Kampf um Deutungshoheit: Erst die Mitte der Gesellschaft in die rechte Ecke drängen und dann einen Rechtsruck beklagen.
— Martin Recke (@mr94) January 13, 2016
Stimmt das? Stimmt das wirklich? Habe ich mich beispielsweise selbst so verändert? Bin ich sehr weit nach links gerückt in den letzten Jahren (wie Martins Aussage ja impliziert) oder bin ich bei gleichbleibender Überzeugung nur innerhalb des bestehenden Koordinatensystems viel weiter links wahrnehmbar (wie ich es immer annahm)?Das hat mich tatsächlich relativ stark beschäftigt, weshalb ich etwas nachlesen und nachdenken musste, bevor ich darüber schreiben konnte. Aber ich bin inzwischen überzeugt, dass Martin irrt. Dass das, was er "Mitte der Gesellschaft" nennt, nicht nach rechts gedrängt wurde, sondern sich dahin begeben hat. Und das bringt mich um den Schlaf.
Der eine Vorteil eines langjährigen Blogs ist ja,
dass sich anhand von Texten und Äußerungen Veränderungen nachvollziehen lassen. Und dabei stelle ich fest - nein, ich habe mich politisch und im Blick auf dieses Land nicht wesentlich verändert seit 2003. Was ja schon eine längere Zeit ist. Wohl aber werde ich anders verortet. 2003 war ich noch (obwohl bei den Grünen) eher mittig und gehörte beispielsweise zum "rechten" Flügel meiner Partei. Heute befinden sich sehr viele bei den Grünen rechts von mir, in der politischen Diskussion insgesamt auch mehr als damals. Und vor allem gibt es eine deutliche Politisierung, scheint mir - ähnlich wie in den USA, in denen ja auch seit dem Erstarken der Rechtspopulistinnen innerhalb der Republikaner der Riss und auch die Politisierung der Gesellschaft massiv zunehmen.
Da lande ich auf dem Profil eines "besorgten Bürgers", aka Hater, der D für eine Diktatur hält, und der hat gleich 3 Follower die ich kenne.
— Stephan Mosel (@Moe) January 25, 2016
Vielleicht liegt es daran, dass ich (noch) nicht den Mund halten will, wenn mir etwas über den Weg läuft, was mir Angst macht oder was ich für gefährlich halte. Vielleicht auch daran, dass ich überproportional visibel bin im Aufbau einer Willkommenskultur im Stadtteil und in der Stadt. Jedenfalls sehe ich in der letzten Zeit einfach zu viel von dem, was in der Vergangenheit nicht sichtbar war. Darum kann ich den (von mir so empfundenen) naiven Optimismus, den beispielsweise Bernd Ulrich letzte Woche in der Zeit in Bezug auf die Menschen in diesem Land hatte, nicht nachvollziehen. Und ich empfinde es - offenbar im vollständigen Gegensatz zu Martins Tweet oben - auch eher als ein Zeichen, dass sich die "Normalkoordinaten" in der politischen Gesellschaft und im politischen Diskurs massiv nach rechts verschoben haben, wenn eine Regierung wie in Polen als "national-konservativ" bezeichnet wird (gestern rauf und runter in den Berichten im Deutschlandfunk, immer wieder in der Zeit und anderen seriösen Printmedien und aktuell rund um die Handball-EM). Wenn das noch als konservativ gilt. Wenn ein Alexander Gauland ein klar faschistisches Blatt im TV unwidersprochen als "konservativ" bezeichnen kann - und in den anschließenden Analysen zwar dieses kritisiert wird, aber mit keinem Wort erwähnt, dass er exakt auf der Linie eben dieses Blattes liegt und die "Junge Freiheit", bei der noch vor wenigen Jahren Konsens war, dass sie ein faschistisches Blatt sei, ihn für zu rechts hält. Wenn es
Bei der AfD beginnen die letzten diskursiven Sicherungen durchzubrennen. (Bild: @tagesschau via Facebook) pic.twitter.com/dbfgF665kQ
— Nils Markwardt (@FJ_Murau) January 25, 2016
Sorry, aber wenn die AfD nicht von allen normalen Menschen als rechtsradikale Partei bezeichnet wird, dann hat sich das Koordinatensystem verschoben. Und das bringt mich um den Schlaf.Ebenso wie die Tatsache, dass neben der lustvollen Selbstviktimisierung überaus privilegierter Menschen vor allem die Vorstellung immer mehr Menschen (auch in meiner Umgebung) befällt, wir befänden uns aktuell in einer Wiederkehr der Situation von 1989. Und zwar nicht etwa, weil die Stimmung explosiv sei (auch dann fände ich den Vergleich hanebüchen) - sondern weil das "Merkelregime" so weit von Volk abgekapselt sei wie das Honeckerregime damals. Weil die Medien in diesem Land genau solche Staatsmedien seien wie die in der DDR 1989. Weil eine Volksbewegung genauso wie 1989 in der DDR die Demokratie wieder herstellen müsse und werde.
AK 74 |
(und Gleichgesinnte auffordern, sich einen "kleinen Waffenschein" zu besorgen), hatte die "Welt am Sonntag" diese Woche nichts besseres zu tun, als auf dem Titel zu erklären, wie man ganz einfach (allerdings illegal) an eine Kalaschnikow komme.
Da bekommen die Vergewaltigungs- und Todesdrohungen, die viele meiner Freundinnen seit einigen Monaten erhalten, doch eine ganz neue Note.
Und das bringt sie um den Schlaf.
Und dazu, was das alles mit dem Internetz zu tun hat und mit Social Media, schreibe ich als nächstes, vielleicht Ende der Woche oder so. [Update: done.]