24.4.11

Wendepunkt

Der HERR ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.

Das Lamm ist im Ofen. Und Ostern war in meiner Kindheit immer das Fest, das am schönsten war. Familiengottesdienst im Gemeindesaal an langen Tischen mit gemeinsamem Frühstück, wir Kinder des Kinderchores immer dabei. Später, mit der eigenen Familie, dann gemeinsam mit Freunden und unseren Kindern in die Kirche und hinterher ausführlich frühstücken. Aber trotzdem ist mir schon sehr lange der Karfreitag wichtiger gewesen. Und schöner.

Theologisch ist es immer umstritten gewesen, welches dieser beiden "Feste" wichtiger sei. Für mich war es der Karfreitag, für andere Ostern. Mich hat nachhaltig beeindruckt und auch geprägt wahrscheinlich, wie die frommen Liberalen des 19. Jahrhundert (ja, das gab es, zumindest bei uns im Norden und ein bisschen in Baden und Württemberg) darauf bestanden, dass das Erlösungswerk unseres Herrn auch ohne Ostern komplett ist - gerade weil er bis in den Tod gegangen ist, damit wir leben können. Es war die Verteidigung gegen die Wissenschaftsjünger, damals, als man Wissenschaft noch ideologisch verstanden hat, wie es heute ja nur noch die Pseudowissenschaft tut, also gegen das Argument gerichtet, dass die Auferstehung nicht möglich sei.

Karfreitag ist meiner Überzeugung nach der eigentliche Wendepunkt im Leben. Und das eigentlich unerhörteste an meiner Religion. Denn dass der Heiland aufersteht, geboren wird, heilt und so weiter - das ist religiös sozusagen "normal". Dass er aber bewusst und dennoch klagend in den Tod geht, ist etwas besonderes. Alle Religionen kennen so etwas wie ein Opfer - aber dass sich Gott selbst opfert, und sei es in Menschengestalt, dass Gott das tiefste menschliche Leiden, das möglich ist - Folter, die zum Tode führt - kennt und erlebt hat, ist unglaublich und irrwitzig und unfassbar. Für mich tatsächlich viel unerhörter und unfassbarer als der Sieg von Ostern.

Oder, wie es im Lied von 1659 von Ernst Christoph Homburg heißt:
Nun, ich danke dir von Herzen,
Herr, für alle deine Not:
für die Wunden, für die Schmerzen,
für den herben, bittern Tod;
für dein Zittern, für dein Zagen,
für dein tausendfaches Plagen,
für dein Angst und tiefe Pein
will ich ewig dankbar sein.
(EG 86,8)
Der wunderbarste, tiefste, "religiöseste", ja auch schönste Gottesdienst des Jahres ist darum für mich seit Jahrzehnten schon der zur Sterbestunde Jesu. Mit dem Läuten der einen Glocke (Totenläuten) um 15 Uhr beginnt er, die Orgel schweigt zu diesem Zeitpunkt bereits. Der Gottesdienst ist geprägt von tiefer Stille. Im Zentrum steht das Evangelium. Und es endet mit den Worten, dass Jesus stirbt. Der Altar wird abgeräumt, ein Moment der Stille, Musik, die nur von den Stimmen der Menschen kommt, die im Gottesdienst sind.

Und weil in diesen Gottesdienst mitten am Tag nur die Menschen kommen, denen diese Stunde etwas bedeutet und wichtig ist, herrscht eine besondere Stimmung und Andacht. Wer zur Sterbestunde in die Kirche kommt, weiß, was ihn oder sie erwartet. Gerade an Osterwochenenden wie diesem, mit 25° und strahlendem Himmel.

Die schönsten Gottesdienste zur Sterbestunde habe ich damals erlebt, als ich in der Kantorei Bramfeld war. Ein Jahr nur mit den Männerstimmen, das eine oder andere Jahr mit einer kompletten Passion von Heinrich Schütz, a capella selbstverständlich, so "inszeniert", dass die Sterbeszene der Passion genau um 15 Uhr endet, dann Stille herrschte, die Totenglocke klingt - und der Gottesdienst mit dem Schlusschoral schließt.

Aber auch ganz einfache Gemeindegottesdienste wie in diesem Jahr bei uns im Dorf. Wenn die überraschend große Gemeinde ohne Instrumente die alten Passionschoräle singt. Und wir schweigend den Wendepunkt des Lebens erleben.

Die Feiern des Lebens, die Ostern, auch Pfingsten, und - mit Abstrichen - sogar Weihnachten sind, bleiben mir wichtig. Die Tiefe des Erlösungswerkes meines Gottes und die Befreiung, die auch politische Ermächtigung, die sein Wirken auf der Erde und für die Menschen bedeutet, ist für mich nie tiefer zu spüren und zu erleben als zur Sterbestunde am Karfreitag.

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