25.1.16

Denk ich an Deutschland

Wahrnehmung. Ist ja immer so eine Sache. Weshalb ich es als Gewinn betrachte, sowohl in der Kohlenstoffwelt als auch online Gesprächspartnerinnen zu haben, die nicht meiner Meinung sind. Denn meine kenne ich ja schon. So wie meine Großeltern, beide 90, immer sagen, warum sie nicht in eine Altenwohnanlage wollen. Nicht weil sie sich nicht alt fühlen, sondern "weil wir selbst alt sind, da ist es doch schön, junge Leute um sich zu haben". Aber das ist noch mal ein anderes Thema. Martin Recke beispielsweise schätze ich sehr, obwohl wir religiös und politisch und bei so vielen anderen Dingen eher über Kreuz sind. Darum machte mich dies von ihm nachdenklich:
Stimmt das? Stimmt das wirklich? Habe ich mich beispielsweise selbst so verändert? Bin ich sehr weit nach links gerückt in den letzten Jahren (wie Martins Aussage ja impliziert) oder bin ich bei gleichbleibender Überzeugung nur innerhalb des bestehenden Koordinatensystems viel weiter links wahrnehmbar (wie ich es immer annahm)?

Das hat mich tatsächlich relativ stark beschäftigt, weshalb ich etwas nachlesen und nachdenken musste, bevor ich darüber schreiben konnte. Aber ich bin inzwischen überzeugt, dass Martin irrt. Dass das, was er "Mitte der Gesellschaft" nennt, nicht nach rechts gedrängt wurde, sondern sich dahin begeben hat. Und das bringt mich um den Schlaf.

Der eine Vorteil eines langjährigen Blogs ist ja, 
dass sich anhand von Texten und Äußerungen Veränderungen nachvollziehen lassen. Und dabei stelle ich fest - nein, ich habe mich politisch und im Blick auf dieses Land nicht wesentlich verändert seit 2003. Was ja schon eine längere Zeit ist. Wohl aber werde ich anders verortet. 2003 war ich noch (obwohl bei den Grünen) eher mittig und gehörte beispielsweise zum "rechten" Flügel meiner Partei. Heute befinden sich sehr viele bei den Grünen rechts von mir, in der politischen Diskussion insgesamt auch mehr als damals. Und vor allem gibt es eine deutliche Politisierung, scheint mir - ähnlich wie in den USA, in denen ja auch seit dem Erstarken der Rechtspopulistinnen innerhalb der Republikaner der Riss und auch die Politisierung der Gesellschaft massiv zunehmen.
Vielleicht liegt es daran, dass ich (noch) nicht den Mund halten will, wenn mir etwas über den Weg läuft, was mir Angst macht oder was ich für gefährlich halte. Vielleicht auch daran, dass ich überproportional visibel bin im Aufbau einer Willkommenskultur im Stadtteil und in der Stadt. Jedenfalls sehe ich in der letzten Zeit einfach zu viel von dem, was in der Vergangenheit nicht sichtbar war.

Darum kann ich den (von mir so empfundenen) naiven Optimismus, den beispielsweise Bernd Ulrich letzte Woche in der Zeit in Bezug auf die Menschen in diesem Land hatte, nicht nachvollziehen. Und ich empfinde es - offenbar im vollständigen Gegensatz zu Martins Tweet oben - auch eher als ein Zeichen, dass sich die "Normalkoordinaten" in der politischen Gesellschaft und im politischen Diskurs massiv nach rechts verschoben haben, wenn eine Regierung wie in Polen als "national-konservativ" bezeichnet wird (gestern rauf und runter in den Berichten im Deutschlandfunk, immer wieder in der Zeit und anderen seriösen Printmedien und aktuell rund um die Handball-EM). Wenn das noch als konservativ gilt. Wenn ein Alexander Gauland ein klar faschistisches Blatt im TV unwidersprochen als "konservativ" bezeichnen kann - und in den anschließenden Analysen zwar dieses kritisiert wird, aber mit keinem Wort erwähnt, dass er exakt auf der Linie eben dieses Blattes liegt und die "Junge Freiheit", bei der noch vor wenigen Jahren Konsens war, dass sie ein faschistisches Blatt sei, ihn für zu rechts hält. Wenn es besorgte Bürger der Mob normal findet, zu Lynchjustiz aufzurufen. Wenn hohe AfD-Funktionärinnen nach und nach ihre Maske fallen lassen.
Sorry, aber wenn die AfD nicht von allen normalen Menschen als rechtsradikale Partei bezeichnet wird, dann hat sich das Koordinatensystem verschoben. Und das bringt mich um den Schlaf.

Ebenso wie die Tatsache, dass neben der lustvollen Selbstviktimisierung überaus privilegierter Menschen vor allem die Vorstellung immer mehr Menschen (auch in meiner Umgebung) befällt, wir befänden uns aktuell in einer Wiederkehr der Situation von 1989. Und zwar nicht etwa, weil die Stimmung explosiv sei (auch dann fände ich den Vergleich hanebüchen) - sondern weil das "Merkelregime" so weit von Volk abgekapselt sei wie das Honeckerregime damals. Weil die Medien in diesem Land genau solche Staatsmedien seien wie die in der DDR 1989. Weil eine Volksbewegung genauso wie 1989 in der DDR die Demokratie wieder herstellen müsse und werde.

AK 74
Nachdem diese Menschen beginnen, sich zu bewaffnen
(und Gleichgesinnte auffordern, sich einen "kleinen Waffenschein" zu besorgen), hatte die "Welt am Sonntag" diese Woche nichts besseres zu tun, als auf dem Titel zu erklären, wie man ganz einfach (allerdings illegal) an eine Kalaschnikow komme.

Da bekommen die Vergewaltigungs- und Todesdrohungen, die viele meiner Freundinnen seit einigen Monaten erhalten, doch eine ganz neue Note.

Und das bringt sie um den Schlaf.



Und dazu, was das alles mit dem Internetz zu tun hat und mit Social Media, schreibe ich als nächstes, vielleicht Ende der Woche oder so. [Update: done.]

15.1.16

Alle Christen hassen Homos

Seit vielen Jahren setze ich mich sehr kritisch mit "dem Islam" auseinander. Mindestens seit 2010 auch hier im Blog (auf die Schnelle fand ich keinen älteren Beleg hier). Wahrscheinlich stört es mich deshalb so sehr, wenn ich in den letzten Tagen und Wochen immer wieder von Leuten auf Interviews mit "Islamkritikerinnen" aufmerksam gemacht werden, deren Tenor in etwa ist: Ich weiß das, denn ich komme aus einer islamischen Familie. Und alle muslimischen Männer verachten Frauen und alle muslimischen Mütter erziehen ihre Söhne zu Frauenhassern. Und so weiter und so ähnlich.
Wie die meisten, die mich schon länger als zwei, drei Tage lesen, wissen, bin ich mehr als nur skeptisch, was den organisierten Islam, auch und vor allem den in Deutschland angeht. Und ja, wer sich ein bisschen mit Geschichte auskennt, weiß, dass das organisierte Christentum auch nicht direkt aus seinen Institutionen heraus die ersten Schritte gemacht hat, um im Zuge der Aufklärung und vor allem dann im Zuge der Modernisierung nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs (die für die Kirchen theologisch noch weit prägender und verändernder war als das Versagen der nicht-lutherischen Kirchen während des Nationalsozialismus) ein auf Freiheit und Menschenfreundlichkeit ausgerichtetes Selbstverständnis zu entwickeln. Und ja, Teilen des organisierten Christentum (glücklicherweise nur in einer sehr verschwindenden, wenn auch lauten Minderheit) ist das bis heute nicht gelungen. Und ja, die unterschiedlichen Erfolgsgeschichten von Islam und Christentum hängen auch damit zusammen, dass sie - nach meiner Auffassung - in unterschiedlich starkem Maße den Keim zur Aufklärung und zum Selbstdenken in sich tragen. So weit dazu.

Aber: So wenig, wie wir aus einem durchgeknallten Erzbischof in Spanien [Edit: auch die Meldung in dieser Quelle und nicht nur in der gewohnt unseriösen, die ich nicht verlinke, die runter und rauf gereicht wurde die Tage, ist falsch und basiert auf einer Lüge. Ist sozusagen das QED der These dieses Posts hier, was fast schon skurril ist. Also: der Bischof mag durchgeknallt sein, was ich nicht weiß, aber er hat ausdrücklich das Gegenteil dessen gesagt, was ihm vorgeworfen wird. Paradoxerweise ist das schon ohne Spanischkenntnisse in dem auch bei der HuffPo verlinkten Originaltext seiner Predigt sofort zu erkennen. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich den Link nicht vorher aufgerufen habe. Unten im Kommentar von Martin Recke ist ein Link auf eine deutsche Übersetzung der Predigt.] auf alle Christinnen schließen ("wir" sind hier, tschuldigung, alle, die nicht aus ideologischen Gründen genau so argumentieren wie die aus dem Islam Konvertierten), können wir behaupten, alle Moslems, männlich wie weiblich, seien so oder so.

Selbstverständlich ist es Alltagswissen und auch die privatempirische Erfahrung von allen, die mit Jugendlichen arbeiten, dass es unter jungen Männern, die aus muslimischen Familien kommen, überproportional viele gibt, die eine Haltung zu Frauen haben, die sie ausschließlich als Objekt sieht. Nur gibt es auch ganz andere und in unserem Teil von Hamburg beispielsweise leben sehr, sehr viele Familien, in denen das ganz anders ist. Und, erschreckend: diese abstruse Haltung nimmt unter biodeutschen und anderen Jugendlichen aus nicht-muslimischen Umfeldern in den letzten Jahren ebenfalls wieder massiv zu. Was nicht ausschließlich der Einwanderung zuzuschreiben ist, weil es auch in Gegenden so ist, in denen nicht die Kinder der Einwanderinnen milieuprägend sind. Es ist im Gegenteil erschreckend zu beobachten, wie in Milieus und Stadtteilen, in denen eher Mittelschicht und obere Mittelschicht zu Hause ist, "Mackerverhalten" massiv zunimmt. Was übrigens überwiegend aus nicht mehr christlich geprägten Familien heraus passiert.

Ich finde es schräg - und das, obwohl ich religiös und politisch zu den Gegnerinnen des organisierten Islam gehöre - wie bereitwillig und unwidersprochen eine Beschreibung des Islam als so ist dann dann wohl akzeptiert wird, die exakt so ist wie die Beschreibung des Christentums von den religiösen Atheistinnen (so aggressive Lobbygruppen wie die Humanistische Union und andere) - obwohl mit denen nur sehr wenige andere der Meinung sind, dass ihr Zerrbild der christlichen Wirklichkeit in diesem Land entspreche.

Selbstverständlich kann man der Meinung sein, dass Religion an sich das Problem ist. Dass alles Übel aus der Religion kommt. Ungefähr so, wie man auch der Meinung sein kann, dass Vegetarismus an sich das Problem ist, weil der einzige europäische Staatsführer im 20. Jahrhundert, der Vegetarier war, Deutschland in singuläre Verbrechen geführt hat. Merkt ihr, ne?

Als Faustregel setze ich ja bei so was an, dass diejenigen, die sich im Streit von einer Gruppe, zu der sie gehörten, getrennt haben, nicht die idealen Zeugen sind, wenn ich ein sachlich-kritisches Bild von dieser Gruppe haben will. Sei es eine Religion, eine Partei, eine Familie.


5.1.16

Es geht um dich

Köln, Hamburg, Stuttgart und anderswo nach Silvester.

Die gleichen Leute, die bis vor etwa einem Jahr bei jedem Versuch "Genderwahn" oder so was geschrieen haben, wenn über das Verhalten gegenüber Frauen geredet wurde, überschlagen sich nun vor frauenrechtlicher Rechtschaffenheit. Einige derjenigen, die versuchen, dem Pöbel, dem Hass, dem Rassismus entgegenzutreten, der sich als Sorge tarnt, zeigen merkwürdige Tendenzen, das Verbrechen an sich zu relativieren. Manches, was wir gerade sehen, würde in der politischen Theorie wohl als Querfront durchgehen (wie es in Nahost- und Russlandfragen ja schon länger in Deutschland üblich ist, dass sich Querfronten bilden). Zugleich gibt es einen gemeinsamen Aufruhr von feministisch geprägten Linken und Nazis über den (nicht nur verunglückt formulierten sondern grotesk blöden) Vorschlag, Frauen jetzt Verhaltensregeln zu geben.

Was dabei aber passieren könnte oder müsste oder sollte oder was weiß ich, wäre doch eine breite Berichterstattung und Diskussion über sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Ja, es ist naiv, anzunehmen, dass Menschen, deren Abstiegs- und Zukunftsangst sich in dem Hass entlädt, den sie bei sich selbst mit Mühe und Not unterdrücken konnten, so lange sie noch nicht von diesen Ängsten vollkommen zerfressen waren, erreicht werden können. Aber deutet sich nicht eigentlich gerade ein Konsens an, was ein Männer-Verhalten ist, das nicht akzeptabel ist? Zum ersten Mal überhaupt?

Während die Gesellschaft gerade zerfällt, während auf der einen Seite mehr und mehr Menschen desozialisiert werden und auf der anderen Seite eine neue Zivilgesellschaft entsteht (und diese beiden großen Gruppen von Menschen nichts mehr miteinander zu tun haben), entsteht an einem anderen Grundkonflikt unserer Gesellschaft zumindest verbal ein Konsens, der überraschend ist.

Sexualisierte Gewalt geht nie und von niemandem.
Nicht Frauen brauchen Verhaltensregeln sondern Männer müssen die bestehenden Verhaltensregeln akzeptieren. Es ist kein Frauenthema, sondern ein Männerthema. Denn die einzige Gemeinsamkeit, die Täter sexualisierter Gewalt haben, ist, dass sie Männer sind (ok, und, dass sie Arschlöcher sind, ja).

Dieses Thema geht (uns) Männer überall im Alltag an. In der Firma, wenn mal wieder "Jungswitze" gerissen werden. Auf Weihnachtsfeiern, wenn die Geschäftsführer Knotentänze mit den Auszubildenden einfordern. Auf Volksfesten, wenn einer mal wieder wie zufällig die Hände auf die Hüften oder den Po einer Frau legt (oder ihr, wie in jenem heute durch Twitter gereichten Beispiel, "spaßig" unter den Rock greift).

Aufkleber einer Kampagne, die meine Agentur für den Kunden HRA Pharma zurzeit macht

Es kann doch Bitteschön nicht sein, dass wir es "normal" finden, dass Frauen da, wo viele Männer (alkoholisiert) zusammenkommen, angefasst oder angegriffen werden. Ob es auf der Großen Freiheit ist, vor dem Kölner Hauptbahnhof oder auf dem Oktoberfest. Ob beim Karneval oder auf der Weihnachtsfeier der Agentur. Das ist nie normal und das ist immer Arschlochverhalten. Und das hat nichts mit Prüderie zu tun oder damit, dass eine Frau sich irgendwie verhalten sollte, um sich zu schützen (ja, dass sie es tut, ist eine andere Sache, logisch, aber das kann nicht die Forderung oder die "Lösung" sein).

Es geht um dich und mich
Stattdessen hat es etwas mit Zustimmung zu tun. Consent sagt das Englische dazu. Zustimmung. Die Regel ist doch eigentlich so einfach: ohne eine explizite Zustimmung keine Berührung. Punkt. Alles andere ist Gewalt. Es gibt welche, die finden, dass ich damit die "echte" Gewalt kleinrede, wenn ich dies schon Gewalt nenne und als übergriffig bezeichne. Aber ich bin überzeugt, dass wir Männer uns nur dann an diese Regeln halten werden, wenn sie so klar und so eindeutig benannt sind. Und wenn uns klar ist oder klar gemacht wird, dass jede körperliche Grenzüberschreitung Gewalt ist (und viele andere auch, ja).

Es geht um Männer bei diesem Thema. Denn hier haben nicht Frauen etwas falsch gemacht, weil sie sich irgendwo hinbegeben haben. Oder einen (kurzen) Rock anhatten. Oder betrunken waren. Sondern hier haben Männer etwas falsch gemacht. Und dafür gibt es keine Ausreden. Und das müssen wir Männer thematisieren.

Und darum müssen wir Männer gegenüber anderen Männern einschreiten. Ich habe es in der Vergangenheit auch nicht immer gemacht, hatte selbst Angst, oder habe gekündigt. Darum geht es hier auch um mich. Und um dich.

Update 7.1.16, 9.12 Uhr
Dieses gilt übrigens und selbstverständlich auch und/oder erst Recht, wenn die sexualisierte Gewalt gegen Frauen in der Großstädten in der Silvesternacht vor allem ein "Trick" gewesen sein sollte, um Diebstähle begehen zu können. Wir wissen zurzeit ja tatsächlich noch sehr wenig, die "Zeit" fasst das mit Stand gestern (6.1.) Abend gut zusammen. Über die sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu sprechen, ist eines der wenigen Dinge, die aus meiner Sicht tatsächlich angemessen sind jetzt gerade.