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21.7.25

Faschismus ist toll

Während meines Studiums hatte die große Freude, zweimal an Sommerakademien der Studienstiftung teilzunehmen. Von beiden Themen und dem Arbeiten mit absoluten Top-Leuten profitiere ich noch heute, was sicher auch daran liegt, dass es jeweils ein Thema war, das sich zwanzig Studierende aller möglichen Fachrichtungen für die Ferien selbst ausgesucht hatten. Bei mir war es einmal meine allererste Beschäftigung mit Wirtschaftsethik. Und ein anderes Mal ging es um Visionen für Städte, Architektur und so weiter. Beim Leiter der damals aktuellen IBA und bei einem der tollsten Architekturhistoriker überhaupt. Neben meiner sehr kontroversen Liebe für Architektur und Städtebau der 50er habe ich von ihm vor allem gelernt, warum so irre viele Architekten (ich glaube, da gab es quasi keine Frauen in der Gruppe Speer, oder) Faschismus großartig fanden und finden. 

Und das ist ja auch logisch und der gleiche Grund, wieso so viele Milliardäre und Großunternehmen dieses Jahr innerhalb von weniger als sechs Monaten vollständig auf Faschismus gesetzt haben. Warum so viele von ihnen finden, dass Faschismus toll sei.

25.6.24

Gen X

Offenbar, wenn ich das richtig gehört habe, gibt es einen lustigen Streit zwischen Millennials und Gen Z auf TikTok oder so. Mir egal, ich verstehe beide nicht. Abgesehen davon, dass meine Kinder dazugehören, die einen so, die anderen so. 

Aber vielleicht kommt so dieser Faden zustande, den ich gestern las. 

31.1.24

Reif

Schon lange interessiere ich mich nicht mehr für Fußball. Irgendwann kurz nach 2006 war das bei mir vorbei. So lange mein Großer noch spielte, war ich hin und wieder mal mit ihm irgendwo. Und so lange mein Opa noch lebte, habe ich das eine oder andere aus dem Augenwinkel verfolgt, weil ich mich darüber mit ihm, dem Fußballspieler, dem "Bomber von Barmbek", dem so sehr unter dem Niedergang des HSV leidenden, unterhalten können wollte. Dann hörte ich noch den 11-Leben-Podcast, aber da ging es ja nicht wirklich um Fußball.

Aber ich bin ja mit Marcel Reif aufgewachsen. Beckmann später habe ich ja wirklich gehasst als Kommentator, aber Marcel Reif war immer da. Zumindest fühlt es sich so an. Ich weiß ja nicht wirklich irgendwas darüber. Könnte nicht mal sagen, ob ich ihn als Kommentator gut fand, das waren ja damals keine Kategorien, in denen ich fernsah.

12.11.23

Nie wieder ist jetzt

Rund 150 Menschen auf dem Marktplatz, eine Kerze im Vordergrund

Nach nicht mal einer Woche, in der wir die Idee hatten und dann die Umsetzung planten, fand also am 9. November die Mahnwache statt. Es kamen dann rund 150 Menschen in Eutin auf dem Marktplatz zusammen, um eine überwiegend schweigende Mahnwache gegen Antisemitismus und für Solidarität mit jüdischem Leben hier und in Israel zu halten. Ich war, ehrlich gesagt, überwältigt. Vor allem, weil ich vorher, als ich die Initiative ergriffen hatte, gar nicht einschätzen konnte, wie die Resonanz wäre. 150 in einer so kleinen Stadt wie Eutin mit einer Einladung, die gerade einmal drei Tage vorher losging und fast nur über Medien passierte, finde ich wirklich toll. 

6.11.23

Man müsste mal

Müsste wirklich mal. 

Müsste mal was tun. 

Ist irgendwie wichtig.  

So ging es mir mal wieder, wie wahrscheinlich vielen anderen auch. Gute Ideen, der kurze Impuls, etwas zu tun. Flagge zu zeigen, die über einen empörten Post irgendwo online hinausgeht. In den allermeisten Fällen bleibt es, zumindest bei mir, bei diesem kurzen Impuls. Aber letzte Woche war das anders. Und so habe ich am Freitag zum ersten Mal selbst eine Versammlung beim Ordnungsamt angezeigt. Für kommenden Donnerstag, den 9. November.

4.7.23

1923

Beim Herrn Buddenbohm hatte ich über das Buch gelesen und mir dann ebenfalls direkt das Hörbuch gekauft: Volker Ullrichs Buch über das Krisenjahr 1923.  Die Idee, ein Jahr genau hundert Jahre später noch einmal nachzuhören, finde ich mega. Seit einigen Tagen höre ich es nun bei der Hofarbeit und auf dem Trecker.

Faszinierend finde ich vor allem, wie wenig ich über dieses Jahr und die Situation weiß. Die meisten Namen sagen mir etwas, die dort handeln. Auch einige grobe Zusammenhänge. Aber das meiste ist neu und etwas anders als ich dachte. Besonders irritierend finde ich, dass mir die Rolle des Militärs in dieser mittleren Phase der Republik gar nicht klar war. Oder dass Bayern auch damals schon rechtsradikal, Sachsen aber richtig links war. Wie merkwürdig Friedrich Ebert agierte, wo Stresemann herkam. Wie genau die Unternehmer der Schwerindustrie handelten.

20.6.23

Realität

Manchmal frage ich mich, ob ich der einzige bin, der manchmal denkt, wenn er Nachrichten aus der US-Politik hört, dass es um President Dalton geht. Wobei mit der inzwischen sechsten Staffel langsam die Trauerphase einsetzt, darüber, dass es fast vorbei ist.

Jedenfalls ist Madame Secretary für mich ein ziemlich immersives Erlebnis. Das geht mit nicht immer so mit intensiven Geschichten, aber doch immer wieder. Es ist irgendwie so haarscharf an der Realität, wie es sich ein Mensch, der sich für Politik doll interessiert, vorstellen kann. Und als jemand mit erwachsen werdenden Kindern, der dazu noch Theologe ist, habe ich so viele weitere Anknüpfungspunkte. Vielleicht liebe ich es darum so. 

Nur, dass ich ein bisschen aufpassen muss, es nicht mit der echten Realität zu verwechseln. 

13.4.23

Ratten

Also eigentlich ist der Titel dieses Textes brutal falsch und mies und ich distanziere mich ausdrücklich von ihm. Darum habe ich ihn gewählt. Denn es war ein wichtiger Teil dessen, wie die Nazis in den späten 20ern und den frühen 30ern die Zustimmung der konservativen Mehrheit der Deutschen organisierten. Indem sie von Ratten und Läusen und Asozialen und Arbeitsscheuen fabulierten. Also unter anderem. 

Diese Woche war ich in unserem Dorf in einem Vortrag in unserem Kulturverein, in dem der Leiter der Gedenkstätte Ahrensbök über die frühen Jahre der "Zustimmungsdiktatur" hier im Landkreis erzählte. Denn was ich nicht wusste: Hier, im Landesteil Lübeck des Fürstentums Oldenburg (was unsere Gegend bis zum Großhamburggesetz 1937 war), hatte die NSDAP die absolute Mehrheit in Wahlen gewonnen, lange bevor die Konservativen sie in die Reichsregierung brachten. Hier wurde mit dem ersten Nazi-Regierungspräsidenten, der aus meinem Dorf stammte, schon mal die kommende Diktatur eingeübt, schon 1932 die SA zu Hilfspolizisten gemacht, ausgetestet, wie weit sie gehen konnten, ohne die Zustimmung der Menschen zu verlieren. Ergebnis: sehr weit. 

Was, wie wir heute recht genau wissen, zu der großen Zustimmung geführt hat und dazu, dass die ersten frühen Konzentrationslager mitten in den Kleinstädten unter den Augen der Menschen eingerichtet werden konnten, von denen alle wussten, war, dass die Nazis eben an die Mehrheitsmeinung ("das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen") mit ihren Ängsten und Hoffnungen anknüpfen konnten. Und weil es quasi keine organisierte Arbeiter*innen-Bewegung gab hier im bäuerlich und handwerklich geprägten Land, gab es auch keine Widerstände. Der örtliche Frauenarzt war der Chef der NSDAP, die Kirche hart antisemitisch und chauvinistisch, die Intellektuellen für die harte Hand gegen – eben – die Ratten, Läuse, Arbeitsscheuen, Asozialen. Hier bei uns brauchten die Nazis die Konservativen nicht als Koalitionspartner*innen. Hier wählten die Konservativen die Nazis direkt. Und stimmte die überwiegende Mehrheit der Menschen dem Kurs von "Latten-Böhmcker" zu und war von ihm begeistert.

Daran musste ich heute denken, als ich über die in der "Zeit" dokumentierten politischen Positionen von Springer-Chef und -Mitbesitzer Matthias Döpfner las (Text hinter der Paywall. Auszüge hat der Spiegel abgeschrieben und ebenfalls hinter seine Paywall gestellt, was schon ein ziemlich rattiges Verhalten ist, weshalb ich es nicht verlinke). Nichts davon überrascht jemanden, die sich mit der Zustimmung der konservativen Mehrheit zu den Nazis beschäftigt haben. Weshalb die Forschung ja von den 30ern als Zustimmungsdiktatur in Deutschland spricht.

Wer einmal mit Menschen aus der Schicht von Döpfner in einer Form zusammen war, in der sie dachten, unter sich zu sein, wird nie wieder überrascht sein, nur entsetzt und verängstigt, wenn mal wieder so was wie die wirkliche Überzeugung dokumentiert wird. So ging es mir mehrfach seit 2015. Seid nicht so naiv, zu glauben, dass ein signifikanter Teil der akademisch gebildeten ökonomischen Führungselite dieses Landes bereit wäre, die liberale Demokratie zu verteidigen, wenn ein autoritäres System ihren Interessen dient. Denn darum findet Döpfner ja den Klimawandel prima. Er nutzt ihm.

29.4.22

Geschichten

EIn Stapel alter Bücher (lizenzfreies Bild)

Als ich darüber nachdachte, wieso mich ausführlich erzählte Miniserien gerade so faszinieren (nicht alle, aber doch erstaunlich viele), bin ich in Gedanken sehr viele Bücher, Hörbücher, Podcasts, Serien, Filme durchgegangen, die mich im Laufe meines Lebens gefesselt und begeistert haben. 

Beispielsweise kann ich mich kaum noch an Anna Karenina erinnern, weiß aber noch, dass ich es mit 12, als ich es aus dem Keller der Bücherhalle holte, verschlungen habe, ohne mir während der Lektüre auch nur einen der russischen Namen zu merken. Ich habe versucht, die Figuren über das Schriftbild der Namen auseinanderzuhalten.

Etwas anders war es mit dem Kampf um Rom, ein ähnliches Alter bei mir, ich hatte immer mal wieder überlegt, es noch mal zu lesen (aber spätestens, als ich versuchte, meinen Kindern was von Karl May vorzulesen, bin ich davor zurück geschreckt, weil mich schon bei den Büchern fast überrascht hat, dass aus mir ein woker Mensch werden konnte bei solcher Lektüre).

Es gab eine Zeit, in der ich die Romane da unten im Keller jener Bücherhalle nach der Dicke der Bücher auswählte, damit ich länger etwas von der Geschichte habe. Obwohl ich nie ein schneller Leser war, fand ich es immer schon schade, wenn ich aus der Geschichte wieder auftauchen musste.

Bis heute lese ich nicht gerne Sachbücher. Hören ist ok, habe ich gemerkt, da stört es mich nicht, dass sie keine Geschichte erzählen. Aber eigentlich mag ich vor allem Geschichte. Womit wir wieder am Anfang wären.

Ein gut durcherzählter Roman lässt mich in die Geschichte eintauchen. Und gut durcherzählt meint nicht, dass es nur klassische erzählt sein muss. Nur eine Geschichte habe ich gern. Aber auch Episoden, moderne Erzählformen oder so was wie im Film 8 Blickwinkel kann mich begeistern. Wenn mich die Geschichte in sich hineinzieht.

Eine Geschichte ist es, die mich zum Nachdenken bringt, die mir Inspiration bringt, die mich selbst kreativ werden lässt. Mit einer Geschichte kann ich mich entdecken, kann ich Emotionen durchleben, mich in ihren Protagonist*innen sehen. Geschichten treiben mich. 

In den letzten Jahren geht mir das nicht nur mit Büchern so (mehr Hörbüchern, nur ungekürzte) sondern zunehmend mit Podcast-Miniserien und Film-Miniserien. Beides ist für mich das Pendant zu Romanen in anderen Medien und Erzählformen. Sechs, acht, zehn Folgen, die sich Zeit nehmen, einem Thema in einer Geschichte oder Personen in einer Geschichte wirklich einmal ausführlich nachzuspüren. Nicht zu hetzen (darum auch nur ungekürzte Bücher). Aber eben auch nicht, wie bei klassischen Serien, in die Unendlichkeit und damit auch leider oft irgendwie Beliebigkeit abzudriften. Und, ein Nebenaspekt, ich bewundere, wenn es Autor*innen gelingt, Geschichten-Serien abzuschließen (auch wenn ich trotzdem irgendwie immer traurig bin, wenn es vorbei ist). Seit Sjöwall/Wahlöö liebe ich darum Krimireihen, in denen sich die Hauptfiguren weiterentwickeln.

Und vielleicht liebe ich das Geschichtenerzählen, auch in der kleinen Form, so sehr, weil ich Geschichten so sehr liebe. Es gab nur sehr wenig Zeit in meinem Leben, in der ich nicht parallel zum Leben auch eine Geschichte "durchlebt" habe, ist mir bewusst geworden. Heute mehr in der Form von Filmen (als Miniserien), aber immer eine Geschichte. Ich brauche Geschichten, um zu leben.

17.2.22

Die Flut

Wer in Hamburg geboren oder aufgewachsen ist, hat mindestens geliehene Erinnerungen an DIE FLUT. Diese Nacht 1962. Vielleicht ist es deshalb so gruselig-faszinierend, die quasi-live Nacherzählung auf Twitter mitzuverfolgen, während um mich herum der heftige Wind geht, ich Sorge habe, dass diese Esche da, bei der das Eschentriebsterben schon etwas weiter ist, auf unser Haus stürzen könnte, und es auf unser Blechdach trommelt. 

Die Verehrung für Helmut Schmidt, die meine vier Großeltern empfanden unabhängig von ihrem Wahlverhalten, kommt aus dieser Nacht. Das war sehr tiefe und echte Dankbarkeit. Und seit ich zur Freiwilligen Feuerwehr gehöre, verstehe ich es noch mehr, weil ich Krisenstäbe und Entscheidungen „von unten“ erlebe. 

Aufgewachsen bin ich in einem Stadtteil, in dem es eine Siedlung gab, die für Menschen in aller Schnelle hochgezogen worden war, die in DER FLUT alles verloren hatten. Das Altenpflegeheim in der Mitte dieser Siedlung war von der Flutopferhinterbliebenensiftung. Was und warum das so heißt, war mir lange nicht klar. 

Hamburg Sturmflut 1962, überflutete Siedlung in Wilhelmsburg
Gerhard Pietsch, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Jedes Kind kannte diese tatsächlich recht eleganten 1962-Unterstrich-Dingens aus dunklem Metall, die überall an den Häusern und Wegen unten an der Elbe angebracht waren, wo wir am Sonntag spazieren gingen und meine Schwester und ich auf dem Mäuerchen balancierten und in diesen einen Baum kletterten, der vom „Strand“ über die Mauer ragte. 

Dann kam 1976 ein zweites Pegelstanderinnerungszeichen dazu. An 76 kann ich mich erinnern, weil wir unten waren, bevor da alles aufgeräumt war. Mein Vater war beim Aufräumen dabei, weil er seinen Ersatzdienst bei so einer ulkigen Einheit machte, die irgendwie zur Feuerwehr gehörte, aber eigentlich nur den Atombunker in Langenhorn bewachte oder so. Darum jedenfalls war er „in der Heide“, damals als die brannte. Und eben beim Aufräumen. Ich war froh, als Kind, dass er erst dann hin musste. Denn als er in der Nacht alarmiert wurde und sozusagen Reserve war, hatte ich Angst. Denn ich kannte die Geschichten von 62. Meine Kahlbohm-Großeltern und meine Mutter wohnten ja oben auf dem Geestrücken in Horn, wo sie runter gehen konnten zum Hafen und nach Billbrook. 

Ich wusste im Grunde nichts über DIE FLUT. Und kann mich nicht mal daran erinnern, ob wir es in der Schule hatten. Wahrscheinlich ja, spätestens, bevor wir nach Neuwerk fuhren auf Klassenreise. Vielleicht auch schon, als wir in Moorwerder auf Klassenreise waren? Das war ja 1977. 

Aber die Erinnerung war trotzdem als geliehene da. Tief unter der Oberfläche. Osmotisch. 

21.10.21

Unsortierte Gedanken zum #Fackelgate

Cross Lighting 2005 

Ich mag keine Fackelzüge. Mochte ich noch nie. Auch nicht den zu Weihnachten aus den Rändern des dörflichen Stadtteils zur Kirche. Mich erinnert ein Fackelzug immer an die Prozession am Ende von Inquisitionsprozessen, mit den Fackeln wurde dann der Scheiterhaufen angesteckt. Oder das Holzkreuz, dann im Mittelalter des 19. und 20. Jahrhunderts. Oder die Bücherstapel. Welchen Sinn soll ein Fackelzug haben, an dessen Ende nicht etwas angezündet wird? 

Eine Fackel als Beleuchtung ist was anderes, aber da gehen wir ja nicht in Formation. Wenn unsere Freiwillige Feuerwehr mit Fackeln einen Laternenumzug sichert, gehen wir durcheinander (und die meisten haben gar keine Fackeln sondern beleuchtete Dings in der Hand).

Fackeln zusammen mit Uniformen sind für mich ein Zeichen von Bedrohung. Egal, ob es die Kutten von Mönchen sind, die Kaputzen des KKK, die Hemden der SA oder die Erste Geige der Feuerwehr. Fackeln erzeugen, gerade zusammen mit Uniform und Formation, eine besondere Stimmung. Das ist ja auch gewollt. Und es ist eine Stimmung, die ich grauenvoll finde – weil sie das Gegenteil der Selbstverantwortung und der Aufklärung ist.

Bei Fackelzügen, egal welchen, muss ich immer an ein grauenhaftes Erlebnis aus meiner Jugend denken. Über meine damalige Freundin (und vor allem ihre Familie) war ich in Berührung mit der Geistlichen Gemeindeerneuerung geraten, noch bevor Kopfermann die Kirche verließ. Ein Besuch des großen, hochemotionalen, mit Zungenreden und anderen Pfingstritualen gefeierten Gottesdienstes in der großen Hauptkirche in Hamburg, an dem rund 1.000 Menschen teilnahmen, war verstörend für mich. Er machte mir körperlich Angst – weil ich immer dachte, dass diesen Menschen nur jemand sagen müsste, die Fackeln zu nehmen und die Stadt niederzubrennen, und sie würden es tun. So aufgeheizt war die Stimmung. Und dabei war ich durchaus empfänglich für diese Form der Frömmigkeit und für Gemeinschaftsgefühle.

Bis heute sind es das Ekstatische, das Rauschhafte, das mit dem flackernden Licht in der Dunkelheit einhergeht, und das überaus starke Gemeinschaftsgefühl, das aus dem gemeinsamen Erleben und dem uniformen Auftreten entsteht, was ich nicht ertragen will. Beides ist das Gegenteil von Demokratie. Demokratie und ihr Zwilling Individualität sind nicht kompatibel mit rauschhaften, starken Gefühlen. Gemeinschaft war schon für den antidemokratischen, aggressiven Konservatismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Gegen- und Kampfwort, mit dem er sich gegen die Idee von Gesellschaft stellte.

Ich denke bei Fackelzügen in Uniform nicht als erstes an die Fackelzüge der Nationalsozialist*innen. Denn auch diese Fackelzüge stehen ja schon in einer unguten Tradition. Ich denke eher an die (deutsche) Mittelaltersehnsucht, denn was anderes als ein Rückgriff auf die Zeit vor der Moderne soll es sein, wenn die Funktion "Licht", die Fackeln mal hatten, ja überflüssig geworden ist?

***

Mich hat die beleidigende Aggressivität, mit der viele Menschen aus der digitalen Militär-Blase auf das Unwohlsein, auf die Gefühle, auf die Kritik reagiert haben, erst überrascht und dann sehr verstört. Tatsächlich verstört. Denn wie können sie Menschen vorschreiben wollen, was sie empfinden, wenn sie uniforme Fackelzüge sehen? Menschen, die andere Erfahrungen mit Fackelzügen haben, vorzuwerfen, sie seien krank ("falsch verdrahtet" etc), ist pervers, sorry. Und es erinnert mich an die beleidigende Aggressivität von Landwirt*innen, wenn sie von Politik und Gesellschaft kritisiert werden. Das ist erst einmal vielleicht ein schräger Gedanke, aber strukturell ist es die gleiche demokratieverachtende Reaktion.

Ich höre und lese viel über "Parlamentsarmee", über das Selbstverständnis, eine Funktion für die und in der Demokratie zu übernehmen. Und das finde ich gut. Ja, mir ist Militär fremd, ich lehne auch das eine oder andere daran ab, aber ich finde es super, dass der allergrößte Teil derer, die zum Militär in diesem Land gehören, sich genau so verstehen. Die Soldat*innen, die ich kenne, mit denen ich ehrenamtlich zusammen aktiv bin, die zur Familie gehören, sind alle so. Vieles ist mir fremd, aber ihnen ist auch vieles fremd, was ich mache, denke, will. Das macht nichts.

Nur wenn dieses Selbstverständnis tatsächlich zu Ende gedacht wird, dann heißt es auch, dass die Gesellschaft, das Parlament, auch beispielsweise über die Rituale des Militärs mitreden und ihnen Grenzen und Leitplanken geben muss. Denn es ist eben, anders als vor der zweiten Demokratie in diesem Land, kein "Staat im Staat". Und hier ist die Parallele zur Landwirtschaft: wo das Parlament als Repräsentanz der Gesellschaft Auftrag oder Finanzierung herstellt, da hat es auch "das Sagen". So wie Landwirt*innen nicht einen großen Teil ihres Einkommens durch die Gesellschaft bekommen können und gleichzeitig erwarten dürfen, dass die aber keine Leitplanken gibt oder Bedingungen stellt, so kann auch ein Militär sich nicht für eine Parlamentsarmee halten, aber erwarten, dass das Parlament keine Bedingungen und Leitplanken für ihr Agieren und ihre Rituale stellt.

Die Gesellschaft muss, im Gegenteil, darüber diskutieren, ob sie militärische Fackelzüge will. Sie muss darüber diskutieren, wie sie Unterstützung, Solidarität und Sanktionen mit und gegenüber dem Militär und mit und gegenüber den Opfern und Täter*innen von militärischer Praxis zeigt und umsetzt. Wer mit oder ohne Verweis auf Traditionen diese Diskussionen und ihre Ergebnisse und Entscheidungen verhindern will oder unangebracht findet, ist Feind*in der Demokratie.

Ich traue mir zu, zu lernen, die Angst und das Unwohlsein bei uniformen und uniformierten Fackelzügen zu überwinden. Wenn in meinem Parlament und in meiner Gesellschaft eine (ergebnis-) offene Diskussion stattgefunden hat, ob und wie "wir" das wollen. Wie so oft werde ich nicht die gleiche Position wie die Mehrheit haben. Aber ich darf und ich werde meine Position in diese Diskussion einbringen.

17.6.21

Antiintellektualismus

Mosaik mit Schrift: Arbeiter-Bildungsverein
Loggediteur (Diskussion), CC BY-SA 3.0 DE

Linke Revolution

Etwas, das ich an linken Bewegungen immer bewundert habe und immer bewundere, ist ihr unbedingter Fokus auf Bildung. Schon lange, bevor die akademische Forschung herausgefunden hat, dass sozialer Aufstieg im Grunde fast nur über Bildung funktioniert, haben linke Bewegungen das schon gewusst. 

Es fasziniert mich, darüber zu lesen und zu hören, wie Menschen, die in ihrem Leben keine Chance hatten, zur Schule zu gehen, lernen. Wie sie neugierig sind. Wie sie das Leben der Menschen in ihrer Umgebung verändern wollen über Bildung. 

Bei aller Kritik an den herrschenden Eliten – und diese Kritik ist ja eines der Kernelemente linker Politik – haben linke Bewegungen und linke Aktivist*innen doch eines immer versucht: in der Bildung zu diesen Eliten aufzuschließen. Nur sehr selten gab und gibt es in linken Bewegungen einen Furor gegen Intellektuelle oder Bildung, mir fallen im Grunde nur Grenzfälle ein, beispielsweise autoritäre Regime, die einmal aus einer linken Bewegung hervorgegangen sind.

Rechte Revolution

Interessanterweise ist das bei rechten Bewegungen komplett anders – zu deren Erzählung von Eliten, die es zu bekämpfen und überwinden gelte, gehören immer auch Intellektuelle. Etwas holzschnittartig lässt sich, denke ich, sagen: Während für linke Bewegungen die Eliten, die bekämpft werden, meistens über ihre wirtschaftliche Macht definiert werden, interessiert diese rechte Bewegungen nur rhetorisch, ansonsten definieren sie Eliten meistens über deren (mindestens empfundene) kulturelle Hegemonie.

Insofern ist es auch klar, dass sich der Zorn und die Kritik von rechts besonders gegen Intellektuelle richtet – denn in liberalen Gesellschaften, in denen Öffentlichkeit vor allem medial hergestellt wird, spielen Intellektuelle eine relativ größere Rolle. Gerade, weil sie oft in der Lage sind, die Klaviatur der jeweils aktuellen Medien und Medientechnologien zu nutzen. Buchdruck, Radio, Blogs, wie auch immer.

Antiintellektualismus als politischer Kitt

Die gemeinsame Feindschaft gegen Intellektuelle schweißt rechte Bewegungen und ihre Vorfeldorganisationen zusammen. Auf die Kritik an Eliten, die sich von "normalen Menschen" abgekoppelt haben, können sie sich einigen. Und es ist nicht nur der Kitt rechter Bewegungen – sondern auch ein wichtiges Erkennungsmerkmal. Wo sich eine Kritik Bahn bricht an akademischen Diskursen, an sprachlicher Präzision, an auf Bildung basierender argumentativer Überlegenheit, da ist mit sehr hoher Sicherheit ein rechtes bis rechtsextremes Welt- und Politikbild am Werk.

Ob sie es das "gesunde Volksempfinden" nennen oder für sich in Anspruch nehmen, "die normalen Menschen" gegen die Zumutungen von Intellektuellen zu verteidigen – immer geht es darum, das Gefühl über das Argument zu stellen. Die Instinkte über Rationalität. Natürlichkeit über Kulturerrungenschaften.

Das, was rechte Bewegungen zusammenhält, ist ihre Orientierung am "kleinen Mann", an den "normalen Menschen", an der "schwäbischen Hausfrau". Das, was linke Bewegungen antreibt, ist der Ausbruch durch Bildung, das Verstehenwollen, das Ziel, intellektuell zu werden. Und dann ist da noch recht viel dazwischen, logisch.

Die Verachtung aber für Intellektuelle ("Elfenbeinturm") ist ein Kennzeichen des Rechtsextremismus. Und wer sich einmal auf diese Bahn begibt, verabschiedet sich aus dem liberalen und fortschrittlichen Diskursraum. 

Eine Frage der Haltung

Um aktuelle Diskussionen einzuordnen, finde ich es ja meistens ziemlich hilfreich, auf das zurück zu blicken, was andere schon erlebt und gemacht haben. Weil es in vielen Dingen eben doch große Linien gibt und nicht alles immer völlig neu ist. 

Mich begeistern immer wieder die Lesevereine, die aus der Arbeiter*innenbewegung entstanden sind. Die Geduld und die Begeisterung, mit der Menschen versucht haben, Texte zu lesen und zu verstehen – und auch mit ihren Autor*innen zu diskutieren. Zu lernen. Sich unendliche Mühe zu geben.

Und wie anders war der Umgang der Nazis mit dem Thema: sie vertrieben den größten Teil der intellektuellen Elite und ersetzten sie da, wo sie deren Stellen freigemacht hatten, mit einfachen, nicht-akademisch ausgebildeten Leuten. Der bis heute in diesem Land sprichwörtliche "kleine Mann", an dessen Wohlergehen sich aus rechter Sicht alles zu orientieren habe, ist in diesem Zuge übrigens erst eingeführt worden. Als Gegenkonzept zu den intellektuell interessierten Arbeiter*innen. Kein Wunder übrigens, am Rande wenigstens erwähnt, dass bei diesem Traditionsbruch Deutschland (und teilweise Österreich) sich bis heute schwerer damit tut als die meisten anderen europäischen Länder, die "Akademisierung" von Bildung und Ausbildung mitzugehen (und schon das negativ genutzte Wort Akademisierung ist ja Teil der antiintellektuellen Tradition).

Was ich aber am meisten verachte, sind Intellektuelle, die mit diesem rechten Furor spielen. Oder, wie Thomas Mann es so wundervoll formulierte:

Wo der Hochmut des Intellektes sich mit seelischer Altertümlichkeit und Gebundenheit gattet, da ist der Teufel.

2.3.21

Polykulturelle Minderheiten-Mehrheit

Im Windschatten des Versuchs, zunehmenden Widerspruch gegen vormals meinungsprägende Positionen als Cancel Culture zu diffamieren, entsteht gerade eine, wie ich finde, gute und zielführende Debatte über Gesellschaft, Gemeinschaft, kollektive Identitäten oder identitäre Kollektive. Wolfgang Thierse in der FAZ und Gesine Schwan in der SZ sind nur zwei Beispiele, aber sie zeigen, wie sehr das Thema inzwischen in der Mitte des Diskurses angekommen ist.

Mich inspiriert diese Diskussion auch deshalb, weil meine Agentur diese Entwicklung unter dem Thema polykulturelle Ära diskutiert und daraus Kommunikationsansätze entwickelt. Für Europa treibe ich dieses Thema bei uns gerade voran und lese und denke sehr viel daran herum. Im Kern und sehr stark vergröbert geht es dabei darum, dass wir in einer Zeit leben, in der sich Identität mehr über kulturellen Ausdruck konstituiert als über Herkunft oder formale Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Und dass jede dieser Gruppen, die sich gemeinsam kulturell ausdrücken, eine (kleine) Minderheit ist - sie aber zusammen inzwischen die Mehrheit bilden. Und das nicht mehr nur in der jüngeren Generation, in der wir dieses Phänomen schon länger beobachten.

Übertragen auf Europa und auch und speziell auf Deutschland, ist die Situation insofern etwas anders, als die nordamerikanischen Gesellschaften schon sehr viel länger, eigentlich seit rund 400 Jahren, sehr viel diverser sind. Aber das Verständnis einer polykulturellen Ära im Unterschied zu einer multikulturellen Ära davor ist auch für den alten Kontinent erhellend, denke ich. Denn multikulturell bezog sich immer eher auf die Herkunft und das kulturelle Erbe vor allem von eingewanderten Gruppen – und es war immer bezogen auf eine Leitkultur (mal von der hochproblematischen Konnotation des Begriffs selbst abgesehen) als der Kultur der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, meist die seit mehreren Generationen indigene Mehrheit eines Landes.

Auch in Deutschland hatten wir immer wieder mehr oder weniger hilfreiche Diskussionen rund um eine Leitkultur. Die neue Diskussion, wie sie von Schwan und Thierse beispielsweise geführt wird, erkennt nun endlich an, dass es dieses Konstrukt so nicht mehr geben kann. Und zwar, weil es keine klassische Mehrheitsgesellschaft mehr gibt (wenn es sie denn je gegeben hat, aber das ist eine andere Geschichte). Mir hilft die Idee einer polykulturellen Ära sehr, um diese Veränderung zu beschreiben und damit (produktiv) umzugehen. Und sie erklärt zugleich mein Unbehagen mit den Positionen von Thierse und Schwan.

Denn trotz allem schwingt noch das Erklärungsmuster einer Mehrheit mit (bei Thierse deutlich krasser, da er seine Privilegien unreflektiert ausbreitet). Daraus befreit der Gedanke der polykulturellen Minderheiten-Mehrheit – weil er es schafft, zu benennen, was die Realität ist: dass es keine gemeinsame kulturelle Ausdrucksweise gibt, die die Mehrheit der Gesellschaft abbildet. Keine gemeinsame oder auch nur mehrheitliche Identität. 

Wenn aber – durch jeweils selbstgewählte oder erworbene Zuordnung zu einer kollektiven Minderheiten-Identität –  eine Gesellschaft entstanden ist, in der diverse polykulturelle Minderheiten zusammen die Mehrheit bilden, dann ist das etwas anderes als die (wie ich finde postmoderne) Idee im Grunde fraktaler Persönlichkeiten, also die Idee, dass ich mich aus verschiedenen kulturellen Entwürfen bediene, um meine je eigene Identität zu formen (ich habe den Eindruck, dass das bei Schwan immer noch gemeint ist in ihrer Vision). 

Tatsächlich sehe ich, dass die postmoderne Individualität (wieder) abgelöst ist von Gruppenerfahrungen. Nur dass eben keine Mehrheitsgesellschaft dabei herauskommt, sondern eine Vielzahl von kollektiven Identitäten, die sich kulturell mehr oder weniger gemeinsam ausdrücken – was ich dann als polykulturell beschreibe. Diese polykulturelle Erfahrung, die vor allem die Generation meiner Kinder auch schon lange im Alltag macht, verändert nun sowohl die Gesellschaft als auch den gesellschaftlichen Diskurs. Bis hin zu dem Widerspruch gegen unreflektierte Privilegien und das selbstpostulierte Recht der ehemaligen Mehrheit, unwidersprochen ihre Ressentiments oder Exklusionen verbreiten zu können.

Wenn die Mehrheit in einer Gesellschaft die Erfahrung macht, dass sie zu einer Minderheit gehört, verändert dies das Gesamtgefüge der Gesellschaft. So kann ich zumindest erklären, wieso beispielsweise gendersensible Sprache oder identitätssensibles Handeln von dieser neuen polykulturellen Minderheiten-Mehrheit als Selbstverständlichkeit betrachtet und auch eingefordert werden: der eigene kulturelle Minderheitenstatus ermöglicht mir, Ausgrenzung und Marginalisierung anderer eher wahrzunehmen, als wenn ich mich zu einer Mehrheit dazugehörig fühle.

Insofern sind Menschen, die auf die Rechte oder auch nur Anerkennung einer Minderheit pochen, die für Teilhabe einer Minderheit streiten, keineswegs dafür mitverantwortlich, die "Mehrheit" mitzunehmen oder für den Zusammenhalt zu sorgen. Denn sie erfahren ja, dass eine Teilhabe von Minderheiten und eine (kulturelle) Sensibilität für Minderheiten de facto Teilhabe und Sensibilität für die Mehrheit bedeutet. 

Und insofern kann das Getöse über eine angebliche Cancel Culture oder über den angeblichen Zwang zur Sensibilität eigentlich nur auf zwei Weisen beschrieben werden: Entweder als "Rückzugsgefecht" einer Minderheit, die noch nicht anerkennen kann, dass sie inzwischen eben dieses ist, eine Minderheit, obwohl sie noch eine Generation vorher die Mehrheit war. Oder als reaktionäres (oder revolutionäres) Projekt, das einer Minderheit die Vorherrschaft über andere Minderheiten sichern (oder verschaffen) will.

Für die Gesellschaft aber ist die neue Zeit einer polykulturellen Minderheiten-Mehrheit ein Gewinn, denke ich. Denn sie wird nahezu zwangsläufig offener und auch sensibler (beides halte ich für einen Gewinn, aber darüber lässt sich wahrscheinlich politisch streiten). Und kollektive Identitäten spielen dabei in meiner Sicht (und anders als Schwan und wahrscheinlich auch Thierse es sehen) eine entscheidende und positive Rolle: Durch die Erfahrungen des Minderheitenstatus, die ich in meinem Kollektiv mache, in meiner Gemeinschaft, öffnet sich der gedankliche Möglichkeitenraum für Minderheitenrechte, für Sensibilität, für die Offenheit für andere kulturelle Ausdrucksformen. 

Der politische Liberalismus hat historisch immer Gesellschaft der Gemeinschaft vorgezogen, während konservative und revolutionäre Ansätze oft von der Gemeinschaft als sinnstiftender Einheit her kommen. Insofern mag es auch kein Zufall sein, dass der politische Kampf um die offene, liberale Gesellschaft an dieser Linie verläuft. Und die polykulturelle Minderheiten-Mehrheit es ist, die die liberale Demokratie gegen ihre Feind:innen verteidigt – während es die Minderheit, die sich mit ihrem (neuen) Minderheitenstatus nicht abfinden kann, mit Begriffen wie Leitkultur oder mit einem Festhalten an hergebrachten Regeln und Sprachen und Sprechweisen de facto auf die liberale Demokratie abgesehen hat.

Ich kann die Sorge, eine Gesellschaft falle auseinander, wenn sie sich in polykulturelle Minderheiten und kollektive Identitäten auffächert, nicht nachvollziehen. Mein Eindruck ist, dass Schwan und Thierse und andere genau diese Sorge haben. Sie wäre berechtigt, wenn es eine Mehrheit gäbe – was ja die gesellschaftliche Situation ist, aus der beide kommen, sie sind ja beide noch mal massiv älter als ich. Und tatsächlich drohte ja bis vor etwa zehn Jahren oder so ein Auseinanderdriften der Gesellschaft im Zuge der identiätspolitischen Ansätze. Aber heute, wo beispielsweise in den USA die identitätspolitische Koalition der Demokrat:innen eine strukturelle Mehrheit hat, und wo auch beispielsweise in Deutschland identitätspolitisch motivierte Koalitionen wie die Grünen und (mit Ausnahme einiger Traditionssozialdemokrat:innen) SPD Zulauf bekommen und selbst die CDU mindestens in Teilen eine identitätspolitische Koalition ist; heute also zeigt sich, dass eine Gesellschaft, in der es eine polykulturelle Minderheiten-Mehrheit gibt, eine Chance hat, als offene liberale Demokratie einen weiteren Schritt auf eine inklusive, sensible Gesellschaft hin zu machen. In dem kollektive Identitäten, die um ihren Minderheitenstatus wissen, gemeinsam Teilhabe und sensiblen Umgang miteinander schaffen.

[Edit 21.40 Uhr: Mir war, als ich diesen Text online stellte, noch nicht klar, welche Wellen bis hin zum leberwurstigen Austrittsangebot Thierses (es lohnt sich hier auch auf die Verlinkungen zu klicken, um das ganze Ausmaß zu sehen) diese Diskussion in der SPD schlägt. Gut.]

10.6.20

Alerta

Ich lebe am Rande einer Kleinstadt. Diese Kleinstadt ist sehr lebenswert und interessanterweise sehr divers. Sie hat eine der letzten größeren Militär-Kasernen und eine Polizei-Kaserne. Sie hat mehrere Wohnanlagen für Alte. Etliche Schulen jeder Geschmacksrichtung für eine ganze Region. Etliche lokale Handwerksbetriebe und Geschäfte haben sich zu einer "Faire-Welt"-Initiative zusammen geschlossen. 14- und 15-jährige Mädchen organisieren eine der großen Fridays-for-Future-Gruppen in der Region. Ein Volksentscheid gegen ein Inklusionshotel in bester Lage ist sang- und klanglos gescheitert.

Das alles ist noch nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der Nazi-Aufkleber an Laternenpfählen überhand nahmen. In der sich Nazis im Straßenbild breit machten. In dieser Zeit lebte ich nicht hier, ich war nie in dieser Kleinstadt. Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Und aus anderen Gegenden. Mitte der 80er war ich kurze Zeit Antifa-Koordinator im letzten Juso-Kreisvorstand, den es in meinem Hamburger Bezirk gab.

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Als vor ein paar Jahren die Rechten eine Kampagne gegen Antifaschistinnen fuhren und sich die meisten so genannten "Bürgerlichen" nicht schnell genug von ihnen distanzieren konnten – was sie ja bis heute machen –, ist einer Freundin, die damals schon in jener Kleinstadt lebte, der Kragen geplatzt.

Damals, erzählt sie, gab es ein paar junge Leute in der Stadt mit Lederjacken und bunten Haaren und Springerstiefeln. Die nannten sich Antifa. Und wenn sie und ihre Freundinnen, alle aktiv in der evangelischen Kirchengemeinde der Kleinstadt, loszogen, um unter merkwürdigen Blicken der meisten Einwohnerinnen die Nazi-Aufkleber von den Laternenpfählen abzupulen, waren diese jungen Leute die einzigen, die sich ihnen anschlossen. Und wenn sich auf der anderen Straßenseite ein paar von den Nazis aufbauten, die offen zum Straßenbild der Kleinstadt gehörten, dann waren diese jungen Leute da. Mal einfach nur so. Mal in Bewegung.

Sie war die jüngste der Frauen damals. Und keine der grauhaarigen Freundinnen ließ oder lässt etwas auf die Antifa kommen. Ohne Antifa, sagen sie, wäre diese Kleinstadt heute noch ein gefährliches Pflaster für sie, für Christinnen. Ohne Antifa hätten sich in den Jahren danach nicht die ersten Ladenbesitzerinnen zusammengeschlossen, um eine Initiative für Schutzräume und dann später für Fairen Handel zu bilden. Es waren (meist ältere) Frauen der evangelischen Kirche und die jungen Leute der Antifa, die die einzigen waren, die der beginnenden Dominanz der Nazis im Stadtbild etwas entgegensetzten.


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Sich von "der Antifa" zu distanzieren, halte ich für dumm, unpolitisch und gefährlich. Und "man" muss es sich auch leisten können. Denn seit den 80ern gab und gibt es nicht viele andere, auf die sich verlassen kann, wer Nazis entgegentritt. Fast überall (im Westen) waren es damals Aktive aus Kirchengemeinden zusammen mit jungen Leuten, die keine Angst davor hatten, dass es vielleicht auch mal wichtig sein könnte, sich (körperlich) zu wehren. Und als 2015 in unserem Stadtteil am Rand von Hamburg die größte Unterkunft für Vertriebene eingerichtet wurde und die Nazis aus den Nachbarstadtteilen ankündigten, das nicht zuzulassen, waren es junge Leute mit Lederjacken und bunten Haaren, die die Nächte im Gewerbegebiet verbrachten. Und das evangelische Gemeindehaus bewachten, das das Basislager der Helferinnen war. Und sonst niemand.



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Im ersten Kreisvorstand der Jungen Sozialdemokraten, der unseren letzten Juso-Kreisvorstand ablöste, gab es selbstverständlich keinen Koordinator für Antifa-Arbeit mehr. Ich weiß sehr genau, auf wen ich mich verlassen kann, wenn ich von Nazis bedroht werde. Und das ist ganz sicher niemand, der oder die sich von "der Antifa" abgrenzen zu müssen meint.




27.4.15

Die Härte

In den letzten Tagen, vielleicht auch Wochen, ist in meiner Ecke des Internets wieder mehr von einer zunehmenden Härte die Rede. Exemplarisch beim hochgeschätzten Don Dahlmann. Als Mensch, der als Mensch latent "nett" ist und ein (für manche vielleicht überraschend großes) Harmoniebedürfnis hat, kann ich das zunächst sogar nachvollziehen. Und trotzdem halte ich es für falsch und - vor allem - für politisch naiv und schädlich (was ohnehin quasi das gleiche ist).

Es ist nicht härter geworden
Hamburger Kessel 1986
Ich stimme schon bei der Analyse der Situation nicht überein. Denn ich bin schon alt genug (ok, Don Dahlmann auch), um mich an verbal und physisch sehr viel härtere Auseinandersetzungen zu erinnern. Ein Teil meiner Müdigkeit, mich mit Menschen ernsthaft zu beschäftigen, die eine in zentralen Dingen, die ich für zivilisatorisch relevant halte, von meiner allzu sehr abweichende Meinung haben (beispielsweise rund um Feminismus oder Israel), mag auch damit zusammen hängen, dass ich einfach schon zu oft und zu viel mit ihnen diskutiert habe in den letzten dreißig Jahren.

Aber härter oder unduldsamer ist die Diskussion nicht geworden aus meiner Sicht. Höchstens mag es so sein, dass Gruppen, die in den 80ern und 90ern sehr einfach aneinander vorbei gehen konnten, ohne sich wirklich zu sehen, einander jetzt - durch die Verschriftlichung und Auffindbarkeit ihrer eigentlich für intern gedachten und gesagten Diskurse - sehen. Das macht es mühsamer, aber die Idee, dass ich mich mit jeder rassistischen, misogynen, antisemitischen Idiotin freundlich, geduldig und argumentativ auseinandersetzen müsste, könnte oder auch nur wollte, ist mir ohnehin fremd - und finde ich tatsächlich absurd.

Der Entsolidarisierung begegne ich nicht mit Piep-piep-piep
Ähnlich ist es bei der - aus meiner Sicht: zutreffenden - Diagnose, dass eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft zunimmt. Allerdings kann doch die Alternative nicht sein, dass wir uns voll doll lieb haben - sondern eher, dass Menschen, die der Entsolidarisierung Vorschub leisten, hart und härter angegangen werden. Seien es klassische Neoliberale oder solche, die Einheitsgewerkschaften fordern. Seien es Kinderhasserinnen oder solche, die meinen, Kinder sollten immer und überall alles dürfen.

Tatsächlich denke ich eher, dass die Auseinandersetzungen härter werden müssen, als sie es zurzeit sind. Tatsächlich mache ich mit klaren Grenzziehungen ("Toleranz endet mit z") gute Erfahrungen.

Härte in der Auseinandersetzung ist ein Zeichen, dass es Ernst wird
Ich halte es für politisch naiv und gefährlich, gegen harte und ausgrenzende Auseinandersetzungen zu sein. Denn emanzipatorische Veränderungen können nur über (harte) Auseinandersetzungen passieren. Und reaktionäre Veränderungen können nur über (harte) Auseinandersetzungen verhindert werden.

Um bei einem Beispiel zu bleiben: Zwischen Maskulinisten (und anderen reaktionären Vollpfosten) einerseits und Feministen und Feministinnen andererseits gibt es keine Möglichkeit eines Diskurses. Aus meiner Sicht gibt es nicht einmal eine Möglichkeit einer echten Koexistenz. Sondern diese Weltanschauungen "kämpfen" um die Deutungshoheit. Dass sich zurzeit die Reaktionäre schlauer anstellen als die fortschrittlichen Kräfte - geschenkt. Sie haben allerdings auch mehr zu verlieren.

Aber - und hier stimme ich, was ja nicht soooo oft passiert, Michael Seemann ausdrücklich zu - in diesem Kampf (und ja, es ist ein Kampf, und wer den durch Kritik an seiner Härte abzuschwächen sucht, nutzt in aller Naivität faktisch der Reaktion aus meiner Sicht) geht es um viel, weshalb er so hart geführt wird. Auf zwei Aspekte weist Michael Seemann hin, lest das mal, finde ich richtig: Zum einen auf den Kampf um die Plattformen. Und zum anderen auf die Isolierung der Bösen.

Böses muss auch böse genannt werden
Und bevor jemand schreit: das Wort "die Bösen" steht da bewusst. Denn wiederum halte ich es für naiv und für politisch dumm, aus falsch verstandener Duldsamkeit das Böse nicht als böse zu benennen. Call me Fundamentalist - aber Dinge wie Pegida oder Maskulinismus sind böse.

Hitler hat Autobahnen bauen lassen, im Stalinismus hatten alle einen Job, Nazis und Salafisten machen in von ihnen majorisierten Gegenden Sozialarbeit, Bild-Reporter schreiben mal einen Satz, dem ich zustimme.

Politisch aber ist Verhalten, wenn es solidarisch ist und berechenbare und belastbare Allianzen bildet. Eklektizismus ist unpolitisch. Flexible Haltungen und flexible Moral sind unpolitisch. Und darum entfloge ich zwar nicht jeder sofort, die einmal jemandes Tweet retweetet, die an sich böse ist. Und darum kann ich zivilisiert und höflich mit (intellektuell anspruchsvollen) Gegnerinnen in den großen gesellschaftlichen Konflikten dieser Zeit reden. Aber sie bleiben Gegnerinnen oder böse. Und da bin ich nicht flexibel.

Ja, Don Dahlmann, auch G.W. Bush hat sich auf den alten Weltkampf eingelassen, der klar zwischen für mich und gegen mich unterscheidet. Weil er politischer war als ihr alle zusammen. Und die Gesellschaft verändern wollte und es auch getan hat. Wer dem ausweicht und den Kampf, in den die Reaktion "uns" zwingt, nicht annimmt, ist meiner Meinung nach naiv. Ich kann euch trotzdem mögen. Und gut leiden.

27.1.15

Lauf, Junge, lauf

Er wollte eigentlich dringend die Schule wechseln. Zwar würde er in einer größeren Klasse nicht zwingend den Ersten Schulabschluss schaffen, aber alle anderen, die sich jetzt, als Jugendliche, ihrer Religion zuwenden, gehen rüber an eine der Schulen in Lohbrügge. Sein Cousin würde da auf ihn aufpassen und ihm helfen.

Auch, wenn er in den letzten beiden Jahren, seit er erwacht ist, wie er es wahrscheinlich nennen würde, von seiner Klassenlehrerin immer direkte und sehr klare Ansagen bekommt (und er sie mag und respektiert, ja wirklich, Respekt kommt ihm dabei über die Lippen, verwunderlich genug, sie ist ja eine Frau), weiß er doch, wer an allem Schuld ist. Auch wenn er es (wohl eher aus Rücksicht auf die Lehrerin als aus Überzeugung) seltener und nur noch sehr selten ungefragt und zu jeder Gelegenheit in die Klasse ruft. Schuld daran, dass seine Familie Afghanistan verließ. Daran, dass der Islam überall unterdrückt wird. Weshalb es sein Weltbild bereits leicht ins Wanken brachte, sozusagen einen winzigen Haarriss zeitigte, als es kein Problem darstellte, dass er in der Mittagspause in der Schule im Gruppenraum der Klasse beten wollte. Was er seitdem machte.

Die Juden sind Schuld. Und Israel sowieso, diese Eroberer und Unterdrücker. Davon ist er fest überzeugt.

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Im letzten halben Jahr war in Geschichte das Thema ein Thema, das so viele nervt. Von dem ich immer wieder höre, dass es zu viel, zu oft, zu pädagogisch behandelt werde. Dass alle Schülerinnen dauernd darüber reden müssten würden. Seine Geschichte aber zeigt, dass wir nicht oft genug über den Holocaust und die deutsche Vernichtungsmaschine reden können.

Im letzten Halbjahr sind viele Schulklassen in Lauf, Junge, lauf gegangen. In Hamburg haben die (kleineren) Kinos den Film an den Schulfilmtagen gezeigt. Und obwohl seine Lehrerin den Film mit der Klasse vorbereitet hat und das Thema schon länger im Unterricht dran war, traf ihn der Film völlig unvorbereitet. Und hat ihn erschüttert.



Ausgerechnet ein Jude. Es war völlig verstörend, dass ausgerechnet ein jüdischer Junge etwas erlebt, das er fast für seine Geschichte halten könnte. Sein Zorn und auch wirklich sein Mitgefühl galten dem Jungen.

Er hatte noch nie darüber nachgedacht und noch nie davon gehört. Noch nie, obwohl er ja nun auch schon sechzehn ist, hier geboren wurde und in dieses Land gehört. Obwohl angeblich dauernd und viel zu viel davon in der Schule und in Medien die Rede sei.

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Er wurde stiller. Seit dem Vormittag im Passagekino, damals, im Spätherbst, hat er nicht ein einziges Mal in der Klasse über die Juden, die an allem Schuld seien, schwadroniert. Nicht noch einmal den Schulwechsel angesprochen. 103 Minuten, die sein Leben verändert haben.

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Ich denke, wir können nicht oft genug vom Holocaust reden und von den Verbrechen, die die Deutschen in ganz Europa begangen haben, dem Preis für den Aufstieg des "kleinen Mannes" in der deutschen Gesellschaft.

In meiner Kindheit war es Ein Stück Himmel, für die Generation meiner Kinder ist es Lauf, Junge, lauf. Immer wieder ein eindringliches Stück aus der Opferperspektive, das einen Perspektivwechsel ermöglicht.

Bundesarchiv Bild 146-1993-020-26A, Lidice, Ort nach Zerstörung Für mich persönlich waren es die Reise nach Lidice und das Bild Guernica, die mich so tief erschüttert und beeindruckt haben. Für den Jungen war es der Vormittag im Kino. Aber ein auch emotional erschütternder Moment, davon bin ich überzeugt, muss sein und kann sein und kann allen zugemutet werden.

Denn allein die Fakten, allein die Wahrheit, bewegt jemanden wie diesen Jungen nicht. Andere schon, die es zornig macht, beides ist wichtig. Beides ist gut. Wichtig ist nur, dass es zu einer Veränderung führt.

Ich bin überzeugt, dass allein die tiefe Fassungslosigkeit oder Scham die Monstrosität des Holocaust erahnen lässt. Denn er ist mit Worten und Bekenntnissen und Schilderungen nicht zu erfassen. Und es kann und darf niemals einen Schlusstrich geben.

Was mir die kleine Episode mit dem Jungen vor allem zeigt, ist, dass es richtig ist, den Holocaust auch in der Schule, abseits der Pfade der eigenen Familie und des eigenen direkten Umfeldes, immer und immer wieder und immer wieder neu und anders zu behandeln. Denn Kinder, junge Jugendliche und ältere Jugendliche haben verschiedene und sich verändernde (emotionale) Zugänge zu diesem Thema. Es ist nie zu früh für die Fassungslosigkeit. Und nie zu spät.

Und wenn nur ein Judenhasser in seiner Haltung und Überzeugung erschüttert wird, hat es sich gelohnt.

18.10.14

Bleibt alles anders

Stalking, Aufforderung zur Lynchjustiz, Mobbing durch Identitätsklau, illegales Kopieren von Filmen und Musik – die Digitalisierung unserer Lebenswelten hat bei weitem nicht nur positive Auswirkungen. Immer wieder begegnet mir daher bei Eltern und Menschen, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen, eine große Unsicherheit: Wie sollen wir damit umgehen? Mit all den völlig neuen Fragestellungen, die uns überrollen?

Als jemand, der aktiv die Digitalisierung seiner Lebens- und Kommunikationsumgebung vorantreibt und gestaltet, habe ich zunächst ebenfalls vermutet, dass die Veränderungen so radikal sind, dass auch neue ethische Fragen entstehen (müssen). Und war dann überrascht, dass das nicht der Fall ist.

Sowenig das Internet ein „rechtsfreier Raum“ ist, so wenig sind Prozesse, die sich durch die Digitalisierung verändert haben und verändern, „ethikfrei“. Bei den meisten Themen helfen die Fragen und sogar die Antworten, die die (evangelische) Ethik sich erarbeitet hat, weiter. Sinnfällig wird das schon daran, dass die großen Fragen rund um die Digitalisierung exakt die gleichen sind, die immer die großen Fragen der Ethik waren: die vom Verhältnis von Freiheit und Verantwortung; von Recht und Rücksicht; von Eigentum und Verpflichtung; von Egoismus und Altruismus. Um nur einige zu nennen.

Wie bei jeder Technologie, die Wissen − was auch Daten meint − und Kommunikation besser verfügbar macht, ergeben sich auf einmal für mehr Menschen Fragen, die vorher eine Minderheit oder Elite berührten. So wie die Digitalisierung „Skalierungseffekte“ in fast allen Bereichen bringt, bringt sie auch „Skalierungseffekte“ in der Ethik – also die Herausforderung, dass mehr ethische Fragestellungen in kürzerem Abstand für immer mehr Menschen aktuell und relevant werden.

Es ist auffällig, dass Platons Polemik gegen das Schreiben und Erasmus’ Polemik gegen das Drucken fast wörtlich die Vorbehalte gegen die Veröffentlichungen im Internet wiedergeben. Und zugleich beide das, was sie kritisierten, sehr fleißig und erfolgreich für sich selbst nutzten. Sie hatten einfach große Probleme mit der Vorstellung, dass weniger Gebildete als sie dies auch tun könnten. Auch ihre Anfragen an Wahrheit, Nachvollziehbarkeit, Wahrhaftigkeit, Medienkompetenz – alles ethische Fragestellungen – sind faszinierenderweise fast wörtlich die gleichen, die sich heute, bei der dritten großen Medienrevolution, stellen. Vor allem die Frage, welcher Information, welchen Daten wir trauen können, ist heute ähnlich wie damals hochaktuell.

Was neu ist, auch in den ethischen Fragestellungen, ist der Personenkreis, der für sich diese Fragen beantworten muss. Medienethik ist nicht mehr ausschließlich Thema professioneller Medienschaffender. Umgang mit Persönlichkeitsrechten betrifft jede Person, die ein Smartphone, also einen Fotoapparat mit Internetanschluss, besitzt. Ethische Fragen rund um die Vervielfältigung von Inhalten sind für alle relevant geworden. Und so geht es weiter.

Haben sich durch die Erfindung und die Etablierung des Buchdrucks neue ethische Fragen ergeben? Nur wer das mit Ja beantworten kann, wird auch gute Argumente auf seiner Seite haben für die These, dass die Digitalisierung neue ethische Fragen aufwirft. Und nicht „nur“ ein neues Nachdenken über die Antworten erfordert.

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Diesen Text habe ich zuerst für das Lesebuch zur diesjährigen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland geschrieben, das die Synodalen (Abgeordneten) auf das Schwerpunkttheme vorbereiten soll: Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Dieses Thema inhaltlich mit vorzubereiten und auch den Entwurf der Kundgebung der Synode mitzuverfassen, hatte ich ja in diesem Jahr auf Einladung der Präses der Synode die Freude. 

Übrigens merke ich, dass ich mit dieser Mitarbeit sehr viel mehr am gesellschaftlichen Diskurs bewegen kann als mit fast allen netzpolitischen Aktivitäten, die denkbar wären. Allein, dass der Begriff "geistiges Eigentum" im Kundgebungsentwurf nicht vorkommt, ist ein wunderbares Zeichen...

1.8.14

Teilhabe in der digitalen Gesellschaft

Ich bin ja vor einiger Zeit in den Vorbereitungsausschuss der Synode (Parlament) der Evangelischen Kirche in Deutschland berufen worden, weil sie sich im Herbst mit dem Thema Kommunikation* des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft beschäftigen wird. Dabei habe ich mich wieder mehr mit ethischen und kirchlich-praktischen Fragen beschäftigt, die sich aus der Digitalisierung ergeben. Ein paar Gedanken bringe ich jetzt ein - wenn es darum geht, meine Kirche in dieser Frage zu positionieren. Hier seien sie einmal etwas unsortiert und unvollständig geteilt. Der etwas pathetisch-appellative Ton ist dem geschuldet, dass es Entwurfssätze für eine Stellungnahme, ein Papier sind. Mal sehen, was von diesen Gedanken die nächsten Monate und Runden überdauert, bis die Synode im November zusammen kommt und was sagt.

* [Update 20.8.] hier stand zuerst "Verkündigung". Das ist aber falsch und auch irreführend, weil wir zwischen Kommunikation (multidirektional in Worten, Bildern, Taten) und Verkündigung unterscheiden.
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Kirche und digitale Räume

Für eine evangelische Kirche als einer Kirche des Wortes und der Kommunikation ist es notwendig, da aktiv und ansprechbar zu sein, wo Menschen zusammen kommen, um miteinander zu sprechen und zu kommunizieren. Die fortschreitende Digitalisierung von Kommunikation, Texten, Bildern und anderen Medien hat einen neuen Raum geschaffen, in dem Menschen dieses tun.

Kirche hat sich in Verkündigung und Kommunikation in ihrer Geschichte immer schon der jeweils innovativsten Mittel und Orte bedient. Bereits Jesus war mehr unterwegs als es zu seiner Zeit üblich war. Paulus und die frühen Gemeinden nutzten das bis dahin fast nur der römischen Politik vorbehaltene System der Briefe und Kopien. Ohne die revolutionäre Technologie des Druckens wäre die Reformation nicht möglich gewesen. Radio und Fernsehen wurden von missionarischen Kirchen seit ihrer Erfindung eingesetzt. Die Chancen der Digitalisierung und der digitalen Netzwerke und des Internet mit Kraft und Überzeugung zu nutzen, steht in einer guten Tradition und ist für evangelische Kirchen alternativlos.

Eine Herausforderung in jeder Medienrevolution ist es, die richtigen Räume und Sprachen zu finden, um das Evangelium weiterhin kommunizieren zu können. Insbesondere die Ent-Räumlichung von Nähe ist dabei eine Rahmenbedingung, auf die evangelische Kirche noch keine Antwort gefunden hat: Wie können unter der Bedingung der Digitalisierung virtuelle und anfassbare Räume und Orte geschaffen werden, an und in denen sich Gemeinde bilden kann und Kirche und Christinnen und Christen sich finden lassen können? Was ist der Kirchturm in digitalen Welten, die zunehmend Teil der Lebenswirklichkeit der Menschen sind?

Die Digitalisierung schreibt die Entwicklung fort, die seit Erfindung der Schrift begonnen hat: Sie macht Kommunikation unabhängiger von Raum und Zeit. Mit der Digitalisierung ändert sich vor allem die Geschwindigkeit dieser Entwicklung. Eine kirchliche Praxis, die Menschen in der digitalen Gesellschaft erreichen will, muss ihren Erwartungen an Verfügbarkeit und Geschwindigkeit entsprechen. Vor allem die Chance, sich in digitalen Räumen finden lassen zu können, kann nur ergreifen, wer in ihnen präsent ist und ihre Medienregeln beachtet.

Die Digitalisierung von Inhalten und Beziehungen hat diese durchsuchbar und auffindbar gemacht. Nur wenn Verkündigung und Kommunikation digital vorliegt oder digital übersetzt ist, wird Kirche weiterhin Teil der Gesellschaft und des Alltags der Menschen sein können. Im neu entstandenen Bereich zwischen "privat" und "öffentlich" ist eine Form der Zugänglichkeit entstanden, den die kirchliche und gemeindliche Praxis nutzen wird.

Christin und Christ in der Welt kann ja nur sein, wer in der Welt lebt. Wenn digitale Räume und Netze für immer mehr Menschen aller Generationen fester Bestandteil ihrer Welt sind, muss es kirchliche Verkündigung und christliches Zeugnis in diesen Räumen und Netzen geben. Ohne aktiv in diese Welt zu gehen, scheitert kirchliche Praxis. Unabhängig von der je eigenen Befindlichkeit und Meinung zu ihnen, ist die Ansprechbarkeit in digitalen Räumen und Netzen auf das eigene christliche Bekenntnis für alle notwendig, die sich der Kommunikation des Evangeliums widmen.

Die Digitalisierung der Gesellschaft hat die Entwicklung beschleunigt, dass es neben der Parochie andere, gewählte Gemeindeformen gibt. Das ist nicht neu, sondern schon durch die Urbanisierung und Globalisierung entstanden. Umgemeindungen waren hier ein Instrument und eine Antwort. Jetzt entsteht durch die Ent-Räumlichung von Heimat und Beziehungen das Bedürfnis nach ent-räumlichten Gemeinden. Für Menschen, die Nähe ohne räumliche Nähe suchen und finden, muss und wird evangelische Kirche Gemeinden (er)finden und Gemeinschaft schaffen müssen, die anderen Menschen fremd sind. Hier Verbindlichkeiten und Verlässlichkeit zu entwickeln, wird nur möglich sein, wenn sich diese Gemeinden in digitalen Netzen bilden können.

Wie in den vergangenen Medienrevolutionen wird es auch bei der Digitalisierung der Gesellschaft darauf ankommen, christliches Leben und kirchliche Praxis so zu interpretieren und beispielhaft zu zeigen, dass Freiheit in Gemeinschaft möglich wird.

Bildung als kirchliches Thema

Lesen und Schreiben hat Menschen ermöglicht, sich mehr Teilhabe zu erobern. Die Kirchen der Reformation haben das immer unterstützt. Medienethische Bildung und Wissen über Wirkung und Wirkweisen von Bildern und Texten helfen Menschen, Manipulation zu erkennen. Und heute hilft ein besseres Verständnis von Digitalisierung, Daten und Netzwerken, Freiheit und Teilhabe zu erlangen. Dies ist eine Aufgabe für eine Kirche der Freiheit.

Die evangelische Kirche hat die Alphabetisierung unterstützt und fördert alle Bildungsoffensiven, die zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe führen. Dazu gehört heute, dass in immer mehr Ländern beispielsweise Algorithmen und Programmiersprachen zum Curriculum der Schulen gehören. Jede Entmystifizierung von Daten und Prozessen ist ein Schritt zu freier Entfaltung. Die Gesellschaft darf nicht in "user" und "loser" zerfallen. Teilhabe in der digitalen Gesellschaft darf nicht abhängig sein von Bildung und Einkommen.

Wissen und Rationalisierung sind Voraussetzungen für Freiheit im Umgang mit Technologien und Medien. Darum setzt die evangelische Kirche digitale Bildung im Sinne von "digital literacy" auf die Agenda ihrer eigenen Bildungsangebote und fördert und unterstützt alle Initiativen, digitale Bildung im gesellschaftlichen Bildungskanon zu verankern..

Und Datenschutz? 

Teilhabe in der digitalen Gesellschaft hat unmittelbare Implikationen auf Datenschutz und Datensicherheit. Für die evangelische Kirche stehen dabei der Mensch und seine Freiheit und Autonomie im Mittelpunkt. Die Vorstellung einer naturgesetzliche Eigendynamik digitaler Prozesse widerspricht evangelischer Sicht auf die Gesellschaft. Dennoch sieht und anerkennt die evangelische Kirche, dass sich Vorstellungen von Datenschutz und Privatsphäre im Verlauf der Geschichte immer wieder geändert haben und weiter ändern. Es widerspricht evangelischem Verständnis, den Status Quo per se für besser zu halten als eine Veränderung.

Die eigenen Regeln zum Umgang mit Daten müssen dem Ziel dienen, das Evangelium in digitalen Räumen und Netzen zu kommunizieren. Datenschutz ist kein Wert an sich und kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz der Menschen vor staatlicher Überwachung. Heute muss dieser Schutz gegenüber Unternehmen und nicht-staatliche Organisationen ausgeweitet werden.

Datenschutz kann und darf aber nicht zum Rückzug aus der Welt und der digitalen Gesellschaft führen. Wo kirchliche Richtlinien eine aktive Kommunikation des Evangeliums in digitalen Räumen und Netzen verhindern oder Mitarbeitende von Kirchen in ihrer Arbeit in diesen Räumen und Netzen behindern, bedürfen sie einer Revision.

22.7.14

Antisemitismen

Achtung: Hier folgen teilweise antisemitische Inhalte, die ich eingebunden habe, um ihren Antisemitismus zu zeigen. Bitte nicht weiterlesen/-sehen, wenn dieses nicht erträglich ist. Keiner der Inhalte bleibt unkommentiert und ohne Einordnung und Kritik.
In den letzten Wochen war ich teilweise sehr überrascht, wie viele Dinge mit offensichtlichem und - vor allem - weniger offensichtlichem Antisemitismus mir in meine Nachrichtenströme auf Twitter und Facebook gespült wurde. Vor allem von Menschen, bei denen ich mir sicher bin, dass sie erschrecken, wenn sie realisieren, welchen Kontext Dinge haben, die sie teilten.

Darum vorher ein bisschen Kontext für die Dinge, die ich hier zusammentrage:
  • Ich werfe niemandem Antisemitismus vor. Mir geht es darum, den tief liegenden, auch kulturell sehr tief verwurzelten Antisemitismus sichtbar zu machen, der hinter und unter bestimmten Erzählungen und Darstellungen liegt.
  • Es wäre naiv, anzunehmen, dass rund 2000 Jahre stabiler und wirkmächtiger Antisemitismus keine Spuren hinterlassen hätten. Sehr viel Literatur und sehr viel Denken bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist von Antisemitismus und Judenhass durchzogen. Der Versuch der endgültigen Vernichtung sowohl der jüdischen Religion als auch des jüdischen Volkes hat das auf die Spitze getrieben. Damit ist in Europa eine neue Situation entstanden, die viele Menschen sensibel gemacht hat für die jahrhundertealte Tradition. Anderswo gab es diesen Bruch nicht.
  • So wie überall gibt es auch das Phänomen des Selbsthasses. Bei den Antideutschen, traditionell bei vielen russischen Intellektuellen, unter Jüdinnen. So wenig wie eine Antideutsche als Kronzeugin herhalten kann, dass alle Deutschen scheiße seien, so wenig kann jüdischer Antisemitismus helfen, zu begründen, warum etwas nicht antisemitisch sei.
  • Antisemitismus ist eigentlich das falsche Wort. Ja, das weiß ich, ich bin Theologe, remember. Korrekt müsste ich von Antijudaismus sprechen, denn Semiten sind alle semitischen Völker, darunter viele, in denen heute ein sehr großer Teil der Bevölkerung Israel vernichten will und Jüdinnen und Juden hasst. Aber politisch hat sich der Begriff Antisemitismus eingebürgert. Darum bleibe ich hier dabei. Vor allem aus Gründen der Verständlichkeit. Und weil in Europa Judenhass, seitdem er kritisiert wird, als Antisemitismus bezeichnet wird.

1. Die brutale Rachereligion

In den letzten Tagen wurde rauf und runter, vor allem auf Facebook, ein Video von 2012 geteilt, mit dem eine amerikanische jüdische Künstlerin auf das Lied "This Land is Mine" das ewige Abschlachten in dem Landstrich, in dem heute wieder Israel liegt, darstellt.

Dieses Video ist auf so vielen Ebenen unerträglich, dass es fast schwer ist, irgendwo anzufangen. Mein Pastor Peter Fahr hat es - pikanterweise als Reaktion auf die Veröffentlichung des Videos auf der Facebookseite unserer Kirchenzeitung - aber sehr gut zusammen gefasst. Denn das Video ist sowohl historisch als auch theologisch und politisch einfach nur falsch.

Was macht es antisemitisch? Vor allem zwei Aspekte, die sofort ins Auge springen: Zum einen, dass nur (und wirklich nur) die Juden im Video das Symbol ihrer Religion als Waffe benutzen. Niemand anders tut das. Die Muslime nicht mit dem Halbmond, die Ägypter nicht mit dem Skarabäus, die Assyrer nicht mit ihren Symbolen und so fort. Allein die jüdische Religion ist gewalttätig, in allen anderen Fällen ist es die weltliche Macht. Und zum anderen diffamiert bereits der Titel des Films in Buchstaben, die an das hebräische Alphabet erinnern sollen (und die ikonografisch exakt den Titel des wirkmächtigsten Nazifilms "Der ewige Jude" nachbilden), die jüdische Religion - wenn nur gezeigt wird, dass diesem Satz Gottes diese entsetzliche Gewalt folgt. Und die anderen Herrscher - Assyrer, Ägypter, Hethiter, Sumerer, Griechen, Römer, Araber, Kreuzfahrer, Engländer etc. - singen dieses Lied fröhlich weiter, als ob der jüdische Anspruch nur einer unter vielen wäre. Der Satz ist aber ein Satz Gottes. Und es wird in der Bibel immer wieder betont: Das Land gehört Gott und ist den Juden nur geliehen. Die historisch unwahre Gleichsetzung von Judas Makkabäus mit den Eroberern des Landes fällt da im Verhältnis kaum noch ins Gewicht und ist vielleicht nur für Thoeloginnen erkennbar.

Wenn jemand vorsichtig anmerkte, wie schlimm das Video sei, wurde oft geantwortet, dass doch aber Frau Paley eine anerkannte Künstlerin und außerdem Jüdin sei. Auch das ist aber ein unhistorisches Argument, das keines ist. Im 19. Jahrhundert waren unter den härtesten Antisemiten etliche Juden. Das ist - siehe oben der Vergleich mit den Antideutschen - sozusagen Normalität. Zumal ihre Website zeigt, dass sie selbst offenbar vom Hass auf ihre Religion und auf die Thora zerfressen ist.


2. Der Landklau

Auch dieses Bild wird viel rumgereicht, um zu zeigen, dass es mehr als verständlich sei, dass die Palästinenserinnen zornig seien und sich wehrten. Wie falsch und absurd dieses Bild ist, hat Bernd Schade ausführlich mit einer Bildmeditation geschrieben. Hier sei nur auf die wichtigsten Aspekte verwiesen.

Der antisemitische Kontext ist dabei vor allem das Narrativ vom raffgierigen Juden, der sich Land unter den Nagel reißt, das ihm nicht gehört. Verbunden mit der antisemitischen Erzählung, dass die Juden nun mal selbst schuld seien an ihrer Verfolgung und daran, dass alle andere sie hassen würden.

Das sind sozusagen die hinter diesem Bild liegenden Motive, die es sofort einleuchten lassen, dass im aktuellen Krieg gegen Israel eigentlich Israel und die Juden schuld sind. "Und die Juden" ist in diesem Fall notwendig, weil die Karten ja auch bewusst jüdische Siedlung vor der Staatsgründung mit einbeziehen. Das eigentlich perfide an dem Bild ist aber, dass es bei gleicher Färbung und teilweise gleiche Beschriftung komplett unterschiedliche Dinge abbildet. Bei Bernd ist es ausführlich dargestellt - aber zusätzlich werden auch, je nachdem, was opportun ist, um die Botschaft vom jüdischen Landraub zu untermauern, entweder jüdische oder palästinensische Siedlungsgebiete und Landbesitz einfach ausgeblendet. Mal so, mal so.

Es entsteht ein konsistentes Bild der systematischen Vertreibung der eingesessenen Bevölkerung durch die raffgierigen Juden, die darum nun mal damit leben müssen, dass sie wieder ins Meer geworfen werden sollen. Dass das weder mit diesen Karten tatsächlich gezeigt wird noch in dieser Form wahr ist, spielt dann kaum noch eine Rolle. (Bei allen Fehlern, die die Besatzungsmacht England, die die UNO, die auch vorher schon die zionistischen Siedlerinnen und Siedler gemacht haben, die unbestritten sind.)


3. Der ewige Jude

In der aktuellen Eskalation auf Demonstrationen zur Solidarität mit der Hamas und den Palästinenserinnen kommen etliche tiefe antisemitische Erzählungen an die Oberfläche. Tatsächlich hoffe ich ja, dass persönliche Berichte wie der von Juna vom Wochenende die eine oder andere nachdenklich machen, in welches Fahrwasser die eigene Solidarität da gerät.

Ich werfe niemandem vor, dass sie in der Bewertung der Schuld am aktuellen Krieg gegen Israel die gleiche Position vertritt wie offen antisemitisch agierende Menschen, ich möchte ja auch nicht, dass ihr mir vorwerft, dass ich in dieser Frage mit unappetitlichen Rechtspopulistinnen einer Meinung bin. Nur bitte ich darum, einmal zu gucken, inwieweit das antisemitische Motiv des "ewigen Juden" im Hintergrund schwelt.

An zwei Stellen wird das für mich deutlich. Zum einen tatsächlich an der Fixierung auf den Israel-Krieg. Erst der Krieg um Israel mobilisiert viele Menschen, emotionalisiert sie. Der Krieg um Syrien oder die Ukraine nicht. Das ist nicht an sich schlimm, offenbart aber eine Fixierung, die ohne einen Hinweis darauf, dass Israel ein jüdischer Staat ist, kaum erklärbar wäre. Auch der ewige Verweis auf Konzentrationslager und Nazis gehört in den Kontext. Die Vorstellung, das Volk, das knapp der vollständigen Vernichtung entkommen ist, habe sich moralisch und ethisch anders zu verhalten, ist zutiefst antisemitisch in seiner Fixierung auf den ewigen Juden.

Zum anderen hat mich wirklich bestürzt, was eine Freundin mir letzte Woche erzählte. Dass sie Jüdin ist, wusste ich nicht, sie erwähnte es nebenbei, als wir über antisemitische linke Kommentare sprachen, die einige auf meiner Facebook-Seite hinterließen, bevor ich sie blockte. Und sagte, dass sie in ihrem Studium und in ihren Jobs (vollkommen akademisches Mittelschichtumfeld ohne muslimische Einwanderer) oft die Antwort bekam, sie sähe gar nicht aus wie eine Jüdin, wenn beiläufig bekannt wurde, dass sie eine ist.

Das "meint niemand böse" und wahrscheinlich ist sich auch kaum eine bewusst, dass es nicht mehr nur verdeckt sondern offen antisemitisch ist - aber das erschreckt mich doch. Es ist erklärbar, Jahrhunderte Erzählung vom "ewigen Juden", eine systematische Vermessung von Nasen etc. müssen ja nachwirken. Aber es ist weder eine Kleinigkeit noch witzig.


4. Die Kinderschänder

Ob Brunnen vergiften oder Kinder schänden - "die Juden" sind immer an allem Schuld gewesen. Ich nehme an, dass Jürgen Todenhöfer, der wieder einmal im TV seine kruden Thesen ausbreiten darf, jede verklagen würde, die ihn einen Antisemiten nennt (was übrigens auch ein typisches Motiv ist, auch in von mir beendeten und gelöschten Kommentaren auf meinem Facebook-Profil gab es Klagedrohungen bei Hinweisen auf antisemitische Muster in Argumentationen). Mit seinen Fotomontagen oder gestellten Fotos auf Facebook aktuell bedient er aber klassische Erzählungen.

Wie mit dem leuchtend staubfreien Kinderspielzeug in zerstörten Häusern. Ohne auch nur ein offen antisemitisches Wort sagen zu müssen, schreit dieses Bild: Seht her, diese Juden schänden die Kinder. Vergiften die Brunnen. Während die armen Opfer, wenn sie sich wehren, lediglich eine Sauna zerstören. Was ein weiteres Motiv bedient - denn was drückt den absurden Reichtum "der Juden" besser aus als eine Sauna (!) in einem der heißesten Flecken rund ums Mittelmeer. Der jüdische Wucherer lässt grüßen.

Dass Todenhöfers Bilder und Geschichten so einen Widerhall finden, hängt auch (nicht nur, klar) mit den tiefen, über Jahrhunderte gewachsenen Ressentiments und Vorurteilen zusammen, was und wie Juden seien. Er muss und wird (nehme ich an) keine antisemitischen Worte nutzen. Braucht er auch nicht.


5. Auge um Auge

Der historische zivilisatorische Fortschritt, aus Rache keine Eskalation zu suchen sondern nur eine Kompensation, wurde in der europäischen Geschichte des Antisemitismus immer wieder gegen die jüdische Religion gewandt. Hier die Rachereligion (siehe oben), da die andere Wange, die hingehalten wird.

Dass die Autoritäten der Palästinenserinnen statt Bunkern und Schutzzäunen und einer Raketenabwehr lieber Abschussrampen und Tunnel für den Waffenschmuggel bauen, ist fast egal, wenn das Ungleichgewicht der Kinder, die in diesem Krieg sterben, so krass ist.

Wenn radikalisierte Menschen sich als Schutzschild auf Waffenlager stellen, kann man sie dann wirklich Zivilistinnen nennen? Und dass Israel seine Bevölkerung schützt, Bunker baut, Warnungen rausgibt, einen Zaun und eine Raketenabwehr installiert, ist wertlos, wenn es nur dazu führt, dass die Schuldfrage durch das Zählen von toten Menschen moralisch eindeutig geklärt werden kann.

Dass sie nicht die andere Wange hinhalten, dass sie sich weigern, sich ausrotten zu lassen - dieses gegen Israel zu verwenden, ist anders als mit Antisemitismus kaum noch erklärbar. Vielleicht ist es eher das "ewiger Jude"-Motiv, ich weiß es nicht. Aber der Bodycount, das Aufrechnen von Toten in diesem Krieg für eine moralische Bewertung der Schuld an diesem Krieg, lässt mich fast ratlos zurück, nachdem der ohnmächtige Zorn sich gelegt hat. Denn diesem Punkt ist mit Argumenten noch weniger beizukommen als den anderen, klarer antisemitischen Motiven. Er ist einfach nur absurd und verquer.

7.5.14

Kontinuität und Widerstand

Ich interessiere mich schon lange mehr für die Kontinuitäten als für die vermeintlichen Brüche in der Geschichte. Gerade die (biografischen) Linien über Umbrüche hinweg sind mir spannende Forschungsfelder gewesen. Als ich 1991 bei Werner Durth eine unglaublich dichte und inspirierende Sommerakademie zu Städtbau besuchte, habe ich erstmals einen Historiker kennen gelernt, der dieses methodisch so machte. Sein Buch Deutsche Architekten (Leseempfehlung!) habe ich verschlungen und mehrfach gelesen.

Kontinuität
Ähnlich ging mir das mit dem für mich inspirierendsten Buch der letzten Monate: Writing on the Wall von Tom Standage. Kernthese des Buchs, der ich zustimme übrigens: Social Media ist uralt und die "Normalform" von Mediennutzung über die letzten zwei Jahrtausende gewesen - von der zeitlich fast zu vernachlässigenden kleinen Unterbrechung der letzten 150 Jahre seit der Gründung der ersten Massenzeitung 1843 einmal abgesehen, in der das "Broadcast-Modell" kurz einmal vorherrschte.

Was ich so unglaublich erleichternd und erhellend an Standages Buch finde, ist eben dieser Blick in größeren Zusammenhängen und Linien auf ein Phänomen, das Teilen meiner Generation immer noch Angst macht. Und auf die Komik, mit der sich bei jeder (medientechnischen) Weiterentwicklung die selben Argumente wiederholen. So wie Plato schon gegen Schriften wetterte, weil sie das Denken und Argumentieren schädigten. So wie Erasmus gegen die Druckerpresse wetterte, weil es die Leute dazu verleite, zeitgenössische Schriften und nicht die Klassiker zu lesen. So wie im 17. Jahrhundert gegen die Kaffeehäuser gewettert wurde (aus denen die meisten Erfindungen, Erkenntnisse inklusive Newtons Durchbruch, und bis heute wichtigen Firmen wie die Londoner Börse oder Lloyd's of London stammen), weil die die Studenten und Kaufleute zu Müßigang und mangelnde Produktivität verführten und so weiter. Kennt ihr ja alle, die Argumente.

Und so, wie die historischen Linien in der größeren Sicht spannender werden und Menschen, die sich auch nur rudimentär mit Geschichte und Geistergeschichte beschäftigt haben, angesichts vieler "Diskussionen" heute nur resigniert mit den Achseln zucken lassen, so ist auch der Blick auf Analysen und Begründungen von Widerstand interessant, die es vorher einmal gab.

Widerstand
Darum ist - für mich tatsächlich überraschend, auch wenn ich ihm inhaltlich ja fast immer zustimme, schließlich sind wir eigentlich geklonte Geschwister (sagt man das so?) - Sascha Lobos diesjährige re:publica-Rede der zweite Inspirationspunkt dieses Monats. Zumal er sich an einer entscheidenden, wenn nicht der entscheidenden, Stelle auf den aus meiner Sicht größten Gesellschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts bezieht: Herbert Marcuse. Ich bin mir, auch nachdem ich mit ihm kurz darüber sprach, nicht zu 100% sicher, ob er sich wirklich der disruptiven Kraft bewusst ist, die sein Verweis auf Marcuse in der Diskussion bedeuten kann.

Secundus und sein PferdAber es ist wohl kein Zufall, dass Secundus, noch 16 Jahre alt, sich Marcuses aus meiner Sicht wichtigstes Buch Der eindimensionale Mensch (Lesebefehl! Echt jetzt!) am letzten Wochenende aus meinem Bücherschrank nahm und begonnen hat, es mit Genuss zu lesen. Er trägt ja auch eine ähnliche Frisur wie der Herr Lobo, wenn auch aus anderen Gründen.

Marcuse war schon in der Generation meiner Eltern einer der wichtigsten Denker und Argumentierer des Widerstandes. Und ein brillanter Analytiker von Gewalt (die nach seiner Definition immer nur aus einer Machtposition heraus ausgeübt werden kann, weil das, was andere Gewalt nennen oder Terror, wenn er nicht aus der Führungsmacht der Elite heraus kommt, eben keine Gewalt sei sondern Widerstand) und der Macht in den Strukturen und Technologien. Was ja auch der Punkt ist, den Sascha anspricht und von ihm aufgreift.

Manchmal wünsche ich mir, dass die Diskussion über die Sicherheitsesoteriker und Kontrollfanatiker mit mehr historischen Kenntnissen geführt würde. Eine Lektüre von Standages Buch (kommt wohl dieses Jahr noch auf deutsch raus) und das Ansehen von Lobos Rede kann dazu der erste Schritt sein. Und wer richtige Lektüre ertragen und verstehen kann, sollte dringend Marcuse lesen.

Und dann reden wir weiter, ok?




Update 8.5.:
In dem Sinne: Weitermachen
(Hinweis auf das Bild fand ich bei André Vatter, der es anders sieht als ich)