie wird unter einen Schrank rollen oder in einen Gulli. Bis dahin aber passe ich auf sie auf. Und erinnere mich daran, was Gott Noah versprochen hat. Und dass es sich lohnt zu leben und zu arbeiten. 

Ich hätte nicht damit gerechnet, dass eine Kleinigkeit wie diese Murmel wertvoll für die ersten Wochen dieses Jahres, für die Weihnachtszeit, die gestern zu Ende ging, sein könnte. Dass sie einen Gedanken weiterträgt in mein Leben, den jemand in einer Situation in mich gepflanzt hat, in der ich dafür aufnahmebereit war. Und dafür bin ich dankbar.

Und werde versuchen, die Murmel, so lange es irgendwie geht, eben gerade nicht zu verlieren.


15.1.16

Alle Christen hassen Homos

Seit vielen Jahren setze ich mich sehr kritisch mit "dem Islam" auseinander. Mindestens seit 2010 auch hier im Blog (auf die Schnelle fand ich keinen älteren Beleg hier). Wahrscheinlich stört es mich deshalb so sehr, wenn ich in den letzten Tagen und Wochen immer wieder von Leuten auf Interviews mit "Islamkritikerinnen" aufmerksam gemacht werden, deren Tenor in etwa ist: Ich weiß das, denn ich komme aus einer islamischen Familie. Und alle muslimischen Männer verachten Frauen und alle muslimischen Mütter erziehen ihre Söhne zu Frauenhassern. Und so weiter und so ähnlich.
Wie die meisten, die mich schon länger als zwei, drei Tage lesen, wissen, bin ich mehr als nur skeptisch, was den organisierten Islam, auch und vor allem den in Deutschland angeht. Und ja, wer sich ein bisschen mit Geschichte auskennt, weiß, dass das organisierte Christentum auch nicht direkt aus seinen Institutionen heraus die ersten Schritte gemacht hat, um im Zuge der Aufklärung und vor allem dann im Zuge der Modernisierung nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs (die für die Kirchen theologisch noch weit prägender und verändernder war als das Versagen der nicht-lutherischen Kirchen während des Nationalsozialismus) ein auf Freiheit und Menschenfreundlichkeit ausgerichtetes Selbstverständnis zu entwickeln. Und ja, Teilen des organisierten Christentum (glücklicherweise nur in einer sehr verschwindenden, wenn auch lauten Minderheit) ist das bis heute nicht gelungen. Und ja, die unterschiedlichen Erfolgsgeschichten von Islam und Christentum hängen auch damit zusammen, dass sie - nach meiner Auffassung - in unterschiedlich starkem Maße den Keim zur Aufklärung und zum Selbstdenken in sich tragen. So weit dazu.

Aber: So wenig, wie wir aus einem durchgeknallten Erzbischof in Spanien [Edit: auch die Meldung in dieser Quelle und nicht nur in der gewohnt unseriösen, die ich nicht verlinke, die runter und rauf gereicht wurde die Tage, ist falsch und basiert auf einer Lüge. Ist sozusagen das QED der These dieses Posts hier, was fast schon skurril ist. Also: der Bischof mag durchgeknallt sein, was ich nicht weiß, aber er hat ausdrücklich das Gegenteil dessen gesagt, was ihm vorgeworfen wird. Paradoxerweise ist das schon ohne Spanischkenntnisse in dem auch bei der HuffPo verlinkten Originaltext seiner Predigt sofort zu erkennen. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich den Link nicht vorher aufgerufen habe. Unten im Kommentar von Martin Recke ist ein Link auf eine deutsche Übersetzung der Predigt.] auf alle Christinnen schließen ("wir" sind hier, tschuldigung, alle, die nicht aus ideologischen Gründen genau so argumentieren wie die aus dem Islam Konvertierten), können wir behaupten, alle Moslems, männlich wie weiblich, seien so oder so.

Selbstverständlich ist es Alltagswissen und auch die privatempirische Erfahrung von allen, die mit Jugendlichen arbeiten, dass es unter jungen Männern, die aus muslimischen Familien kommen, überproportional viele gibt, die eine Haltung zu Frauen haben, die sie ausschließlich als Objekt sieht. Nur gibt es auch ganz andere und in unserem Teil von Hamburg beispielsweise leben sehr, sehr viele Familien, in denen das ganz anders ist. Und, erschreckend: diese abstruse Haltung nimmt unter biodeutschen und anderen Jugendlichen aus nicht-muslimischen Umfeldern in den letzten Jahren ebenfalls wieder massiv zu. Was nicht ausschließlich der Einwanderung zuzuschreiben ist, weil es auch in Gegenden so ist, in denen nicht die Kinder der Einwanderinnen milieuprägend sind. Es ist im Gegenteil erschreckend zu beobachten, wie in Milieus und Stadtteilen, in denen eher Mittelschicht und obere Mittelschicht zu Hause ist, "Mackerverhalten" massiv zunimmt. Was übrigens überwiegend aus nicht mehr christlich geprägten Familien heraus passiert.

Ich finde es schräg - und das, obwohl ich religiös und politisch zu den Gegnerinnen des organisierten Islam gehöre - wie bereitwillig und unwidersprochen eine Beschreibung des Islam als so ist dann dann wohl akzeptiert wird, die exakt so ist wie die Beschreibung des Christentums von den religiösen Atheistinnen (so aggressive Lobbygruppen wie die Humanistische Union und andere) - obwohl mit denen nur sehr wenige andere der Meinung sind, dass ihr Zerrbild der christlichen Wirklichkeit in diesem Land entspreche.

Selbstverständlich kann man der Meinung sein, dass Religion an sich das Problem ist. Dass alles Übel aus der Religion kommt. Ungefähr so, wie man auch der Meinung sein kann, dass Vegetarismus an sich das Problem ist, weil der einzige europäische Staatsführer im 20. Jahrhundert, der Vegetarier war, Deutschland in singuläre Verbrechen geführt hat. Merkt ihr, ne?

Als Faustregel setze ich ja bei so was an, dass diejenigen, die sich im Streit von einer Gruppe, zu der sie gehörten, getrennt haben, nicht die idealen Zeugen sind, wenn ich ein sachlich-kritisches Bild von dieser Gruppe haben will. Sei es eine Religion, eine Partei, eine Familie.


19.12.14

Am Weihnachtsgottesdienst hängt die Zukunft unserer Kirche

Es sind die großen Geschichten, die faszinieren, die wir immer wieder hören können, die uns bewegen – zu Tränen, zum Lachen, zu tief empfundenem Glück. Und es sind die großen Ideen, die uns sofort ansprechen, die uns dazu bringen, innezuhalten, aufzubrechen, zu kommen.

Weihnachten hat alles, was eine große Geschichte braucht – Gut gegen Böse, Überraschung, einen Helden, dem niemand das Heldsein zutraut, die Rettung der Welt oder der Menschheit. Alles süßliche, wunderbare, überfrachtete Brauchtum könnte den Erfolg von Weihnachten nicht erklären, wenn es keine große Geschichte wäre.

Wenn wir als Werberinnen und Kommunikationsfachleute etwas bewegen wollen, sind wir immer auf der Suche nach so etwas wie Weihnachten. Einer großen Geschichte, hinter der eine große Idee steht, aus der die gesamte Kampagne fließt und sich entwickelt.

Wir brauchen große Ideen, um zu bewegen. Und eine große Idee ist eigentlich ganz einfach an drei Punkten zu erkennen (und das wiederum hilft, zu verstehen, wieso Weihnachten so irre erfolgreich ist):

Herrnhuter Weihnachtssterne
(1) Sie muss nicht erklärt werden, sondern leuchtet sofort ein. (2) Aus ihr folgt sofort und quasi wie von selbst, was ich daraus machen kann, wie ich sie umsetze in eine Kampagne. Und sie beruht (3) auf einem Insight, wie wir in verschwurbeltem Agentursprech dazu sagen – was meint, dass sie eine tiefe, emotionale, menschliche Wahrheit anspricht, die sich so anfühlt, als würde ich sie schon immer kennen, selbst, wenn ich sie das erste Mal höre oder erlebe.

All dies trifft auf Weihnachten zu. Auf die Idee und die Geschichte. Und dass dann auch noch die Idee von Weihnachten auf eines der größten und etabliertesten Feste gelegt wurde, die es schon gab, war ein genialer Schachzug, der nur den besten Werbern einfällt. Denn es ist die hohe Kunst der Kommunikation, mit der eigenen Geschichte und Idee nicht etwa eine Welle anzustoßen sondern eine bereits große Welle zu surfen.

Mit der Idee, dass die Welt und vor allem wir Menschen gerettet seien, ausgerechnet an den Tagen um die Ecke zu kommen, an denen wir aufzuatmen beginnen, weil die deprimierenden dunklen Tage langsam wieder heller und länger werden, ist genial. Denn das haben wir aus der Forschung gelernt, wie Werbung wirksam sein kann: Auch die beste und größte Idee und Geschichte muss auf fruchtbaren Boden fallen, um Resonanz auszulösen. Sonst wäre das alles ja viel besser planbar als es ist, sonst wären die großen sogenannten viralen Wellen nicht so sehr von Zufällen abhängig. Und die Wintersonnenwende ist genau das Umfeld, in dem die Hoffnung und der Traum von Weihnachten sofort einleuchtet.

Gegen allen Kitsch, gegen alles moderne Schimpfen auf den falschen Schein von Friede-Freude-Eierkuchen, gegen jede der Statistiken, die über Weihnachten besonders viel Streit in den Familien behaupten, gegen all dies steht die Idee und die Geschichte von dem kleinen, verletzlichen Kind im Stall, das unvorstellbar groß ist und eine so radikale Veränderung bedeutet. Und trifft auf eine tiefe Sehnsucht und eine tiefe emotionale Wahrheit. Die Wahrheit davon, dass es anders sein kann als im hektischen Alltag. Und dass es möglich ist, in dieser Welt bereits anders zu leben. Die Sehnsucht nach Frieden und Veränderung und – ja, auch – Erlösung.

Deutsche und britische Soldaten am 26.12.1914
Jedes irgendwie gelingende Weihnachtsfest ist ja tatsächlich ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes. So klein es uns scheinen mag. Und so wenig substanziell es daher kommt. Wie oft hat es wirklich den Weihnachtsfrieden gegeben? Wir mögen ihn vergessen im Stress des Geschenkejagens und Essenkochens. Aber gerade in diesem Jahr, in dem sich der Beginn der großen europäischen Katastrophe des ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal gejährt hat, lohnt es sich, auf die Geschichten vom Weihnachtsfest über den Gräben der Front in Frankreich zu hören, um zu erahnen, was Weihnachten sein kann.

Tief in uns schlummern diese Geschichten und Erinnerungen. Sonnenlauf, Kindheitserinnerungen, kollektive Erlebnisse – all das bildet den Resonanzraum für die erfolgreichste Mobilisierungskampagne des Jahres, die unsere Kirchen zu bieten haben: Weihnachten wird in der Krippe entschieden.

So kommen Menschen über unsere Kirchentüren. Getrieben von einer Mischung aus Erwartung, Tradition und tiefen Sehnsüchten. Sie haben sich vorbereitet, wie man sich auf ein Fest vorbereitet – geschmückt mit ihrer besten Kleidung, die Wohnung geputzt, das Essen geplant, die Familie zusammen getrommelt. Voll freudiger Erwartung.

Mein Kommunikatorenherz schlägt schneller, wenn ich an diese Chance denke. Menschen, die bereit sind, zuzuhören, aufzunehmen, zu fühlen. Die wissen und erwarten, dass etwas passiert, das nicht wirklich und voll in diese Welt und Gegenwart passt. Offen für die Magie der großen Geschichte. Für das Heilige. Bereit für die Begegnung.

Aus Sicht eines Christen, der in Werbung und Kommunikation arbeitet und Ideen und Kampagnen entwickelt, ist Weihnachten ein Geschenk. Im Grunde so etwas wie der Elfmeterpfiff – es legt uns den Ball auf den Punkt, wir, die Kirche, die Gemeinde, die Pastorinnen, müssen ihn nur noch reinmachen. Die beste Werbung sind gute Produkte, das wissen wir. Was wir mit Kampagnen und Ideen machen, ist, Menschen dazu zu bringen, sie auszuprobieren. Wir stellen die Menschen sozusagen an die Rampe. Danach muss das Produkt überzeugen, mehr kann eine gute Geschichte, eine große Idee nicht leisten.

Weihnachten bringt so viele Menschen wie nie über die Schwelle der Kirchentür. Danach muss Kirche, muss das Bodenpersonal überzeugen und begeistern. Nur dann hat die große Geschichte einen Sinn. In der großen Kampagne, die wir Mission nennen könnten, ist Weihnachten der wichtigste Baustein, dicht gefolgt von Hochzeiten und Taufen. Sie sind die großen Leuchtturmprojekte der Kampagne. Und sind doch nur so viel Wert, wie das, was wir mit unserem „Produkt“ daraus machen.

Gelingt es uns, die Menschen, die so offen zu uns kommen, anzurühren? Mit dem etwas widerständigen, aus der Zeit gefallenen, irgendwie etwas von der Ewigkeit erzählenden Erleben und Hören und Singen im Gottesdienst? Es ist alles bereitet. Und doch erkennen so viele dieser Menschen nicht, sehen nicht, schmecken nicht, fühlen nicht, wie freundlich und anders und quer zum Alltag Gott ist.

Mein Kommunikatorenherz blutet, wenn ich in den Gottesdiensten, zu denen die Menschen durch die großen, ewigen Geschichten von Liebe, Freude, Hoffnung und Frieden kommen, geistliche Armut erlebe oder eine Nachlässigkeit aus Arroganz oder Langeweile. Oder wenn eine Predigt vergessen wird. Oder ich ohne geistliche Nahrung nach Hause geschickt werde. Oder es nur modern, schick oder feierlich war.

erste Seite des Weihnachtsoratoriums
Ich habe den Traum, dass ich nach der Christvesper aufstehe, nach oben sehe, tief Atem hole und sicher bin, etwas Besonderes erlebt zu haben. Etwas, das mir in den nächsten Wochen etwas bedeutet und mir etwas mitgegeben hat auf meinem Weg, auf den mich der Segen geschickt hat. Das mich trägt und in mir den Funken und die Sehnsucht nach mehr und mehr richtigem Leben entzündet. Und mich früher als Ostern oder das nächste Weihnachten wieder hier hin zieht.

Oft fühlt es sich an, als wäre der Weihnachtsgottesdienst für die, die mich doch eingeladen haben, eine lästige Pflicht. Oft machen Ablauf und Predigt, wenn es denn überhaupt eine gibt, den Eindruck, als wäre dieser Gottesdienst nicht wirklich mit Herzblut vorbereitet. Dabei müsste es doch derjenige sein, der die meiste, frischeste, aufmerksamste Arbeit des gesamten Jahres bedeutet. Denn die große Geschichte, die Kampagne von der Rettung der Welt durch dieses kleine Kind, hat so viele offene Menschen wie sonst nie zu uns gebracht. Hier brauchen wir unsere besten Predigerinnen und Sänger, die begnadetsten Menschenfischer. Denn hier, einmal im Jahr, entscheidet sich, ob wir als Kirche eine Zukunft haben, ob uns die Menschen zutrauen, ihnen das zu geben, was sie suchen und brauchen und was Gott ihnen versprochen hat: Save Our Souls.

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Eine gekürzte Version dieses Textes erscheint in der aktuellen Ausgabe der Evangelische Zeitung, der Kirchenzeitung für Norddeutschland. Ich bin gespannt auf die Reaktionen. Die Christvesper werden wir wahrscheinlich in Volksdorf mitfeiern.

18.10.14

Bleibt alles anders

Stalking, Aufforderung zur Lynchjustiz, Mobbing durch Identitätsklau, illegales Kopieren von Filmen und Musik – die Digitalisierung unserer Lebenswelten hat bei weitem nicht nur positive Auswirkungen. Immer wieder begegnet mir daher bei Eltern und Menschen, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen, eine große Unsicherheit: Wie sollen wir damit umgehen? Mit all den völlig neuen Fragestellungen, die uns überrollen?

Als jemand, der aktiv die Digitalisierung seiner Lebens- und Kommunikationsumgebung vorantreibt und gestaltet, habe ich zunächst ebenfalls vermutet, dass die Veränderungen so radikal sind, dass auch neue ethische Fragen entstehen (müssen). Und war dann überrascht, dass das nicht der Fall ist.

Sowenig das Internet ein „rechtsfreier Raum“ ist, so wenig sind Prozesse, die sich durch die Digitalisierung verändert haben und verändern, „ethikfrei“. Bei den meisten Themen helfen die Fragen und sogar die Antworten, die die (evangelische) Ethik sich erarbeitet hat, weiter. Sinnfällig wird das schon daran, dass die großen Fragen rund um die Digitalisierung exakt die gleichen sind, die immer die großen Fragen der Ethik waren: die vom Verhältnis von Freiheit und Verantwortung; von Recht und Rücksicht; von Eigentum und Verpflichtung; von Egoismus und Altruismus. Um nur einige zu nennen.

Wie bei jeder Technologie, die Wissen − was auch Daten meint − und Kommunikation besser verfügbar macht, ergeben sich auf einmal für mehr Menschen Fragen, die vorher eine Minderheit oder Elite berührten. So wie die Digitalisierung „Skalierungseffekte“ in fast allen Bereichen bringt, bringt sie auch „Skalierungseffekte“ in der Ethik – also die Herausforderung, dass mehr ethische Fragestellungen in kürzerem Abstand für immer mehr Menschen aktuell und relevant werden.

Es ist auffällig, dass Platons Polemik gegen das Schreiben und Erasmus’ Polemik gegen das Drucken fast wörtlich die Vorbehalte gegen die Veröffentlichungen im Internet wiedergeben. Und zugleich beide das, was sie kritisierten, sehr fleißig und erfolgreich für sich selbst nutzten. Sie hatten einfach große Probleme mit der Vorstellung, dass weniger Gebildete als sie dies auch tun könnten. Auch ihre Anfragen an Wahrheit, Nachvollziehbarkeit, Wahrhaftigkeit, Medienkompetenz – alles ethische Fragestellungen – sind faszinierenderweise fast wörtlich die gleichen, die sich heute, bei der dritten großen Medienrevolution, stellen. Vor allem die Frage, welcher Information, welchen Daten wir trauen können, ist heute ähnlich wie damals hochaktuell.

Was neu ist, auch in den ethischen Fragestellungen, ist der Personenkreis, der für sich diese Fragen beantworten muss. Medienethik ist nicht mehr ausschließlich Thema professioneller Medienschaffender. Umgang mit Persönlichkeitsrechten betrifft jede Person, die ein Smartphone, also einen Fotoapparat mit Internetanschluss, besitzt. Ethische Fragen rund um die Vervielfältigung von Inhalten sind für alle relevant geworden. Und so geht es weiter.

Haben sich durch die Erfindung und die Etablierung des Buchdrucks neue ethische Fragen ergeben? Nur wer das mit Ja beantworten kann, wird auch gute Argumente auf seiner Seite haben für die These, dass die Digitalisierung neue ethische Fragen aufwirft. Und nicht „nur“ ein neues Nachdenken über die Antworten erfordert.

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Diesen Text habe ich zuerst für das Lesebuch zur diesjährigen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland geschrieben, das die Synodalen (Abgeordneten) auf das Schwerpunkttheme vorbereiten soll: Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Dieses Thema inhaltlich mit vorzubereiten und auch den Entwurf der Kundgebung der Synode mitzuverfassen, hatte ich ja in diesem Jahr auf Einladung der Präses der Synode die Freude. 

Übrigens merke ich, dass ich mit dieser Mitarbeit sehr viel mehr am gesellschaftlichen Diskurs bewegen kann als mit fast allen netzpolitischen Aktivitäten, die denkbar wären. Allein, dass der Begriff "geistiges Eigentum" im Kundgebungsentwurf nicht vorkommt, ist ein wunderbares Zeichen...

13.3.14

Fortpflanzungsgemurkse

Ich habe lange, wirklich lange überlegt, ob ich doch noch etwas schreibe oder nicht über Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Rede vom 2. März. Interessanterweise habe auch ich erst von dieser Rede erfahren, als ich über die Kritik an ihr etwas hörte. Vielleicht hatte ich dabei Glück, denn es war in "Kultur heute" im Deutschlandfunk - und offenbar eine der wenigen Erwähnungen der Diskussion, die nicht durch massive Zitatverkürzungen einen Skandal herbeiredete. Sondern im Gegenteil angesichts der Diskussion und des offenen Briefs der Dredner Dramaturgen Koall längere Ausschnitte aus der Rede dokumentierte. Das war am 6. März. Und ich twitterte daraufhin:
Was mir viel Kritik einbrachte, mich um die 50 Follower kostete, und dazu führe, dass ich einige wenige weitere Leute blockte.  Und es brachte mich in eine recht fruchtbare, weil zwar kontrovers und hart aber kultiviert geführte Twitter-Diskussion mit dem SpOn-Redakteur Konrad Lischka.

Danach habe ich die Rede noch einige Male im Audiostream gehört, den das Staatsschauspiel auf seiner Seite anbietet. Und je häufiger ich die Rede hörte, desto mehr ärgerte ich mich über die Reaktionen darauf. Ja, ich teile auch nicht alle Punkte. Ja, ich finde es gräßlich, dass Lewitscharoff zustimmend den Rechtsdenker Peter Sloterdijk erwähnt, zumal sie nicht mal Recht damit hat, dass er "der einzige" sei, der dieses Thema bearbeitet habe. Ja, ich finde den rechtspopulistischen Duktus des Man-wird-ja-wohl-noch-mal-sagen-Dürfen in ihrer Selbstverteidigung gegenüber der FAZ eklig, um in ihren Worten zu bleiben. Wer Sloterdijk gut findet und solchen Fuß-Aufstampf-Kram sagt, verortet sich selbst so weit rechts außen im politischen Spektrum, dass sie eigentlich beschwiegen werden müsste.

Eigentlich, wäre da nicht die Dresdner Rede. Die zu 2/3 aus der Ich-Perspektive und äußerst subjektiv - aber nicht minder spannend und dicht und nachdenklich-machend - über Leiden und die Grenzen des Lebens redet. Und zu knapp 1/3 dann auf den Beginn des Lebens zu sprechen kommt. Lewitscharoff spricht Themen an, mit denen ich mich theologisch, praktisch und ethisch seit fast fünfundzwanzig (in Worten: 25) Jahren beschäftige. Denen der Medizinethik und der ethischen und theologischen, anthropologischen Fragen der Pränatalmedizin. Inhaltlich stimme ich ihr zu etwa 90% oder etwas mehr zu. Was es vielleicht auch leichter macht, nicht bewusst zu versuchen, sie misszuverstehen. Und was, das merkte ich in den Diskussionen auf Twitter und in der Kohlenstoffwelt, eine Position ist, die zurzeit unpopulär ist.

Extrem interessant finde ich, dass ich bei denen, die Lewitscharoff (inhaltlich) kritisierten und denen, die in Ansätzen mit mir diskutierten, den Eindruck habe, dass sie die Rede nicht gehört oder gelesen haben. Denn beispielsweise wendet sie sich (und wende ich mich) nicht gegen die, die als Paar einen (insbesondere und auch mit medizinischer Indikation) unerfüllten Kinderwunsch haben und zu Methoden der künstlichen Befruchtung greifen. Finde ich für mich keine Option (brauchte ich aber auch nicht), finde ich aber ethisch und anthropologisch vertretbar. Ebenso argumentiert, mit etwas anderen Worten, auch Lewitscharoff. Aber genau diese Menschen und ihr Leid wurden als Kronzeugen gegen sie angeführt - was nicht nur falsch ist sondern auch mehr als nur unfair. Es ist üble Nachrede.

Die Fragen des Beginns und des Endes des Lebens, über die diese Rede spricht, sind alles andere als einfach und eindeutig. Ich denke, dass es absolut angemessen ist (obwohl ihr auch das ja vorgeworfen wurde), hier zunächst sehr personal zu argumentieren, sehr auf Empfindungen und Gefühle zu hören und sie zu beschreiben, Dankbarkeit und Ekel zu benennen. So lange ich nicht den Fehler mache, aus dieser personalen Sicht Regeln für alle zu machen. Was - anders als die Kritik an ihr suggeriert - Lewitscharoff mit nicht einem Wort tut.

Und so oder so - dieser ganz kurze theologische Exkurs sei mir gestattet - ist die reformatorische Unterscheidung von "Sünde" und "Sünder" hier ja sehr relevant. Aus christlich-lutherischer Sicht ist es nie angemessen, Menschen zu verurteilen, die etwas tun, was ich für falsch halte. So wenig übrigens, wie es angemessen wäre, ihr Verhalten in diesem Fall kritiklos zu akzeptieren. Dies macht es aus christlicher Sicht auch etwas einfacher, die Diskussion über den Beginn und das Ende des Lebens zu führen. Denn auch diejenigen, die hier anderer Meinung sind als man selbst oder als das, worauf sich "die Kirche" geeinigt hat (mal etwas verkürzt ausgedrückt), werde ich nicht verurteilen oder ihnen den guten Willen absprechen, selbst wenn ich ihre Position oder Handlung scharf kritisiere.

Halbwesen
Die eigentliche Aufregung aber hat sich ja aus der - ja - etwas kruden Wortwahl ergeben, die Lewitscharoff gewählt hat. Und bei der ihr die eine oder andere auch gleich unterstellte, es ginge ihr nur um ihr Buch und die Promotion. Als ob da nicht der Büchnerpreis schon ganz gut geholfen hätte. Naja.

Das eine oder andere, was sie sagt, finde ich auch nicht richtig. Aber auch die fiesesten Worte hat sie schon bevor sie fielen, eingebettet. Sie spricht direkt vorher davon, dass sie jetzt übertreibt, weil sie so besonders wütend ist und sich so besonders ekelt. Und sie nimmt das Wort "Halbwesen" schon im nächsten Halbsatz wieder zurück, indem sie darauf hinweist, wie unfair und falsch es sei. Wer noch einmal nur diese Passage hören will - ab Minute 42 beginnt sie, ich habe die Rede hier unten eingebettet (direkt von der Staatsschauspiel-Seite her).

Die Dresdner rede von Sibylle Lewitscharoff ist sperrig und eigenwillig und in der Art, wie sie "ich" sagt, auch nicht allgemeingültig oder im klassischen Sinne philosophisch. Wohl aber im Buber'schen Sinne dialogisch, scheint mir. Aber das ist eine andere Geschichte. Es lohnt sich, über diese Themen zu streiten. Und wenn ich der Rednerin etwas vorwerfen will, dann dies: Dass sie es den Denkfaulen und denen, die explizit und begründet anderer Meinung sind als sie (und ich), allzu leicht macht, indem sie ihnen einen Brocken hinwirft, auf den sie sich reflexhaft stürzen. Und so die Diskussion vermeiden über Leid und Wohl am Lebensanfang und am Lebensende. Über die ethischen und anthropologischen Grenzen und Chancen der "frankenstein'schen Medizin".

So oder so lohnt es sich, die Rede noch einmal am Stück zu hören. Darum hier direkt das Audio.

 

Und für die, die es woanders hören wollen, hier die  Audiodatei als MP3 zum Herunterladen. Beides direkt von der Seite des Staatsschauspiels, so dass es hier weg ist, wenn es dort verschwinden sollte.

31.12.12

Von Heiden und vom Gericht

In der heiligen Nacht habe ich auf Twitter und Facebook - wie auch schon mehrfach vorher zu diesem und ähnlichen Anlässen - was geschrieben, das darauf hinwies, dass dieses ein christliches Fest sei. Mit all den Implikationen, die das hat. Bewusst etwas kontrovers geschrieben. In diesem Fall: "Gut für die Christen. Doof für die Heiden". Übrigens fast wörtlich die Formulierung, die ich letztes Jahr auch gewählt hatte. 

Dieses Mal hat das Reaktionen hervorgerufen. Beispielsweise auf Facbeook diese beiden Kommentare von +Erik und +Timo. Beide haben zugestimmt, dass ich ihre Kommentare hier reinschreibe oder vielmehr als Bild einbinde: 

(Screenshot von Facebook, 26.12.2012, 16.37 Uhr)

Was ich daran interessant finde: Die beiden Kommentare sind zwar sehr unterschiedlich aber doch im Ton ähnlich - in ihrem Unverständnis für das, was ich da schrieb. Vergleichbar waren auch einige Reaktionen auf Twitter auf den gleichen Satz. Bis hin zu der Frage, ob das nicht eher wie die Zeugen Jehovas klinge.

Aber ehrlich: Ich meine den Satz tatsächlich ernst. Und denke schon, dass ich die Weihnachtsbotschaft verstanden habe, so weit ich als Mensch sie verstehen kann, Erik. Und nein, Timo, ich bin weiß Gott nicht katholisch - aber lutherisch (was ein lebenslanger Konflikt mit meiner reformiert geprägten Frau ist, gemischtreligiöse Ehen, you know).

Allerdings gehöre ich unter den Lutheranerinnen zu denen, die sich weigern, die Sperrigkeit der Botschaft der modischen Wohlfühlideologie theologisch anzupassen. Denn mein Glaube und unsere Religion ist eben kein Kinderkram, kein Kinderglaube - sondern liegt quer zu den Selbstverständlichkeiten dieser Welt. Vor allem aber zielt er, obwohl es sehr, sehr wichtig ist, wie wir diese Welt gestalten und wie wir in dieser Welt das Reich Gottes (also die Gerechtigkeit, jetzt mal etwas holzschnittartig formuliert) erfahrbar machen, trotzdem also zielt er auf die andere Welt, auf die jenseitige Welt, die nach dem Tod in dieser Welt kommt. Das mag dem einen oder der anderen merkwürdig vorkommen, aber tatsächlich ist eine der wichtigste Triebfedern für das Handeln (und teilweise gar für das Glauben) in dieser Welt für viele Lutheranerinnen und auch für mich das Leben in der Ewigkeit, das uns verheißen ist.

Anders als viele moderne Theologinnen und anders als vor allem die reformierte (calvinistische) Tradition, geht die lutherische Orthodoxie, in deren theologischer Tradition ich stehe, nicht von der so genannten "Allversöhnung" aus, also von der kindischen Vorstellung, dass alle Menschen das ewige Leben erlangen werden und Gott alle Menschen nach ihrem Tod in das Paradies führen wird.

Im Gegenteil. Ich glaube, dass viele Menschen in die ewige Verdammnis gehen werden nach ihrem Tod. Nämlich alle die, die ich "Heiden" nenne. Warum sollten Menschen gerettet werden, die die Botschaft vom Erlösungswerk Gottes aktiv verwerfen?

Gott möchte, dass alle Menschen gerettet werden, das ist auch die Weihnachtsbotschaft. Dass Gott Mensch wurde, so dass die Zweiflerinnen es glauben konnten. Ihn anfassen. Dass Jesus gelebt hat, ist ja weitgehend unstrittig in der Forschung. Dass er der Christus war, ist etwas, das wir glauben können oder nicht - aber nichts, was Menschen in unserem Land nicht wissen könnten, wovon sie noch nie gehört haben. Das so genannte Erlösungswerk Gottes, das allen Menschen gilt, ist ja eben dies: Dass er seinen Sohn, ganz Gott und ganz Mensch, geschickt hat. Dass alle Menschen, die nach Jesus gelebt haben und leben, die Chance haben sollen, von ihm zu hören und an ihn zu glauben. Darum übrigens konnten Leute gerettet werden, die anderen Religionen angehörten - bevor Jesus geboren wurde oder wenn ihnen nie jemand von Jesus erzählte. Denn die sind und waren keine Heiden in diesem Sinne. Sie konnten ja nicht von Jesus Christus wissen.

Aber so haben wir die Wahl, zumindest alle, die von Jesus und seinem Geborenwerden, Leben und Sterben gehört haben. Entweder wir glauben es - dann können wir, ein Leben vorausgesetzt, das nicht in Widerspruch zu seiner Botschaft steht, nach unserem Tod darauf vertrauen, dass wir das ewige Leben bekommen. Oder wir glauben es nicht, sind Heiden - dann werden wir, egal wie wir gelebt haben, leider nicht durch das Gericht kommen. Denn, das ist die wichtigste Botschaft, die die Reformation Luthers wiederentdeckt hat, nachdem die Papisten sie verschüttet hatten, allein der Glaube ist der Schlüssel zum ewigen Leben. Sozusagen (mathematisch gesprochen) die notwendige Bedingung, wenn auch keine hinreichende. Das ist gemeint, wenn Luther im Anschluss den Römerbrief des Paulus und an die Interpretation des Augustinus formuliert, wir würden "allein aus Glauben gerecht".

Darum sage ich, Weihnachten sei "doof für die Heiden". Also für alle* die, die - obwohl sie es besser wissen könnten - Jesus nicht als den Christus ansehen. Nach Weihnachten und dann später nach Karfreitag gibt es die Ausrede nicht mehr, ich hätte es nicht gewusst, hätte es nicht wissen können, dass der Christus geboren und gestorben sei. 

Wer von Weihnachten gehört hat, wer die Weihnachtsbotschaft gehört hat, und sich dennoch dem Glauben verweigert, ist doof dran, so auf Dauer. Denn die Ewigkeit ist unglaublich viel länger als das Leben auf dieser Erde. Und die in der Hölle statt im Himmel zu verbringen (was immer sich konkret hinter diesen beiden Worten verbergen mag), ist wahrscheinlich eher doof.

Das alles mag streng klingen und irgendwie aus der Zeit gefallen. Aber das ist es nur, wenn ich es als Drohung wahrnehme. Es ist aber keine Drohung sondern eine Verheißung. Darum reden wir auch so selten von der Hölle und dem Gericht und so viel vom Leben und der Rettung. Denn die steht jeder offen. Seit Weihnachten, seit die Möglichkeit des Bundes vom Volk Gottes auf die ganze Welt ausgeweitet wurde. Aber diese Verheißung ist eben auch kein Selbstläufer, das wäre kindisch und billig. Und billig ist Gott nicht, keine Geschichte, die Menschen sich von ihm und ihren Erfahrungen mit ihm erzählen, ist eine, in der Gott und seine Gnade billig gewesen wäre. Unverdient, das ja - aber nicht billig. Kindlich ja - aber nicht kindisch.

Dass wir in dieser Welt das Reich Gottes bauen können und dass wir in der nächsten Welt in diesem Reich Gottes ewig leben dürfen, ist toll und gut für diese Welt und ihre Menschen. Doof, wer nicht mitbaut und wer sich den Weg in dieses Reich verbaut.


__
* Eine Ausnahme von "alle" hat Gott übrigens gemacht, als er mit Israel seinen Bund schloss, der nie aufgehoben wurde und für alle Zeiten gilt. Weshalb, aber das nur am Rande, auch unter Lutheranern Judenmission mindestens umstritten ist. Denn das Volk Israel, das Volk Gottes, ist unabhängig vom Glauben an den Christus bereits gerettet.

23.12.12

Da sagt die Schröder einmal was richtiges...

und schon ist das Geschrei von allen Seiten groß. Nach dem Interview, das sie der "Zeit" gab zu Gott und der Welt und dem Vorlesen.

Ich bin ja nun wirklich unverdächtig, Kristina Schröder gut zu finden. Aber die Kritik an ihr in diesem Fall reicht von scheinlinken Onlinerinnen bis hin zu reaktionären Unionistinnen. Und das finde ich in beiden Fällen grotesk.

Mal ehrlich: Ich kennen niemanden, die halbwegs regelmäßig Kindern vorliest, die nicht immer wieder Worte abändert - sei es, weil sie nicht verständlich sind heutzutage, sei es, dass man das, was da bezeichnet wird, heute einfach anders bezeichnet. Ich mache das andauernd. ich mache das sogar bei Christine Nöstlinger, die ja nun eher keine rassistischen oder sexistischen Texte schrieb - weil die österreichischen Worte für meine Kinder nicht verständlich sind.

Kann es sein, dass hier ein reiner Beißreflex vorliegt? Oder ein realitätsfreier Pseudopuritanismus in Bezug auf in unseren Familien lebendigen und eben nicht literarisierten Texten? Ich persönlich finde Frau Schröder unmöglich und schwer bis nicht erträglich, ich halte sie für eine krasse Fehlbesetzung in ihrem Amt - aber wenn eine so reaktionäre junge Frau so selbstverständlich mit Texten und mit Gott umgeht und auch so beiläufig darüber redet, dann finde ich das größtartigst.

Denn das heißt, dass die letzten dreißig Jahre Diskussion in der Theologie, in den Kirchen (in Bezug auf Gott) und in feministischen und pädagogischen Diskursen (in Bezug auf beknackte Worte) nicht umsonst waren. Dass sich wirklich etwas geändert hat in diesem Land und bei seinen Menschen. und zwar mehr, als den alten Männern und den intelligenzfernen Postgenderdödeln bewusst oder recht wäre.

Und darum spricht Frau Schröder in dem Interview einfach nur das aus, was viele Menschen nicht nur in meiner Umgebung jeden Tag tun und denken. Sie ist eine ganz normale Frau und eine ganz normale Mutter in dieser Zeit. Verkopft - das ist ja einer der Vorwürfe aus ihrer Partei an sie - sind eher die, die sie jetzt kritisieren. Oder es sind eben Leute, die noch nie Kindern vorgelesen haben oder mit Kindern über Gott sprachen. Ich jedenfalls kann ihr zustimmen.

Zumal in fast allen (evangelischen) Gemeinden, die ich kenne, dauernd von "Gott, der uns Vater und Mutter ist" die Rede ist. Und mehr als eine Pastorin und sehr viele Pastoren sprechen beim Segen:
Gott segne dich und behüte dich, sie lasse das Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig, er erhebe das Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Amen.

20.7.12

Toleranz endet mit z

Irgendwann ist dann ja auch spätestens mal genug. Und ich werde hier jetzt nicht über die dreihundert verschiedenen Toleranzbegriffe diskutieren, ich definiere Toleranz in dem Sinne, dass etwas nicht nur hingenommen sondern auch akzeptiert wird.

Auch wenn Toleranz keine christliche Tugend ist, hat sie ja durchaus ihren Sinn. Aber sie endet mit z. Das ist mir bei drei mehr oder weniger kleinen Dingen diese Tage wieder bewusst geworden.
Aus dem weiteren Familienkreis (also nicht so nah, und nein, nicht eines meiner Kinder) - Wenn der Sohn sich auf einmal einen neuen besten Freund sucht, mit dem rumhängt, Anabolika schluckt, in den Geräteschuppen geht, Schule schwänzt. Und sich herausstellt, dass der ein dorfbekannter Nazi ist.
Aus der Partei - In der Pseudodiskussion um die Spitzenkandidaturen für die Bundestagswahl kritisierten, als Katrin Göring-Eckardt mal wieder kolportiert wurde (die ich für die richtige Kandidatin hielte, aber das nur mal am Rande), die üblichen Religionsverächterinnen diese Idee mit dem Anwurf, neben einer Pastorentochter (Kanzlerin) und einem Pfarrer (Bundeshorst) hätten sie keinen Bock und keinen Bedarf auf eine weitere "Kirchenmaus". 
Aus dem Stadtteil - Sylvia Hellwege, Peter Jacobsen und Karin Syring aus Hamburg-Sasel wollen dagegen klagen, dass in ihrer Straße (oder Nachbarstraße) eine familienartige Wohngemeinschaft einzieht, die Kinder mitbringt, deren ursprüngliche Familien sie beispielsweise misshandelt haben oder ihre Geschwister verhungern ließen oder vergleichbare Dinge.
Drei ganz verschiedene Fälle. Kleine und große Dinge. Alle ekelhaft (ok, der letzte Fall ganz besonders ekelhaft). Und alle hinter dem z.

Ich denke, dass es sich immer wieder lohnt, die eigene und auch die gesellschaftliche Grenze zu finden, bis zu der Toleranz (verstanden wie oben angedeutet) gilt. Und auch klar zu definieren, wo sie endet.

Das heißt nicht, dass nicht jemand Nazi sein "darf" (dafür, dass jemand Nazi sein darf, würde ich sogar demonstrieren, ich bin auch gegen Verbote). Dass jemand nicht religiöse Menschen und Religionen verachten darf oder dass Sylvia Hellwege, Peter Jacobsen und Karin Syring nicht klagen dürften. Ich nehme alles das auch hin. Aber ich habe weder Verständnis dafür noch bin ich bereit, es zu tolerieren.

Sagte ich schon, dass es gut ist, dass Toleranz mit z endet?

20.2.12

Schubladen My Ass. Oder: Gauck ist sperrig

Da ich im Konflikt Freiheit/Sicherheit für Freiheit bin - bin ich ein Liberaler?
Da ich für ein bedingungsloses Grundeinkommen bin - bin ich ein Linker?
Da ich Ehescheidung und Abtreibung ablehne - bin ich ein Rechter?
Da ich Kirchhoffs Besteuerungsmodell für Familien interessant finde - bin ich ein Libertärer?
Ich muss noch mal was zu Gauck schreiben, bitte entschuldigt. Aber ich finde so vieles so extrem albern. Anscheinend ist es so mühsam, dass Gauck nicht so Recht in Schubladen passen will. Das liegt vor allem daran, dass er wirklich meint, was er sagt - und dass er sich so nachhaltig weigert, seine Äußerungen auf ein auf Twitter zitierfähiges Format zurückzustutzen.

So groteske Zitatschnipselsammlungen wie Malte Lehmings unsäglicher für den Tagesspiegel leicht aktualisierter Kommentar oder das methodisch an religiöse Fundamentalistinnen erinnernde Piratenpad zu Gauck zeigen mir vor allem eines: Es lohnt sich, die Schnipsel im Zusammenhang zu sehen oder zu lesen.

Denn ja, Gauck sagt Sätze, die auch mich irritieren und/oder verstören. Aber er sagt sie in Zusammenhängen, die Fragen stellen und einen Bogen aufspannen. Sei es zur Vorratsdatenspeicherung. Sei es zu Sarrazin. Und aus der Feststellung, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze habe Vertriebene verletzt, zu schlussfolgern, Gauck sei wie Erika Steinbach oder meine, diese Verletzung wäre nicht nötig gewesen, ist dann schon nicht mehr nur lustig und unbeholfen sondern ernsthaft bösartig. -
Update mittags Patrick Breitenbach hat die Quellenlage in einem langen Beitrag heute sehr schön nachgezeichnet. Ebenso wie Christian Jakubetz im Cicero. Euch beiden danke dafür. /Update

Wenn Gauck konservativer ist als die CDU, dann bin ich das auch. Wenn er für die seit den 90ern verstorbenen CDU-Mitglieder steht, bin ich wohl tot. Er ist sperrig und aus der Zeit gefallen. Aber genau das macht seine Kraft aus.

Er scheint nicht in die bekannten Schubladen zu passen, was einige meiner Freundinnen irritiert. Aber die irritiere ich auch immer wieder. Wahrscheinlich wären einige von denen auch irritiert, wenn sie in der Kohlenstoffwelt mal mit normalen Menschen in ihren Reihenhäusern am Stadtrand reden würden.

Was ich bei Gauck sehe, ist eine Person, die eine Haltung hat, die von sehr weit her kommt und sich in einem langen Leben bewährt hat. Das mag sperrig wirken. So what. Aus nahezu allem, was ich von ihm bisher gesehen und gehört und gelesen habe, spricht der norddeutsche Lutheraner. Eine Lebensform, die vielen sicher fremd ist, die die wenigsten in meinem Umfeld (noch) kennen. Und die eine faszinierende Mischung aus radikalem Haltungs-Konservatismus und politischem Liberalismus darstellt. Für die kennzeichnend ist, dass sie eben jenseits von ewigen Gewissheiten und diesseits von moralischem Rigorismus argumentiert (und schon das Argumentieren an sich ist ja heute vielen suspekt, denen Meinung wichtiger ist als der Diskurs).

Aber vielleicht projiziere ich auch nur wieder meine eigene Haltung und meine eigene Biografie. Was, übrigens, auch ein spannender Effekt sein kann.

Lasst euch nicht vergauckeln

Als er noch chancenloser Zählkandidat der Opposition war, fanden ihn viele toll. Und nun trollen sie rum, teilweise die gleichen. Meine "Timeline" bei Facebook und Twitter brachte im Grunde diese Dinge vor:
1. Gauck sei ein Faschist, weil er gegen die Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze sei.
2. Gauck sei ein rechtskonservativer 50er-Jahre-Typ, weil er erst einmal einen Döner gegessen habe und mit Mulitkulti nicht anfangen könne.
3. Gauck finde Sarrazin gut.
4. Gauck sei von einer Verschwörung aus Springer, Scholz & Friends und Bertelsmann erst gemacht worden.
5. Gauck sei ein Knecht des Großkapitals, weil er Occupy albern finde.

Was mich daran am meisten erschreckt (und ich wähle das Wort, obwohl ich zu geschätzt 60% nicht mit seinen Positionen übereinstimme, die er an der einen oder anderen Stelle formuliert hat), ist die reflexhafte Dummerhaftigkeit und mangelnde Medienkompetenz in diesem Getrolle. Ist es wirklich so, dass unter Leuten, denen ich online gerne folge, weil sie - dachte ich - ähnlich sind wie ich, so viele sind, denen alles jenseits von schwarz und weiß undenkbar ist? Die abgestumpft oder unsensibel genug sind, Zwischentöne und Zerrissenheiten nicht mehr zu sehen? Die nicht erkennen können, dass es einen Unterschied gibt, ob ich Fragen verstehe oder die Antworten darauf teile?

Vielleicht fällt es mir leichter, zu verstehen, was Gauck meint und sagt, weil ich aus einem ähnlichen geistlichen und geistigen Kontext stamme wie er, auch wenn ich aus den gleichen Wurzeln teilweise andere Triebe sprossen ließ. Aber tatsächlich scheint es mir kein Zufall zu sein, dass unter den Gauck-Trollen in meinem politischen und Onlinefreundinnenkreis so viele ideologische Religionsverächterinnen sind. Denn in evangelischen Kontexten, vor allem in deren konservativer Prägung, zu denen ich ja auch gehöre, ist einer der letzten Horte differenzierter Betrachtungen zu Hause. Was an Luthers allzu selten verstandener größten theologischen Leistung liegt: dem pecca fortiter fortius crede, der Unterscheidung der Entschuldung des Sünders von der Entschuldigung der Sünde.

Nach vier desaströsen Präsidenten kann Gauck einer werden, der Impulse und Haltung gibt. Muss nicht, aber kann. Und einiges vom dem, was einige Weggefährtinnen als allzu konservativ fürchten, schreckt mich nicht. Denn aus einer konservativen Haltung eines Gauck muss keine konservative Politik werden. Siehe (historisch) Erhard Eppler. Und eine konservative Politik geht auch ohne konservative Haltung. Siehe (aktuell) Angela Merkel.

Ich teile viele Kritik an Gauck. Aber das, was ich gestern von so manchen Onlinestars gehört habe, war ein erschreckendes Zeugnis mangelnder Medienkompetenz.

Update um die Mittagszeit
/Update

P.S. Ich habe lange hin und her überlegt und schiebe jetzt doch noch einen Hinweis zum Kommentieren nach: an diesem Post werde ich alle anonymen Kommentare löschen. Und ich bitte euch, mich nicht für dümmer zu halten als euch selbst. Ok?

24.4.11

Wendepunkt

Der HERR ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.

Das Lamm ist im Ofen. Und Ostern war in meiner Kindheit immer das Fest, das am schönsten war. Familiengottesdienst im Gemeindesaal an langen Tischen mit gemeinsamem Frühstück, wir Kinder des Kinderchores immer dabei. Später, mit der eigenen Familie, dann gemeinsam mit Freunden und unseren Kindern in die Kirche und hinterher ausführlich frühstücken. Aber trotzdem ist mir schon sehr lange der Karfreitag wichtiger gewesen. Und schöner.

Theologisch ist es immer umstritten gewesen, welches dieser beiden "Feste" wichtiger sei. Für mich war es der Karfreitag, für andere Ostern. Mich hat nachhaltig beeindruckt und auch geprägt wahrscheinlich, wie die frommen Liberalen des 19. Jahrhundert (ja, das gab es, zumindest bei uns im Norden und ein bisschen in Baden und Württemberg) darauf bestanden, dass das Erlösungswerk unseres Herrn auch ohne Ostern komplett ist - gerade weil er bis in den Tod gegangen ist, damit wir leben können. Es war die Verteidigung gegen die Wissenschaftsjünger, damals, als man Wissenschaft noch ideologisch verstanden hat, wie es heute ja nur noch die Pseudowissenschaft tut, also gegen das Argument gerichtet, dass die Auferstehung nicht möglich sei.

Karfreitag ist meiner Überzeugung nach der eigentliche Wendepunkt im Leben. Und das eigentlich unerhörteste an meiner Religion. Denn dass der Heiland aufersteht, geboren wird, heilt und so weiter - das ist religiös sozusagen "normal". Dass er aber bewusst und dennoch klagend in den Tod geht, ist etwas besonderes. Alle Religionen kennen so etwas wie ein Opfer - aber dass sich Gott selbst opfert, und sei es in Menschengestalt, dass Gott das tiefste menschliche Leiden, das möglich ist - Folter, die zum Tode führt - kennt und erlebt hat, ist unglaublich und irrwitzig und unfassbar. Für mich tatsächlich viel unerhörter und unfassbarer als der Sieg von Ostern.

Oder, wie es im Lied von 1659 von Ernst Christoph Homburg heißt:
Nun, ich danke dir von Herzen,
Herr, für alle deine Not:
für die Wunden, für die Schmerzen,
für den herben, bittern Tod;
für dein Zittern, für dein Zagen,
für dein tausendfaches Plagen,
für dein Angst und tiefe Pein
will ich ewig dankbar sein.
(EG 86,8)
Der wunderbarste, tiefste, "religiöseste", ja auch schönste Gottesdienst des Jahres ist darum für mich seit Jahrzehnten schon der zur Sterbestunde Jesu. Mit dem Läuten der einen Glocke (Totenläuten) um 15 Uhr beginnt er, die Orgel schweigt zu diesem Zeitpunkt bereits. Der Gottesdienst ist geprägt von tiefer Stille. Im Zentrum steht das Evangelium. Und es endet mit den Worten, dass Jesus stirbt. Der Altar wird abgeräumt, ein Moment der Stille, Musik, die nur von den Stimmen der Menschen kommt, die im Gottesdienst sind.

Und weil in diesen Gottesdienst mitten am Tag nur die Menschen kommen, denen diese Stunde etwas bedeutet und wichtig ist, herrscht eine besondere Stimmung und Andacht. Wer zur Sterbestunde in die Kirche kommt, weiß, was ihn oder sie erwartet. Gerade an Osterwochenenden wie diesem, mit 25° und strahlendem Himmel.

Die schönsten Gottesdienste zur Sterbestunde habe ich damals erlebt, als ich in der Kantorei Bramfeld war. Ein Jahr nur mit den Männerstimmen, das eine oder andere Jahr mit einer kompletten Passion von Heinrich Schütz, a capella selbstverständlich, so "inszeniert", dass die Sterbeszene der Passion genau um 15 Uhr endet, dann Stille herrschte, die Totenglocke klingt - und der Gottesdienst mit dem Schlusschoral schließt.

Aber auch ganz einfache Gemeindegottesdienste wie in diesem Jahr bei uns im Dorf. Wenn die überraschend große Gemeinde ohne Instrumente die alten Passionschoräle singt. Und wir schweigend den Wendepunkt des Lebens erleben.

Die Feiern des Lebens, die Ostern, auch Pfingsten, und - mit Abstrichen - sogar Weihnachten sind, bleiben mir wichtig. Die Tiefe des Erlösungswerkes meines Gottes und die Befreiung, die auch politische Ermächtigung, die sein Wirken auf der Erde und für die Menschen bedeutet, ist für mich nie tiefer zu spüren und zu erleben als zur Sterbestunde am Karfreitag.

15.4.11

Die hinkende Trennung

Karfreitag. Tanzen. Jedes Jahr die selbe Diskussion. Und jedes Jahr der selbe bigotte Eifer der gleichen Leute, die zwar eigentlich nie Tanzen gehen, es aber genau einmal im Jahr machen wollen.

Witzigerweise war es ja ein Liberaler, Friedrich Naumann, der die so genannte "hinkende Trennung" von Kirche und Staat 1919 erdacht hat. Und damit sind die meisten gut gefahren. Denn das Schutzgebot für Feiertage - um mal das aktuelle Beispiel zu nehmen - hätte auch nur so gefasst werden können, wie es heute für alle religiösen Feiertage gilt, die keine gesetzlichen Feiertage sind: Dass die Ausübung der Religion ermöglicht werden muss. Aber ohne Arbeitsfreiheit für alle. Die Diskussion hatten wir ja neulich in den 90ern noch mal bei der Einführung der Pflegeversicherung. Auch damals war die Diskussion ähnlich bigott. Denn der durchaus ernst gemeinte Vorschlag, den Pfingstmontag statt des Novembermittwochs zu nehmen oder besser noch die beiden (religiös überflüssigen) Weihnachtsfeiertage, erntete nur Entsetzen.

Ich persönlich bin ja dafür, alle kirchlichen und religiösen Feiertage aus den gesetzlichen zu streichen. DANN bin ich auch bereit, über die Anwendung dieser religiösen Feiertage im Alltag zu streiten. Also beispielsweise darüber, ob am höchsten christlichen Feiertag - dem Karfreitag - Alltag sein soll.

Nicht bereit, auch nur drüber zu reden bin ich aber, solange die gleichen, die Karfreitag laute Musik hören und feiern wollen, aber die vier freien Tage im wunderbaren Frühling nutzen und wollen und mögen.

Ihr könnt nicht das eine ohne das andere haben: wenn ihr eure Vorteile aus der Tatsache ziehen wollt, dass unsere Religion mal die Kultur dieses Landes prägte und darum immer noch Feiertagsprivilegien hat, dann müsst ihr auch in Kauf nehmen, dass ein, zwei dieser Tage mit Regeln verbunden sind, die ihr doof findet.

Ich hindere euch schließlich nicht daran, sonntags zu Shoppen oder eure Wäsche aufzuhängen. Selbst wenn ich das doof finde und es mich stört.



12.10.10

Keine Gleichstellung des Islam

Im Nachgang zu Wulffs Feiertagsrede ist einiges in dieser komischen Integrationsdebatte durcheinander gekommen (auch wenn es vorher nicht viel besser war). Die Solidaritätsbekundungen und Staatsverträge für "den" Islam sprießen aus dem Boden. Zeit für ein bisschen Sortierung. Das beste, was ich zu dem Thema bisher gehört (ich konsumiere die "Zeit" ja seit ein paar Jahren als Audiomagazin) oder gelesen habe, stand in der "Zeit" vom letzten Donnerstag. Ulrich Greiner schreibt profund über die Unterschiede zwischen Juden- und Christentum einerseits und Islam andererseits im Hinblick auf personale Freiheit (die der Islam theologisch so nicht kennt) und Säkularismus - politisch vor allem wichtig wegen des Primats der Politik gegenüber der Religion und wegen der Gewaltenteilung. Und Greiner hat Recht, wenn er schreibt:
Diese Gewaltenteilung geht zurück auf das Alte Testament, in dem die Propheten als Sprecher Gottes den weltlichen jüdischen Herrschern oftmals in den Arm fallen. Sie gipfelt in dem Satz von Jesus: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Sie findet ihre Ausarbeitung bei Augustinus und seiner Lehre von den zwei Reichen. Es war der Augustinermönch Luther, der diesen Gedanken gegen eine Kirche stark machte, die ihn vergessen und die politische Gewalt usurpiert hatte.
(Integration: Unser Islam? | Politik | ZEIT ONLINE)
Das Problem geht aber noch tiefer. Und das hängt mit diesem Punkt dann doch auch zusammen. Während die Gründungsurkunden von Judentum und Christentum selbst in der orthodoxesten Auslegung (und hey, ich bin selbst theologisch nahe an der lutherischen Orthodoxie) eben gerade kein über dem säkularen Staat stehendes religiös begründetes Rechtssystem kennen, ist es beim Islam anders. Die Scharia ist für den Islam ewig und unverhandelbar, wie beispielsweise sogar der liberale Vorzeigereformer Großmufti Ceric aus Bosnien betont. Und die Scharia steht immer über jedem anderen (weltlichen) Gesetz. Darum bin ich skeptisch, was die Hoffnung oder Forderung nach einer "islamischen Aufklärung" angeht. Ein Säkularismus hat im Islam keinen theologischen Anker - anders als die Aufklärung, die historisch den modernen Säkularismus in Europa begründet und die aus der Mitte der spätmittelalterlichen jüdischen und christlichen Theologie stammte. Meine Befürchtung ist, dass der Islam an einer Aufklärung zerbräche, die er bräuchte, um "zu Deutschland" (oder zu Europa) zu gehören. Vor allem, wenn man sich ansieht, wie sehr die (europäische) Aufklärung selbst das Christentum zerlegt hat.

Wenn nun beispielsweise in Hamburg ein Staatsvertrag mit "den Moslems" geschlossen werden soll nach dem Vorbild der christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde (obwohl auch diese Verträge gerade in Hamburg erst kürzlich zustande kamen), dann wird das die Nagelprobe für beide Seiten sein: Denn ein halbwegs freiheitlicher Staat, der mit Organisationen Verträge schließt, die sich nicht vorbehaltlos und innerlich zu Gewaltenteilung und dem Primat der staatlichen Gewalt und Organe gegenüber den religiösen bekennt, gibt sich auf. Und ein Islam, der sich zu genau diesem Primat bekennt, beerdigt die Scharia - und läuft Gefahr, sich damit selbst zu verlieren.

Der Islam ist - egal wie groß die Zahl der Menschen in einem Land ist, die sich zu ihm als Religion zählen - in Europa nicht Juden- und Christentum gleichzustellen. Das heißt nicht, dass Moslems nicht "gute Europäer" sein können und überwiegend sind. Das heißt auch nicht, dass Wulff nicht auch ihr Präsident ist, wenn sie denn Deutsche sind (obwohl, ist er mein Präsident? In mehr als einem formalen Sinne?). Das heißt nur, dass ein freiheitliches Rechtssystem, in dem ich leben mag, eben aus den Wurzeln unserer antiken und jüdischen und christlichen Geschichte kommt, die eng miteinander verwoben sind, und nicht aus den Wurzeln des Islam. Denn auch, wenn ich persönlich mein Leben überwiegend an meinem Glauben orientiere, bin ich heilfroh, dass der Staat das nicht tut, sondern positive und negative Religionsfreiheit garantiert. Damit kann ein Islam nicht leben, der sich selbst ernst nimmt. Und darum kann es keine Gleichstellung des Islam in diesem Land geben.


Update 13.10.
Weil Djure fragt, was denn meine Schlussfolgerung wäre, hier noch ein, zwei Sätze dazu.

Auf individueller Ebene halte ich es für gut möglich, dass Moslems sich zum Primat des Staates bekennen können. Auf institutioneller Ebene bin ich da sehr skeptisch. Und mich ärgert sehr, wie in Hamburg der Stand der Verhandlungen zum Staatsvertrag ist: Der Staat billigt dem Islam jede Menge Dinge zu, ohne auch nur eine Gegenleistung zu verlangen. Inzwischen ist es so weit, dass ein führender Vertreter des Islam in Hamburg öffentlich jubilieren kann, Deutschland sei das islamischste Land, das er kenne, er könne hier seine Religion freier ausüben als in der Türkei. Hier ein Videodokument einer entsprechenden Verhandlungstaktik aus dem Sender Phönix.

24.2.10

Es geht nun mal nicht anders - zu Käßmanns Rücktritt

Dass Margot Käßmann von ihren Ämtern zurück tritt und nun nur noch normale Pastorin sein wird, ist richtig und notwendig. Ich persönlich habe schon bei ihrer Trennung von ihrem Mann gesagt, dass sie als Bischöfin hätte zurück treten sollen, aber damit war ich recht allein. Den Anlass damals fand ich sehr viel dramatischer als jetzt die Wein-Fahrt.

Aber es sagt einiges über den Zustand unserer Gesellschaft und unserer Medien, dass eine alkoholisierte Fahrt mehr Erregungspotenzial hat als eine Trennung, die an sich nach allen internen Regeln der Kirche das dramatischere und einschneidendere Ereignis gewesen ist.

Ich mochte sie dennoch. Und weder meine Meinung damals noch jetzt ändern etwas an meiner Wertschätzung für sie, die aus den persönlichen Begegnungen kommt.

Später mehr dazu, jetzt muss ich ins Flugzeug.

30.11.09

Demut und Dankbarkeit

Wenn nacheinander die Hälfte der Familie krank ist, wenn die Arbeit viel ist, das Haus und alles, dann fühlt es sich manchmal an wie Stress, dann ist es manchmal auch mühsam. Und dann kommt das Danken oft zu kurz. Denn bei allem Trubel darf ich, dürfen wir nicht vergessen, wie gut es uns geht.

Dann erschrecke ich wieder, wie es dieses Jammern auf hohem Niveau geben kann, wie uns das passieren kann. Für das kranke Kind, das seit Wochen hustet und nicht zur Schule kann, ist es schrecklich, ja. Aber es hat zwei Eltern und drei Geschwister, die da sind und da bleiben.

Im direkten Umfeld kämpft eine Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern, Ehefrau, Schwiegertochter, mit dem Tod. So geht es seit Jahren und nun hat sie keine Chance mehr: Der gesamte Körper ist unter der Chemo- und Strahlentherapie von Krebszellen zersetzt worden, es geht nicht mehr, sie hangelt sich von Tag zu Tag und hofft für ihre Kinder auf Weihnachten, will das noch unbedingt erleben.

Das Leid, wenn man in ihre Augen und die Augen ihrer Familie guckt, ist unbeschreiblich. Der jahrelange Kampf so grausam und am Ende so vergeblich. Die Verzweiflung der Kinder, die ihre Mutter kaum noch erkennen und Angst vor ihr haben, weil sie so anders aussieht und das Bett kaum noch verlassen kann. Die Stärke der Mannes, der das, was möglich ist, an Leben aufrecht erhält. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass er sein Leben lang getrunken und geraucht hat und sie sterben muss.

Wenn er erzählt, wie sie den Alltag oder was davon übrig ist, zu meistern versuchen, wie sie immer wieder auch einmal Kraft und Ruhe finden, und sei es für ein paar Minuten, dann beschämt mich mein Jammern, wen es zu Hause mal wieder zu wild, zu laut, zu chaotisch ist. Dann rückt das die Perspektive zurecht. Dann lehrt mich das Demut und Dankbarkeit.

Beides kann ich nicht so gut im Alltag, weil ich unruhig bleibe und immer mehr und mehr will. Und beides ist trotzdem wichtig.

Ich habe nach dem Schock, dass es ihr wieder und immer schlechter geht, im Gottesdienst gesessen und gebetet. Und war dankbar, ja wirklich. Und werde mich in Demut üben.

12.4.09

... ist wie ein neues Leben

Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.

Und es war ein schöner Tag, was nach dem grauenvollen Gottesdienst am Morgen nicht zu erwarten war. Am faszinierendsten aber war doch, dass der Garten sich österlich verhalten hat. -

Nicht nur, dass die Kirsche heute im Laufe des Vormittags angefangen hat zu blühen und wir ihr beim Erblühen zugucken konnten, alle Bäume und Büsche sind gerade heute explodiert und hatten am Ende des Tages signifikant mehr Blätter als am Morgen.

Wie das neue Leben aus der Erde steigt, wenn der Winter zu Ende geht und diese merkwürdige Übergangszeit, in der die Natur im Wartestand ist (wer hat das neulich so schön im Blog geschrieben, ich hab diese Formulierung irgendwo gelesen Edit: Markus Siepmann wars, auf Twitter), das ist wie Ostern. Viel mehr als die Eier und das Suchen und sehr viel mehr als ein blutleerer und geistlich armer Gottesdienst.

Ich fühle mich erfüllt.

9.3.09

Ein Portal entsteht

Erst war ich nur neugierig, wer denn da hinter evangelisch_de twittert. Muss ja irgendwas mit meiner Kirche zu tun haben. Und dann hab ich mit ihr telefoniert und ein bisschen was erfahren, was da am Entstehen ist. Denn dass unter evangelisch.de etwas entsteht und es nicht dauerhaft auf die offizielle Kirchenseite umgeleitet werden wird, scheint klar.

Und nun kann man beispielsweise auf flickr dem Entstehen des Portals zugucken:



Das finde ich gut - auch wenn es noch sehr - hmm - topline ist, was da in den Collagen zu sehen ist. Aber irgendwie ist es klasse, damit wenigstens ein bisschen aus der Ferne dabei zu sein, denn mich interessiert es ja doch immer noch sehr, was da im Dunstkreis der evangelischen Publizistik entsteht. Und nach und nach übernehmen jetzt auch Menschen Kommunikationsaufgaben, die selbst auch partizipativer denken und handeln.

Ich freu mich auf das, was da kommt....