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1.11.22

Protest

Ich bin bei den Klimaprotesten und vor allem den Aktionen der letzten Zeit, die Kunst so derangieren wie meine Generation das Klima und die Erde derangiert, unentschieden. Eigentlich. Aber die Reaktion der meisten, auch vieler, die ich sehr schätze, lässt mich inzwischen in die „leuchtet mir ein“ Ecke tendieren. Warum? 

Es ist wie bei den London Riots damals: Tone policing und „könnt ihr nicht friedlich demonstrieren“ geht leider grundsätzlich fehlt. Hallo? Was machen die denn bitte seit Jahren? Wie war der Effekt? Was diese Aktionen zumindest deutlich machen, ist genau das, was nach dem, was ich darüber gelesen habe, auch das ist, was sie deutlich machen sollten aus Sicht der Aktivist*innen: dass „uns“ Kunst wichtiger ist als Zukunft. 

Wenn „wir“ so hart reagieren würden auf Menschen und Unternehmen und Regierungen und Parlamente, die die Natur zerstören, wie auf die, die Kunst zerstören, wäre sehr viel gewonnen. So wie zum ersten Mal auf die jungen Leute gehört wurde, als sie Geschäfte plünderten - nachdem sie vorher wochenlang ungehört demonstriert hatten. Es ist eben gerade NICHT absurd, einen Aufstand als nächste Stufe nach Demonstrationen zu sehen. 

Ich persönlich würde das nicht machen, bin aber auch mehrfach privilegiert und finde auch Gehör. Davon muss ich aber imho absehen, wenn ich darüber nachdenke, ob es politisch „sinnvoll“ ist, was hier passiert (was nichts über Legalität sagt). Immerhin, und das leuchtet mir in seiner Symbolik ein, „trifft“ es etwas, das Menschen wichtig ist (und ihre Reaktion zeigt ja, dass es ihnen wichtig ist), die etwas gegen den Klimawandel tun könnten. Durch ihre Wahl und durch ihr Verwaltungs- und Wirtschaftshandeln. Es trifft vor allem solche aus dem liberalen Bürger*innentum, die sehr oft sehr zustimmend nicken und reden zu den Forderungen rund um Klimaschutz – aber bei denen ganz überwiegend außer auf persönlicher Verhaltensebene nichts folgt. Politisch. 

Was wir nicht wissen, weil es dazu m.W. bisher keine Daten gibt (erste sprechen aber offenbar eher dafür als dagegen), ist, ob es dem Anliegen nutzt. Ich kann es trotzdem Kakke finden, was die da machen. Ich persönlich finde es auch falsch. Aber das heißt nicht, dass es politisch falsch ist.

26.1.13

Derailing und die Lämmerfrage

Dass der direkt unter der Oberfläche der Wahrnehmung brodelnde Zorn von vielen Frauen über den alltäglichen Sexismus in der Nacht von Donnerstag auf Freitag unter dem Stichwort #aufschrei sich auf Twitter entlud und seitdem nicht zur Ruhe kommt, ist gut, finde ich. Dass damit eine Diskussion beginne, ist allerdings falsch. Für viele Menschen mag es so scheinen - insbesondere, wenn sie sich nie mit Feminismus beschäftigt haben oder - als Mann - noch nie damit konfrontiert wurden. Aber das, was gerade passiert, ist eigentlich nur, dass eine jahrelange Diskussion in die medial verstärkte Wahrnehmung der breiten Masse gespült wird.

Oder, wie Antje Schrupp (wieder einmal) passend beschrieb: Es zeigt, wie auf einmal "Lappalien" relevant werden (Anmerkung: Lest wirklich mal den verlinkten Beitrag, nicht umsonst ist Antje Bloggerin des Jahres 2012).

Und ehrlich gesagt, ist mir angesichts des Themas egal, dass der Anlass (nicht die Ursache - der Unterschied ist wie bei fast allem, was passiert, immens wichtig) eine Geschichte im "Stern" ist, die die eine oder andere sogar zu Recht ob Tonalität und Agenda kritisiert hat. Nach meiner Wahrnehmung war übrigens keineswegs die Brüderle-Geschichte der Anlass für den Aufschrei - sondern die Reaktionen einiges alter Männer on- und offline. Denn erst als der Minister Hahn (Hessen) und andere über den Tabubruch schwadronierten (wobei sie merkwürdigerweise nicht den Tabubruch Brüderles meinten sondern den Tabubruch der Journalistin), kanalisierte sich der Zorn. Denn genau diese Reaktionen sind es, die den Kern des Alltagssexismus in diesem Land ausmachen. Derailing - Ablenkung.

Ähnlich dann gestern der mir auch vorher schon unerträgliche Norbert Bolz (mit dem ich letztes Jahr einen Abend am Referententisch einer Veranstaltung zubrachte, was meine Meinung über ihn nun mit einer aus eigenem Erleben bezogenen Realität bestätigte), der auf NDR-Info Laura Himmelreich vorwarf, die Spielregeln verletzt zu haben, da Politiker ein Recht darauf hätten, dass nicht alles in die Öffentlichkeit kommt, dass sie einen Schutzraum hätten. Was er damit mindestens in Kauf nimmt: Dass alte Böcke in diesem "Schutzraum" Grenzen übertreten.

In dieses Klima hinein unsortiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität eigene subjektive Erlebnisse zu schreien, die eine als Übergriff empfunden hat, ist der Kontrapunkt, der gefehlt hat, um unsere langjährige Diskussion in die Öffentlichkeit zu spülen. Dass die Diskussion nicht neu ist, wissen vielleicht nur die, die sie vorher führten. Mein eigener erster Blogbeitrag sozusagen zu #aufschrei stammt beispielsweise vom 22.8.2012 und klingt trotzdem so, als sei es gestern geschrieben worden.

Und darum habe ich mich über den in meiner Ecke des Internets sehr viel verlinkten und kommentierten und beklatschten Blogeintrag von Meike Lobo gestern auch sehr geärgert. Kurz gesagt: Weil ich glaube, dass sie sich, auch wenn sie es nicht will, faktisch am Derailing beteiligt. Dass sie sehr viel Lob von den Männern meiner Timeline bekommt, die vorher schon auf der Linie von Hahn, Edathy und Kubicki argumentierten (und von denen ich einige mag und schätze, weshalb es mich so besonders bestürzt), will ich ihr nicht vorwerfen, finde ich aber auch nicht überraschend.

Denn sie hat im Prinzip völlig Recht mit allem, was sie schreibt. Und dennoch mit vielem auch gar nicht. Ja, Veränderungen sind immer am besten im Dialog möglich. Und ja, selbstverständlich wäre es toll und würde den Veränderungsprozess massiv beschleunigen, wenn Frauen nicht Lämmer sind (wie Meike behauptet) sondern Löwinnen, die Männer und andere, die ihnen sexistisch kommen, direkt in die Schranken weisen. Die Männern sagen, was sie sich wünschen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich ganz anders aufgewachsen bin, ganz anders sozialisiert wurde - aber genau das habe ich mein Leben lang erlebt. oder glaubt irgendwer, ich wäre von allein darauf gekommen, was mit Patriarchat und Sexismus nicht stimmt? Ich habe Lämmer erstmals kennen gelernt, als ich schon einige Jahre im Beruf stand und erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche vollständig verließ. Da ich in einer feministischen und materialistischen (im ideologischen Sinne, nicht wie es heute verwendet wird) Gemeinde und Gemeinschaft aufgewachsen bin, in der Frauen und Männer sehr darauf achteten, dass Übergriffe benannt werden, und in der schon in meiner Jugend eine (so hieß das damals bei uns) geschlechtergerechte Sprache genutzt wurde, war mir wahrscheinlich tatsächlich vieles schon klar. Und habe ich gelernt, auch in der politischen Arbeit, dass die verschiedenen Formen von Protest und Anstoß ihren Raum haben und ihre Zeit.

Ich halte den Blogpost von Meike Lobo in all seiner "Richtigkeit" dennoch für manipulativ - und allein denen nützlich, die sich der Diskussion über Sexismus und den notwendigen Änderungen im Verhalten von Frauen und - vor allem - Männern nicht stellen wollen. Zur Mechanik dieser Manipulation schrieb ich ja erst gerade.

Vor allem aber verkennt Meike das Thema Herrschaft und Asymmetrie in Beziehungen meines Erachtens völlig. Oder sie hält es nicht für relevant oder existent, das weiß ich selbstverständlich nicht. Nur: Ich halte es für extrem wichtig, siehe auch meinen alten Täter-Blogeintrag. In einer asymmetrischen Beziehung von denen, die "unten" sind, den ersten Schritt der Versöhnung zu verlangen, halte ich für politisch naiv und strategisch falsch.

Das Erratische und - da bin ich ganz bei Meike - von jeder von uns sicher unterschiedlich relevant oder übergriffig Gesehene an den kurzen Geschichten auf Twitter zum #aufschrei hat für Männer meines Erachtens vor allem eine Funktion und stellt sie vor eine Aufgabe: Zunächst einmal zuzuhören. Und ohne (Ab)wertung anzunehmen, dass - von den Spaßvögeln abgesehen - hier unterschiedliche Frauen ganz unterschiedliche Dinge und Verhaltensweisen als Übergriff empfinden.

Aus einer von Herrschaft und Asymmetrie geprägten Situation gibt es im Grunde zwei Wege, wenn die "unteren" es nicht mehr aushalten (wollen) - entweder die Revolution, also die Gegengewalt. Oder der Verzicht der Herrschenden. Aber nie und nimmer - hier bin ich komplett anderer Meinung als Meike - das einfache Gespräch.

#Aufschrei macht Sexismus als Form der Herrschaft von Männern über Frauen sichtbar. In Schutzräumen (wie damals bei uns in den evangelischen Kirchengemeinden) können wir ein neues Zusammenleben sicher ausprobieren, dass es geht, haben wir seit den 70ern gezeigt. Aber als gesellschaftliches Thema wird es, davon bin ich überzeugt, nicht durch eine Lämmer- oder Löwinnenfrage gelöst werden. Sondern entweder von Männern durch Verzicht und Achtsamkeit. Oder von Frauen durch Verweigerung und Gegengewalt. Beides finde ich ok. Verzicht und Achtsamkeit für mich allerdings den besseren Weg. Vielleicht, weil ich in den hineingewachsen bin in den 80ern und 90ern. Vielleicht, weil ich erleben durfte, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlt. Vielleicht weil ich keine Lust auf Gewalt habe.