Kaum jemand (mal abgesehen von Ursula von der Leyen) ist stärker verantwortlich zu machen für das Hauptproblem der Grünen als die beiden. Und darum sollen sie die erste wichtige Wahlkonsequenz auch verantwortlich tragen: das erwartbar nur mittelgute Abschneiden bei der Bundestagswahl und den Einzug der Piraten ins Parlament.
Denn so wie Helmut Schmidt der wichtigste Geburtshelfer der Grünen war, weil er für viele moderne Linke und eine sich über die Anti-Atom- und Friedensbewegung politisierende Generation habituell und auch inhaltlich altbacken und unwählbar daher kam, so gilt dieses heute für Claudia Roth und Jürgen Trittin (und mit ihnen für die allermeisten führenden Grünen). Sie stehen so sehr für die alten Grünen der 90er und 0er Jahre, sie sind in Politikstil, Habitus und ihren inhaltlichen Schwerpunkten so sehr der Grund, warum jene Menschen nicht den Weg zu den Grünen fanden, die sich angesichts der Zerstörungsversuche von Frau von der Leyen im Lebensraum unserer Generation politisiert haben. Nicht einmal die, die inhaltlich passen würden (was ja nun beileibe nicht für alle, vielleicht nicht einmal für die meisten Piraten gilt).
Nessy fasst das in ihrem Blog unter dem Titel Liebe Generation meiner Eltern wunderbar zusammen. Ich denke, und schrob das ja auch bereits, genau so können wir verstehen, was da passiert. Wer immer glaubt, die Piraten und ihre Erfolge inhaltlich begründen oder inhaltlich "bekämpfen" zu können, sollte Nessys Text dringend lesen. Denn wer auch nur einmal mit Piraten zu tun hatte, weiß, dass ihr Erfolg nichts, aber auch gar nichts mit Netzpolitik zu tun hat. Und das, obwohl (ja, das klingt komisch, aber so ist es) der Anlass der Politisierung und auch der ursprüngliche Grund, sich die Piraten überhaupt mal anzusehen, für die meisten mit Netzpolitik zu tun hat.
Claudia Roth ist bei den Grünen sehr beliebt. Aber Grüne haben schon mit ihren Wählerinnen kaum etwas gemeinsam – geschweige dann mit neuen Gruppen, die lebensweltlich ganz anders verortet sind. Jürgen Trittin ist einer der Stars des selbstreferenziellen Resonanzraums der klassischen Medien (TV, Zeitungen). Eines Raumes, der keine Relevanz mehr hat für Menschen, deren wesentlicher Heimatraum „das Internet“ ist. Beide können – gemeinsam oder alleine – die bestehende Basis und Wählerinnenschaft der Grünen mobilisieren. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Und das sollten sie noch einmal tun – um auszuloten und aufzuzeigen, wie groß die Basis für Grüne in diesem Land ist, wenn sie sich nicht weiter entwickeln.
Mit „weiterentwickeln“ meine ich nicht programmatisch – denn da sind sie genau dazu in der Lage. Wer sich für Inhalte interessiert, wird zugeben, dass auf dem Papier die Grünen heute in den Bereichen Urheberrecht, Netzpolitik und Demokratie nicht nur weiter und überzeugender auf die Fragen der Netzbewohnerinnen antworten als jede andere Partei, einschließlich der Piraten.
Grüne haben nicht programmatisch die Anschlussfähigkeit an Gruppen jenseits ihrer seit Jahren stabilen Stammwählerinnenschaft und ihres (bürgerlichen, akademischen, etablierten, recht uniformen) Milieus verloren, sondern lebensweltlich und habituell. Um es einmal zugespitzt zu formulieren: ein Malte Spitz reicht nicht.
Kaum etwas illustriert den Widerspruch grüner Rituale und grünen Spitzenpersonals zu der Lebenswelt von Piraten und ihren Wählerinnen mehr als die für viele überraschenden Personen, die bei den Piraten in Spitzenämter gewählt werden – und wie das geschieht.
Denn nicht etwa schillernde Personen wie Lauer (Berlin) oder Weisband (Bundesgeschäftsführerin) sondern – sorry für die Formulierung – langweilige Spießer wie Baum (Berlin), Nerz (Bund) oder Paul (NRW) gelangen an die Spitze. Eben eher ein Malte Spitz, der als einziges Mitglied des grünen Bundesvorstandes kaum bekannt ist, als eine Claudia Roth. Inhaltliche und persönliche Kompetenz anstatt Eloquenz und Medientauglichkeit.
Ja, das liegt an den „Akzeptanzwahlen“ der Piraten, und an die habe ich durchaus auch sehr ernste Anfragen. Aber diese den Grünen fremde Art der Basisdemokratie, die ja nichts mit Inhalten zu tun hat sondern mit Politikstil und mit einer anderen als unserer Vorstellung von Partizipation, macht einen gewaltigen Unterschied in der Haltung zu Politik und zu Mehrheiten und zur Meinungsentwicklung aus. Übrigens eine Haltung, auf die die Grünen nach dem Ende der Flügel ja durchaus auch hätten kommen können. Aber nicht kamen (was keine Kritik ist, sondern nur feststellt, wo habituelle Unterschiede liegen).
Ein weiterer Punkt, der viele ältere Grüne verstören wird, ist der Befund, dass die Piraten erstaunlich wenig ironisch sind und sehr viel ernsthafter und ernster an Politik herangehen als Grüne. Renate Künasts Ausflug in die Westerwelle’sche Spaßparteirhetorik („Piraten resozialisieren“) illustriert das hervorragend. Wer im Internet zu Hause ist, weiß, dass Humor als Humor gekennzeichnet werden muss und dass Ironie nicht funktioniert. Anders als ihre Vorurteile diejenigen vermuten lassen, die soziale Medien von außen beobachten oder – wie Bärbel Höhn – „Internet gucken“, führt die kontinuierliche Interaktion (und nicht das Senden, die es grüne Spitzen gut und erfolgreich beherrschen) eher zu einer tieferen und ernsthafteren Beschäftigung mit Themen als die Konsumption von Politik über die klassischen Medien.
Je mehr Grüne auf die Piraten einschlagen oder sie gar zu den Hauptgegnern der Wahlkämpfe machen, wie es Sylvia Löhrmann für NRW in gnadenloser Hilflosigkeit getan hat (um dann auch noch in Höhn’scher Manier das „wir haben einen jungen Abgeordneten“ nachzuschieben), sollten Claudia Roth und Jürgen Trittin, die Taufpaten der Piratenpartei, auch die Grünen in den Wahlkampf führen.