Denn ich denke, Jarvis stellt genau die richtige Fragen:
Ein unaufgeregtes Interview von dctp mit Jeff Jarvis über Privatsphäre im Internet-Zeitalter: Wenn der Penis schrumpft:Was halten wir (als Eltern, als Menschen, als Gesellschaft) für privat und was nicht - und wo soll oder darf ich entscheiden, etwas, das andere für privat halten, von mir selbst öffentlich zu machen? Was sind die Opportunitätskosten der einen oder der anderen Entscheidung? Warum soll es ok sein, dass andere mich kritisieren, wenn ich etwas von mir öffentlich machen, was sie von sich nicht öffentlich machen (wollen/ würden)? Was gewinne ich und was verliere ich? Ist die "default privat" Haltung, die bei Menschen über 35 in diesem Land mehrheitlich vorzuherrschen scheint, wirklich besser als die "default public" Haltung, die ein großer Teil der Jüngeren hat und die in anderen Kulturen schon länger gilt? Und ist die kulturelle Kontingenz von Privatheit in der gesellschaftlichen Übereinkunft, die unbestreitbar ist (siehe nur Schweden, Deutschland, USA und ihre jeweiligen Konzepte dazu), ein unbedingt zu erhaltender Zustand? Oder wird sich das Thema in dieser Form absehbar biologisch erledigen?
Von mir noch zweieinhalb Ergänzungen aus der Erfahrung von siebeneinviertel Jahren Selbst
Ich bin mir sicher, dass wir zurzeit in einer Umbruchzeit leben, nicht nur, was die Kulturtechniken von Publizieren und Rezipieren, sondern auch, was die "default"-Einstellungen im Bereich privat/öffentlich angeht. Und entweder wir verabschieden uns aus dieser Diskussion, indem wir unsere eigenen Ideen für alle verbindlich machen wollen (die anderen aber mit den Füßen abstimmen und eben zu Facebook gehen, mal beispielsweise) - oder wir nehmen an ihr teil und versuchen, die neuen gesellschaftlichen Regeln mitauszuhandeln. Eine Mauer zu bauen, um noch einmal ein Bild von Jarvis aus dem Interview aufzunehmen, wird jedenfalls auf Dauer nicht helfen.Es ist definitiv ein Unterschied, ob ich entscheide, was ich von mir preisgebe, oder jemand anders das für mich tut, sei es der Staat oder Menschen, denen ich privat etwas erzählt habe. Wenn ich aber entscheide, etwas preiszugeben, dann werde ich auch damit leben (müssen), dass es preisgegeben ist - dass es also auffindbar ist. Den Punkt spricht Jarvis ja auch an im Interview. Bevor ich die Entscheidung anderer über ihre Haltung zu Privatheit oder Öffentlichkeit kritisiere oder gar verdammt, sollte ich ihnen zuhören und sie fragen, ob sie wissen, was sie tun. (Denn ja, Menschen, vor allem junge und sehr junge Menschen, müssen davor geschützt werden, unwissentlich in die Öffentlichkeitsfalle zu tappen - aber sicher nciht, indem ich sie an Öffentlichkeit hindere, wie es zurzeit viele wollen, sondern eher, indem ich ihnen helfe, die Entscheidung für oder wider Öffentlichkeit bewusst zu treffen.) Und als halben Punkt und quasi als ceterum censeo: Es gibt im Internetz immer noch keinen Lesezwang. Wenn mich also mein Neffe kritisiert, weil er nicht wissen will, wann ich in die Sauna gehe, dann ist seine Schlussfolgerung, ich soll nicht via Twitter sagen, dass ich in die Sauna gehe, absurd - denn er müsste ja nicht zuhören.