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23.2.25

Von sich auf andere

Schon vormittags ist er wählen gewesen. Fragte nach, wann denn das Auszählen sei. Um mit drohendem Unterton anzukündigen, dass er dann als Wahlbeobachter dabei sein werde. Er war so gar nicht der typische Demokratieaktivist. Am Ende waren vier Menschen als Wahlbeobachter*innen da, wobei sie das wohl so nicht sagen würden, weil sie Gendern ablehnen. Das eine Paar hatte auch sein Kind mitgebracht. 

Ich bin gerne Wahlhelfer. Da sehen wir viele unserer Nachbar*innen. Immerhin 341 Menschen aus den vier Dörfern unseres Wahlbezirks waren vor Ort und haben gewählt, nur eine Stimme war ganz ungültig. Und ich kann vor allem das Auszählen wirklich allen empfehlen. Ich sag mal so: wer einmal beim Auszählen in einem Wahllokal dabei war, wird nie wieder annehmen, dass die Wahl nicht mit rechten Dingen zugehe. Es ist kompliziert, sicher, akribisch.

12.6.24

Wie ihre Eltern

In meiner Umgebung hat das Wahlverhalten der jungen Menschen die größte Erschütterung ausgelöst. Mir macht das auch Angst, obwohl es mich weder überrascht noch erschüttert. Aber die Angst kommt von ganz anderen Beobachtungen. Und bezieht sich dann auch wiederum fast mehr auf deren Eltern als auf sie selbst.

Beobachtungen ist dabei das Stichwort. Euphemistisch nenne ich diese anekdotische Evidenz ja gerne Privatempirie. Und ich überschätze sie nicht. Allerdings habe ich in den letzten Jahren gemerkt, dass mich genau dieses Beobachten, diese Privatempirie, nicht so selten schon früher etwas hat erkennen lassen, das dann deutlich später auch echt empirisch gemessen werden konnte oder sich in (Wahl-) Ergebnissen niederschlug. Seitdem bin ich da etwas hellhöriger und lasse mich auch nicht mehr vom Vorwurf, ich würde das alles zu schwarz sehen, irritieren. War bei der US-Wahl 2016 und beim Brexit ja auch nicht zu schwarz sondern leider richtig.

10.6.24

Ach Europa, ach, ach, ach

Vorweg: Das Ergebnis der Europawahl in Deutschland ist aus meiner Sicht ein Desaster. Und das der Grünen ist wirklich schlecht und eine Niederlage und Hypothek. Da gibt es nichts schönzureden. Mich persönlich hat es auch ein bisschen überrascht, weil ich den Eindruck hatte, dass die Hass- und Hetzkampagne und die überproportional viel zerstörten Grünen-Plakate eine gewisse Solidarisierung ausgelöst hatten. Wenn es die gab (wo ich mir nicht mehr sicher bin), hat sie nicht zu Stimmen geführt. Sondern wahrscheinlich ist dies, also die rund 12%, die Baseline. Die übrigens vor wenigen Jahren noch bei 6-7% lag, das aber nur am Rande und als Pfeifen im Walde.

Zerbrochene güne Glasflasche
Foto von CHUTTERSNAP auf Unsplash

Jetzt aber erstmal ein paar erste Gedanken zum Ergebnis und zur Perspektive, die sich daraus ergibt. Zum einen, indem ich das Ergebnis anders einordne. Zum anderen, wenn ich ganz lokal auf die genauen Stimmen gucke. Und zum dritten mit ein paar ersten Schlussfolgerungen.

17.5.23

Beobachtungen (Kommunalwahl)

 Mit zwei Tagen Abstand doch noch ein paar Überlegungen zur Kommunalwahl in Schleswig-Holstein und ganz konkret bei mir auf dem Land. Denn ich finde es fast etwas schade, dass diese Wahl so wenig im medialen Fokus ist außerhalb unserer Lokalmedien – lassen sich doch einige Dinge daraus lernen für die aktuellen Debatten und Strategien auch über die kommunale Ebene hinaus.

12.5.23

Parallelgesellschaft

Am meisten fasziniert mich in den letzten Wochen, wie sehr quasi alle journalistischen Medien mitsamt einem Teil "der Politik" nur noch eine Parallelgesellschaft abbilden – und wie verschwindend deren Relevanz in der Breite zu sein scheint. Aufgefallen ist mir das als Medienextremnutzer inklusive Diskussionsmedien im Kommunalwahlkampf auf dem Land in einer CDU-Hochburg.

Beispielsweise spielte die Desinformationskampagne der CDU über privates Heizen exakt keine Rolle in Gesprächen. Und wenn jemand das Thema ansprach, war es ganz anders als erwartet – eher ein "Ist irgendwie doof für mich, aber muss ja sein". Selbstverständlich haben einige CDU-Kandidaten hier auf den Dörfern in ihren alten Häusern in den letzten Jahren Photovoltaik und Wärmepumpen eingebaut. Was zum Teil auch daran liegt, dass eine bestimmte soziale Schicht für die kandidiert, klar. Selbstverständlich waren nur drei CDU-Gemeindevertreter als befangen rausgegangen, als das Konzept für die PV-Freiflächenanlagen in der Gemeinde beraten wurde. Weil sie nämlich schon mal ihren Bedarf angemeldet haben. So wie die meisten Landwirt*innen.

30.4.23

Haustür

Guten Tag, ich möchte mit Ihnen gerne über Politik sprechen.

Wenn andere Menschen von der Idee des Haustürwahlkampfes hören, denken sie sofort an die Zeugen Jehovas. Für euch getestet. Und das Ungebetene, Überfallartige ist ja auch ähnlich. Selbst wenn die Forschung sagt, dass es das Erfolgreichste in Wahlkämpfen überhaupt ist. Zwei bis drei Prozentpunkte Unterschied kann es machen in einer Gegend. 

Trotzdem trauen sich das die Wenigsten. Es ist unangenehm. Mir auch. Aber in so personalisierten Wahlen wie der Kommunalwahl in Schleswig-Holstein, wo ich keine Parteien wähle, sondern drei Personen im Wahlkreis, wobei die Stimmen dann den Parteien zugeordnet werden, in so personalisierten Wahlen also ist es dennoch wichtig, dass die Menschen einen kennenlernen. 

Gestern wollte ich also an Haustüren. Und merkte, dass ich es doch übergriffig finde, einfach zu klingeln. Die Mischung aus leicht introvertiert und norddeutsch steht mir da im Weg. Aber: bei schönem Wetter in Dörfern unterwegs zu sein, heißt dann auch: viele sind im Garten/auf dem Hof. Habe also trotzdem mit vielen Wähler*innen geredet. Das war total schön, finde ich. Und in den anderen Häusern „meiner“ sieben Dörfer unser Programm und meine Vorstellung eingeworfen. Erstaunlich wenige haben hier glücklicherweise ein Werbeverbotsschild am Briefkasten.

Screenshot der Wahlkampfapp der Grünen: Karte, auf der ich die Haustüren eintragen kann.
Was ich zum ersten Mal beim Verteilen und Sprechen genutzt habe, ist die Wahlkampfapp meiner Partei. Inklusive Gamification-Ansatz. Zumindest theoretisch, wenn nicht immer noch Mecklenburg angezeigt würde. Naja. Aber ich kann die offenen und geschlossenen Türen dokumentieren, die ich aufsuchte. Da kamen einige zusammen. 

Jedenfalls habe ich einige gute Gespräche geführt und das eine oder andere Mal auch diskutiert. Über Tempo 30. Über Heizung. Und viel Freundlichkeit erlebt. Und heute Abend gab es dann Spargel von einem meiner potenziellen Wähler. Mit Kartoffeln von einem Konkurrenten für die Gemeindevertretung. Lecker.

14.4.21

Was für ein Ausblick!

Stell dir mal vor, du bist in einer Partei, in der Olaf Scholz als einzige kanzleramtstaugliche Option gilt. Oder in einer, die die Wahl hat zwischen einem hemmungslosen Populisten und einem netten Tor, der von einem religiös/theologisch rechtsradikalen Katholiken gesteuert wird. Das ist kein Spaß, glaube ich.

Daran musste ich in den letzten Tagen oft denken, wenn ich deren Situation mit der in meiner Partei verglich. Ok, ich bin ein winziges bisschen voreingenommen – aber tatsächlich bin ich extrem dankbar, dass meine beiden Bundesvorsitzenden einen gemeinsamen Vorschlag machen werden, wer von ihnen Kanzlerkandidat:in werden soll. Und dass ich mich dazu nicht entscheiden muss. Denn ich freue mich auf einen Wahlkampf, egal wer von den beiden es wird. Ich kann mir beide super gut vorstellen. Wie toll ist bitte, dass wir Grünen zwei Spitzenleute haben, die gut für das Amt wären? Und damit mehr geeignete Leute als alle anderen Parteien zusammen?

Und sie sind ja sehr unterschiedlich.

Baerbock

Für Baerbock spricht ja gerade, dass sie noch nie regiert hat - und zugleich, wie sie sich innerhalb kürzester Zeit ganz nach vorne durchgesetzt hat. Gerade angesichts des Totalversagens von Regierenden in Ländern und Bund ist „keine Regierungserfahrung“ gerade jetzt fast schon eine Adelung. Und: Sie ist klar, schlau und durchsetzungsstark, hat kleine Kinder. Wäre also eine aufregend neue Kandidatin und Kanzlerin. Sie wäre der Kontrapunkt zu einer erschlafften Koalition, gerade auch zu Scholz, den hölzernen.

Habeck

Und Habeck finde ich schon seit vielen Jahren sehr aufregend. Seit Engholm hat mich kein Spitzenpolitiker mehr so sehr intellektuell und habituell angesprochen und angeregt. Gerade in der jetzigen Situation finde ich die Vorstellung eines Philosophen im Kanzleramt inspirierend. Zumal sein letztes Buch wirklich toll war, sehr viel besser, als ich es erwartet hätte. Das Wahlprogramm atmet, vor allen in den Randkapiteln, seine Sprache, was ich toll finde. Und sein Konzept der Bündnispartei, das ich schon länger propagiere als er selbst, überzeugt – gerade im Vergleich zum absurden Schauspiel, das die Union gerade abliefert, gerade auch im Gegensatz zum Mackertum eines Söders.

Ausblick

Dass ich mir aus vielen Gründen Baerbock als Kanzlerin und als Kandidatin wünsche, sage ich ja sehr oft in letzter Zeit. Genau so oft, wie ich in den letzten Jahren das gleiche über Habeck gesagt habe. Beide wären super, denke ich. Was für ein Luxus!

Beide haben die Bündnisfähigkeit und die Mehrheitsfähigkeit der Grünen in den letzten Jahren gemeinsam geprägt und hergestellt. Wie sehr die Ideen einer Partei, die für ein politisches Lebensgefühl steht, die Politik als Prozess versteht, die Bündnisse sucht und identitätspolitische Koalitionen – wie sehr alle diese Ideen, die viele von uns seit zehn Jahren in Analysen und Strategiepapieren aufgeschrieben haben (auch ich, auch hier im Blog seit 2010 in etwa), inzwischen die politische Realität der Grünen prägen, ist auch und gerade das Verdienst der beiden. Weil sie gerade in ihrer Gegensätzlichkeit und mit ihren unterschiedlichen, auch kommunikativ unterschiedlichen Ansätzen erst im Zusammenspiel diese Kraft entfalten konnten.

Der Luxus, den wir als Partei und auch als Land haben, ist, dass es in dieser Situation fast egal ist, wer von beiden die nächsten Jahre die Regierung anführt.  Und darum auch erstmal den Wahlkampf. Weil etwas in Bewegung geraten ist. 

Für jede von ihnen spricht einiges. Ich bin super gespannt, wie es gelingt, dieses auszutarieren. Und welche Wette auf die Zukunft wir machen. Sagte ich schon, dass ich mich (trotz, vielleicht auch wegen all der Scheiße, in der wir gerade stecken) auf den Wahlkampf freue?

27.5.19

Paralleluniversum


Einige unvollständige kurze Gedanken am Tag nach der Europawahl.

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Ich lebe ja in einem kleinen Dorf am Rande einer Kleinstadt. Unser Wahllokal (rund 500 Wahlberechtigte) umfasst drei Dörfer und eine Siedlung. Zusammen mit den Briefwahlen haben davon gut über 60% auch gewählt. Bei den Stimmen vor Ort haben CDU und Grüne ungefähr gleich viele Stimmen bekommen. Spannend war, bei der Auszählung die CDU-Bauern (Dorfvorsteher und Fraktionschef im Gemeinderat und so) zu erleben, die immer blasser wurden. Das war für die ein echter Schock und ganz ehrlich nicht erwartet. "Kein Wunder bei der Wahlmanipulation diese Woche", war – ganz ohne Schaum und ganz ohne bösen Hintergedanken ausgesprochen – der Satz eines dieser Funktionäre, der mich gestern lange beschäftigt hat. Denn in was für einem Paralleluniversum muss jemand leben, der eine (ok, vorher unerlebte) Meinungsäußerung eines Einzelnen als Manipulation einer Wahl empfindet? Wobei das ja kein Bauern- oder CDU-Ding ist. In der Nacht vor der Wahl twitterte ein Agenturgeschäftsführer aus meinem Landkreis (Ostholstein) aus einer erhitzten Situation heraus die Frage, ob Rezos Video von den Grünen bezahlt sei. Der Mann ist in der SPD übrigens. Auch so ein Paralleluniversum offenbar.
[Tweet inzwischen gelöscht, ebenso der Tweet mit dem Link auf ein rechtes Verschwörungsblog.]

Interessanterweise unterhielten sich ein jüngerer und ein älterer Bauer dann noch darüber, ob sie lieber auch auf Bio umstellen sollten. Und philosophierten über Kretschmann als Kanzler. Habeck hassen sie ja.

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Zur fantasievollen Idee, die Grünen würden halt eine Welle reiten, hatte ich ja gestern kurz was geschrieben, wollte ich extra vor der Wahl machen, nicht, dass es wie Nachtreten aussieht. Wie sehr aber viele überrascht hat, wenn ich den Ausschnitt von Armin Laschet in einer Talkshow richtig verstehe, dass Klimapolitik das Killerthema der Wahl wurde, klingt irgendwie auch nach Paralleluniversum.


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Mit Mecklenburg muss ich mich noch mal beschäftigen, denn während die erste Nazi-Siedlungswelle direkt ab 1990 besonders in Mecklenburg stattfand, sieht es so aus, als ob das Bundesland sich nicht dem ostdeutschen Paralleluniversum anschließt, in dem eine radikale Partei mit Naziverhalten mal wieder stärkste Partei wird.

Bei aller Freude über das bundesweite Ergebnis der Wahl (nur gut 10% Nazis, Grüne bei allen unter 60 stärkste Partei) - wie sähe es aus, wenn dieses Paralleluniversum nicht existierte? Wie viel schneller ginge alles?

Und: Was können die Konsequenzen aus so einer Entwicklung sein? So was wie für Ungarn vorgeschlagen ist - also dass Fördergelder nicht mehr in die Regie des Landes gegeben werden sondern vom Bund direkt verteilt? Oder dass die Bundesländer als gescheitert betrachtet und zwangsverwaltet werden? Oder hat "Die Partei" mit ihrer alten Forderung doch Recht? Es ist zum Verzweifeln, man braucht schon einen guten Magen, um die Sammlung der Ergebnisse ostdeutscher Kreise anzusehen.

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Leute aus der Union weisen ja immer wieder darauf hin, dass die JU die weitaus größte politische Jugendorganisation sei. Dass also die Union durchaus mit jungen Leuten könne. Schade nur, wenn alle, die die Union in dieser Gruppe auch wählen würden, diese Mitglieder sind. Oder so ähnlich. Und sich in einem Paralleluniversum bewegen. Alles also wie immer. Erinnert ihr euch noch an die JU-Mitglieder in eurer Schulzeit? Ja, eben, genau.

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In Kiel sind die Grünen stärker als CDU und SPD zusammen. In Kiel! Nicht nur in Freiburg oder in Altona.

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Immer wieder freue ich mich über Reisende zwischen den Paralleluniversen. Heute morgen beispielsweise Hansjörg Schmidt, mit dem ich nur selten wirklich inhaltlich übereinstimme, aber der schon lange zu denen gehört, die sich wirklich um den Dialog und die Sprechfähigkeit verdient machen, denke ich. Und weil ich ja emotional irgendwie an der SPD hänge und irgendwie auch an Hamburg, wäre es so toll, wenn die Partei ihn weiter nach vorne stellen würde...

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Und dann ist da noch Kretschmer. Kopf -> Tisch.


25.5.19

Ein Lauf? Oder Einlauf?

Ja, höre ich von Konservativen* gerade immer mal, die Grünen haben einen Lauf. So als Antwort, wenn ich erzähle, dass sie in den Provinzschulen bei uns in Schläfrig-Holstein in Schulklassen bei Wahl-o-mat-Stunden und Testwahlen über alle Altersstufen hinweg bei ungefähr 90% landen. Aber ich denke, diese „Analyse“ geht fehl. Das ist kein Lauf der Grünen. Das ist ein Einlauf für CDU und SPD. Wobei ich am Bemerkenswertesten finde, wie (nicht nur bei Jugendlichen) „CDU und SPD“ verwendet wird: wie früher „CDU/CSU“. Kein Unterschied**.

Zwei Dinge fallen mir auf. Und als jemand, der seit mehr als 20 Jahren überzeugter Grüner ist, freut mich das.

Zum einen, dass immer mehr Menschen, junge vor allem, aber längst nicht nur, sich klar für ein Thema entscheiden (können), das für sie Priorität hat. Das sozusagen das Killerthema ist, das alle anderen überlagert. Ich höre sehr viel – und auch das faszinierende YouTube-Statement von nun wirklich nicht nur linken oder liberalen Stimmen zeigt das –, dass egal wie sehr jemand in anderen Fragen mit einer Partei übereinstimmt, die Frage des radikalen und kurzfristigen Klimaschutzes, der nicht mit anderen Fragen „verrechnet“ oder verhandelt wird, zur klaren Nicht-Wahl führt.



 Es ist also nur noch die Frage, ob beispielsweise die Grünen in den anderen Politikfragen akzeptable Antworten haben. Und nicht mehr, ob ich da ziemlich doll zustimme. Das heißt aber eben auch, dass SPD und CDU so viel auf ihre (guten) Konzepte in der Sozial- oder Steuerpolitik oder sonstwo hinweisen können, wie die wollen – ihre praktischen Entscheidungen gegen schnellen Klimaschutz überlagern alles. Das ist kein Gedöns mehr. Sondern, ähnlich wie für Faschisten die Flüchtlingsfrage, die Existenzfrage. Und damit ist es dann eben kein „Lauf“ der Grünen mehr. Sondern ein Einlauf für SPD und CDU.

Und zum anderen erlebe ich bei vielen Konservativen*, wie sie vor allem von Robert Habeck fasziniert und angetan sind. Während für viele Linkere und Grüne Annalena Baerbock immer wichtiger und immer mehr Identifikationsfigur wird, greift Habeck weit über das alte Milieu hinaus. Weil, so kommt es mir vor, eben Stil und sprachliche Schönheit nicht so unwichtig sind, wie es lange schien. Weil er so wirkt, als würde er zuhören. Und wäre fehlbar. Weil er eben nie so selbstgerecht oder dummdreist auf die radikale Kritik reagieren würde wie klassische Vertreterinnen von SPD und CDU. Auf diese Kritik hier:



Dass die Grünen seit etwa 2012 anfingen, kulturell aus ihrer angestammten Szene herauszutreten und anschlussfähig zu werden als Lebensstil-Partei, hat seit damals das Parteiengefüge geöffnet für eine neue Sortierung. Dass sie es dann nach 2015 geschafft haben, sich als einzige Partei eindeutig als Heimat aller zu positionieren, die Nazis und Autoritäre ablehnen, hat das beschleunigt. Dass sie vor 40 Jahren das Thema als Schlüssel- und Killerthema erkannt haben, das nun gerade für immer mehr Menschen zu ebendiesem wird – all das zahlt sich aus. Hoffentlich.

___________
* also SPD- und CDU-Mitgliedern, die (noch) ihre Parteien verteidigen.
** persönlich denke ich ja, dass das in der Breite unfair ist. Aber insofern verdient, als die SPD ja Scholz und Schulze freiwillig nach vorne stellt.

26.9.17

Rechtsruck?

Rechts-um
"Rechtsruck" titelt meine Regionalzeitung und spekuliert über Jamaika oder Neuwahlen. Aber stimmt das? Ich selbst war am Wahlabend erst eher erleichtert, weil ich mit deutlich mehr Stimmen und Prozenten für die AfD gerechnet hätte. Meine der Familie angekündigte schlechte Stimmung ab 18 Uhr blieb quasi aus (zumindest bis ich die ersten Äußerungen von Frau Merkel vor ihrer Partei hörte, da schaltete ich dann den Fernseher aus).

Vor allem aber: ist das wirklich ein Rechtsruck? Ich bin mir nicht so sicher.

Zum einen, weil ich mir tatsächlich nicht ganz sicher bin, ob es jetzt so viele Abgeordnete mehr mit rechtsextremen Ansichten sind, immerhin haben die latent bis offen autoritären Parteien  verloren, die bisher im Bundestag waren: CSU (sehr viel verloren), SPD (viel verloren), CDU (einiges verloren). Ob da jetzt weniger autoritäre Abgeordnete drin geblieben sind oder nicht, weiß ich nicht.

Zum anderen aber führt das starke Abschneiden der Rechtsextremen ja nicht zu einer rechteren Politik in diesem Land. Zwar hat im Bundestag die Linke (wenn ich die SPD dazu zählen will und mit Grünen und PDS Linker kombiniere) jetzt anders als im letzten Bundestag keine Mehrheit mehr. Aber durch das Erstarken der Mitte (FDP und Grüne jetzt mal etwas holzschnittartig dort angesiedelt) hat eben auch die Rechte keine Mehrheit. Auch, wenn die ersten Äußerungen von CDU und vor allem CSU am Wahlabend fast so klangen, als wollten sie eine Konservativ-Rechts-Regierung bilden, hat das ja keine Mehrheit.

Im Grunde sind die angeblichen tektonischen Verschiebungen marginal, die die Wahl erbracht hat. Und so führt das Erstarken des extremen Rands rechts faktisch dazu, dass es die liberalste und vorwärtsgerichtetste Regierung geben könnte, die dieses Land seit dem Willy-Brandt-Sieg 1972 gesehen hat.

Eine Chance für die Mitte

Ich bin nun wirklich kein Fan der FDP – aber ihr Wahlsieg verhindert sowohl eine links-konservative als auch eine rechts-konservative Regierung. Und auch, wenn vor allem angesichts ihres Wahlprogramms die FDP nun wirklich nicht als "links" bezeichnet werden kann, führt ihr Sieg dazu, dass die aus heutiger Sicht einzig mögliche Regierung im Vergleich zum konservativen Mehltau der letzten Jahre faktisch linker sein wird als die letzte.

Dazu ein paar Beobachtungen und Überlegungen:

  • Es ist spannend, dass die Grünen überall da besonders gewonnen haben, wo es keine sichtbaren Linken innerhalb der Partei gibt, wo sie ohne Flügel dasteht. Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Bayern, Hamburg. Alles grüne Landesverbände, die zusammenstehen und gemeinsam Interesse an Gestaltung haben, sehr klassisch grün sind. Und in drei dieser Länder sind die Grünen in einer eher schwierigen Regierungskonstellation und gewinnen trotzdem. Und das, obwohl die verbliebenen Linken annahmen, dass unsere Wählerinnen uns abstrafen würden. Für ein Regieren mit dem Scholzinator, für Jamaika, für eine Juniorpartnerin CDU.
  • Was ich von FDP-Mitgliedern höre und was FDP-Leute seit der Wahl sagen, lässt vermuten, dass sie den Wirtschafts- und Finanzteil ihres Programms entweder nicht kennen oder ignorieren (was, er ist ja hinlänglich analysiert worden von Medien und Wirtschaftsexperten im In- und Ausland, ein ermutigendes Zeichen ist). Dass aber die Grundidee eines Liberalismus (Freiheit sticht Sicherheit; Selbstbestimmung sticht Paternalismus etc) bei einigen durchaus verankert sein könnte. Und Schleswig-Holstein zeigt, dass selbst ein Wirtschaftsminister wie Bernd Buchholz den fortschrittlichen Aufbruch nicht torpedieren oder verhindern kann.
  • Auch, wenn jetzt in den ersten Tagen erstmal das Trennende betont wird, auch betont werden muss. Und auch, wenn vor allem FDP und Grüne nicht so leicht in konstruktive Gespräch finden werden, weil sie um Menschen mit der gleichen Grundhaltung zum Leben konkurrieren. Auch, wenn die CDU und noch extremer die extremistische CSU gerade noch sehr am Wundenlecken sind. Ein Bündnis auf Zeit, das nicht auf einen "kleinsten gemeinsamen Nenner" setzt sondern auf ein größtes gemeinsames Vielfaches, hat eine realistische Chance. Schleswig-Holstein zeigt das.
  • Und Schleswig-Holstein zeigt auch dieses: Eine linkere, liberalere Regierung unter CDU-Führung kann der CDU sehr helfen, ihr konservatives Profil zu schärfen. So widersprüchlich das klingt - aber die Tatsache, dass sie nur noch im Verhältnis 3:2 (konservativ gegenüber liberal) in der Regierung sein würde, wenn Jamaika klappt, kann ihr beim Bedürfnis, die konservative Flanke zu schließen, nur nutzen - weil sie sich deutlich besser auch gegenüber ihrer eigenen Regierung profilieren und abgrenzen kann, wenn sie bereit ist, Streit innerhalb der Regierung auszuhalten und zu führen. Und wenn Merkel den Parteivorsitz abgibt und der Partei eine Chance gibt, sich eigenständig zu zeigen.
  • Die SPD hat sich, so scheint mir, auch jetzt wieder verzockt. Auch wenn zunächst auf der Oberfläche einleuchtet, dass sie mit dem Gang in die Opposition eine Links-Mitte-Alternative zur Rechts-Mitte-CDU bilden könnte, wird sie das Problem der deutlich linkeren, liberaleren Regierung haben. Wenn eine Regierung ohne SPD fortschrittlicher ist als eine mit, dann kann sie sich im Grunde nur als Alternative positionieren, wenn sie sehr deutlich nach links rückt. Und da ist, auf dem Papier ihrer Programme zumindest, bereits die Linke. Und hat die SPD als eine "Linke mit weniger abstrusem Personal" wirklich eine Chance? Ich wünsche es ihr, bleibe aber skeptisch. So wie in den meisten Ländern Europas bleibt der SPD im Grunde nur die Wahl zwischen vollständiger Marginalisierung (wie Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande) oder Re-Radikalisierung (wie in diesen Ländern durch andere Parteien oder in Großbritannien).

Das Neue Narrativ

Auf jeden Fall aber kann diese Wahl, die erst wie ein Rechtsruck und ein Schrecken klingt, der Katalysator für einen Aufbruch sein. Und das Narrativ liefern, das wir so dringend brauchen, wenn wir eine offene, liberale Demokratie haben und uns nicht von den Rechtsextremen treiben lassen wollen. Ein liberaler, freiheitlicher, anti-autoritärer Aufbruch. Ein Reformprogramm, dass auf die Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft der letzten Jahrzehnte reagiert und wieder Lust am Gestalten von Zukunft hat. Eine Regierungshaltung, die Maß am Menschen nimmt und nicht am bestehenden System.

Kombinieren wir dieses positive, nach vorne gerichtete Narrativ mit einer klaren und kompromisslosen Ausgrenzung der Rechtsextremen und ihres parlamentarischen Arms, vor allem, indem wir uns mit ihnen und ihren Themen und Fragen einfach nicht mehr beschäftigen, freue ich mich auf die kommenden Jahre.

Und entweder der Osten kommt mit auf diesem Weg. Oder eben nicht. 

8.9.17

Zur Wahl

Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen
in die Kasernen der Vergangenheit.
Glaubt nicht, daß wir uns wundern, wenn ihr schreit.
Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schreien.

grölende Menschen in Finsterwalde
Finsterwalde. Wie passend.



Ihr kommt daher und laßt die Seele kochen.
Die Seele kocht, und die Vernunft erfriert.
Ihr liebt das Leben erst, wenn ihr marschiert,
weil dann gesungen wird und nicht gesprochen.

Ihr liebt die Leute, die beim Töten sterben.
Und Helden nennt ihr sie nach altem Brauch;
denn ihr seid dumm und böse seid ihr auch.
Wer dumm und böse ist, rennt ins Verderben.

Ihr liebt den Haß und wollt die Welt dran messen.
Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin,
damit es wächst, das Tier tief in euch drin!
Das Tier im Menschen soll den Menschen fressen.

Ihr möchtet auf den Trümmern Rüben bauen
Und Kirchen und Kasernen wie noch nie.
Ihr sehnt euch heim zur alten Dynastie
und möchtet Fideikommißbrot kauen.

Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärtsdrehen
Und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf.
Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf!
Nur eure Uhr wird nicht mehr richtiggehen.

Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen.
Denn ihr seid dumm, und seid nicht auserwählt.
Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt:
Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!

Erich Kästner, 1932

10.4.15

Nein. So nicht.

Am Sonntag stimmen wir Grünen in Hamburg darüber ab, ob wir mit der SPD die nächsten fünf Jahre zusammen regieren wollen. Wir hatten eine überwiegend gute Verhandlungskommission losgeschickt und die empfiehlt uns ihr Ergebnis und ein nicht quotiertes Personaltableau.

Ich werde beidem nicht zustimmen. 
Ob ich mich enthalte, mit Nein stimme oder nicht komme, weiß ich noch nicht genau. Aber dies sind die beiden Gründe und sie hängen miteinander zusammen.

1.
Sowohl inhaltlich als auch in den Ressorts, die wir "bekommen" sollen, rächt sich, dass wir Schwerpunkte gelegt haben, die ich nicht richtig finde. Zumindest nicht alle. Sehr gut ist aus meiner Sicht, wieder die Justizbehörde zu übernehmen. Da sind unter schwarz-grün gute Erfolge erzielt worden, auch wenn die medial nicht spektakulär waren. Ein wichtiges Ressort, das oft unterschätzt wird. 

Bei Umwelt aber waren wir schon weiter. Mindestens Verkehr, besser Infrastruktur muss dazu gehören. Oder - wie in Hessen und Rheinland-Pfalz - eben zusätzlich Wirtschaft (zumal die SPD da eh blank ist in Hamburg und seit Jahren stattdessen einen konservativen old-economy-Lobbyisten als "unabhängigen" Senator beschäftigt) oder wie in Schläfrig-Holstein Landwirtschaft. So ist es doch verschenkt. 

Dass wir aber einen unserer größten Schwerpunkte und auch das Ressort, das die stellvertretende Bürgermeisterin bekommt (Wissenschaft), am Befinden der Vorsitzenden ausrichten, obwohl sie auch anderes könnte, finde ich falsch und fand ich schon am Wahlkampf falsch. Die beiden Spitzenkandidatinnen ziehen sich, etwas leicht böse überspitzt in meiner Enttäuschung, in Wohlfühlbehörden zurück. Und der unterlegene dritte darf dann harte Politik machen.

Innen, Wirtschaft, Infrastruktur
Eines dieser Ressorts muss eine grüne Partei heute besetzen, sonst bekommt eine SPD sie eben nicht (mehr).

2.
Ich schätze, dass die Personal- und Ressortentscheidungen so unbefriedigend sind, hat auch damit zu tun, dass der Vertrag insgesamt nicht in einem Zustand ist, der mir die Zustimmung ermöglicht. Wir haben in einigen Bereichen gute Fortschritte gemacht - vor allem im Hafen, das ist sehr gut. Vor allem dieser Teil des Vertrages hat mich lange überlegen lassen, ob er allein nicht Wert wäre, alle anderen Punkte hintan zu stellen. Und es allein für die Ökologisierung des Hafens zu tun.

Aber ich kann nicht.
Schule und Olympia trage ich nicht mit.

Die unglaubliche Euphorie vor allem unserer Vorsitzenden Katharina Fegebank für Olympia teile ich nicht. Ich lehne ab, große Teile der inneren Stadt zu einem demokratiefreien Raum zu machen und öffentliche Sicherheit komplett zu privatisieren. Ich halte olympische Spiele für zurzeit nicht in einer Demokratie durchführbar. Und ich hatte den Diskussionsstand bei den Grünen auch deutlich differenzierter in Erinnerung. Eine ökologisch und sozial verträgliche Ausgestaltung kann nicht alles sein, wenn die Demokratie und die Freiheitsrechte auf der Strecke bleiben und weite Teile des öffentlichen Raumes (und nicht etwa nur der Sportstätten, was ich ok fände) faktisch privatisiert werden für diese Zeit.

Mein Hop-oder-Top-Thema aber ist Schule.
Schulpolitik ist mehr noch als Digitalisierung und Bürgerinnenrechte das, bei dem ich bei Menschen im Wort bin und das ich aus der Nähe beurteilen kann. Das ich für ein entscheidendes, wenn nicht das entscheidende Zukunftsthema für diese Stadt halte. Und da ist der Vertrag - dabei bleibe ich auch nach intensiven Diskussionen mit der Verhandlungskommission - eine Mogelpackung.

Mit Inklusion beschäftige ich mich lange und intensiv. Und obwohl der Vertrag dieses wie einen Schwerpunkt behandelt, ist das Ergebnis exakt das, was bereits vor der Wahl angeschoben wurde, was dem aktuellen Verwaltungshandeln entspricht - und womit bereits in dieser Woche, also vor der Koalition, begonnen wird. Mit anderen Worten: es ist die Fortschreibung dessen, was ich für ein Totalversagen des bisherigen Senats halte.

Obwohl der Vertrag formuliert, es würden für die Inklusion "120 zusätzliche Vollzeitstellen" zur Verfügung gestellt, meinen die Verhandlerinnen damit eine Umschichtung bestehender Stellen in die Inklusion - vor allem aus Effizienzreserven durch zurzeit teilweise zu kleine Klassen. Die Vorschläge zur Schulbegleitung von Kindern mit Förderbedarf klingen auf dem Papier auch ganz gut - meinen aber in der Realität vor allem 19-jährige, jährlich wechselnde, ohne jede Qualifikation (aber billig) bereitgestellte Kräfte.

SPD pur in der Schulpolitik kann ich nicht mittragen.
Das hatten wir die letzten Jahre.
Das zu ändern, habe ich Menschen motiviert, grün zu wählen.

***

Keiner meiner Schmerzpunkte wäre ohne die Grünen in der Regierung besser.
Es gibt Punkte (vor allem der Hafen), die wären ohne sie schlechter. Das muss ich abwägen. Ich weiß. Aber die Kombination aus zwei Themen, die mitzutragen ich nicht verantwortbar finde, und einem inhaltlich (Ressorts) und personell (Quote) nicht befriedigenden Senatsvorschlag verhindert, dass ich zustimmen kann. Was ich schade finde. Aber vielleicht geht es nicht anders angesichts einer SPD, die sich über Jahre hinweg hart erarbeitet hat, einen Scholz als Landes- und einen Gabriel als Bundesvorsitzenden verdient zu haben.



7.8.13

Merkels Kinder

Obwohl ich von ihm nur auf einer Sommerakademie der Studienstiftung lernen konnte und er für mich ja sozusagen fachfremd ist, gehört Werner Durth zu meinen wichtigsten Lehrerinnen. Vor allem über Kontinuitäten in Lebensläufen und so weiter habe ich viel von ihm gelernt. Andere Geschichte. Und darüber, warum Diktaturen für Architekten großartig sind. Weil sie Spielräume schaffen. Germania planen zu dürfen, war für viele der späteren Stars der 50er sehr aufregend.

"Entwickler lieben Apple", sagte einer neulich zu mir, der sich mit einer kleinen Anwendung rumschlagen musste, die auf iPhone und Android funktionieren sollte. Alles sei klar geregelt und einheitlich. Das, was ich immer "Cuba" nenne: eine Diktatur, in der die Sonne scheint. In der ich mich wohlfühlen kann, wenn ich mich hinreichend anpasse. Apple ist Cuba.

Und die Technokratie Merkel'scher Prägung hat irgendwie auch was von Cuba. Und bringt merkwürdige Kinder hervor, die sich durch einen irritierenden Technik- oder Wissenschaftspositivismus auszeichnen. Was schließlich doch noch die Kurve kriegt zur "Alternative für Deutschland", über die ich eigentlich gar nicht schreiben wollte. An deren verstörenden Plakaten ich aber vorbei laufe jeden Tag.

Was mich rund um diese Hochschulprofessoren, die eine unscharf profilierte Expertenpartei gegründet haben, die gesamte Zeit umtreibt, ist etwas Ähnliches wie bei den Piraten (ja, wilde Umleitung, löst sich gleich auf, versprochen). Als jemand, dem intellektuelle Demut auch selbst sehr fremd ist, kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, wie jemand auf die Idee kommen kann, man müsse nur mal die richtigen, die schlauen Leute ranlassen, so richtige Expertinnen, und dann würde alles flutschen. Geht mir dauernd so.

Aber im Kern ist dies Technokratie oder Expertokratie. Und das Gegenteil von Demokratie. Ja, man kann sehr unglücklich werden angesichts von Demokratie. Ich auch, wenn ich sehe, dass die Massen mehr Angst vor einem Veggie-Day haben als vor der Abschaffung der Demokratie und Freiheit.

Das, was die "Alternative für Deutschland" mit den "Piraten" gemeinsam auszeichnet, ist doch gerade dieser Anspruch der Technokratie. Die Vorstellung, es gebe eine objektive, geradezu "naturgesetzliche" Wahrheit und einen richtigen Weg, der nur umgesetzt werden müsse. Lasst die Techniker oder die Wirtschaftswissenschaftlerinnen ran - und alles flutscht. Eine geradezu katholische Haltung, obwohl die auch schon ein bisschen von ihren naturrechtlichen Ansätzen abgerückt sind, wenn ich das richtig übersehe.

Das Interessante ist aus meiner Sicht, dass beide im Kern unpolitischen Protestparteien dabei gleichzeitig (1) die Sehnsucht vieler Menschen in meiner Umgebung nach mehr Kompetenz bedienen und (2) voll auf der Linie Merkels sind, die nahezu perfekt die Mischung aus asymmetrischer Demobilisierung und technokratisch-wissenschaftlich begründeter scheinbarer Alternativlosigkeit beherrscht.

So betrachtet sind Piraten und AfD beide "Merkels Kinder". Geprägt und politisiert von der Erfahrung unter ihrer Kanzlerinnenschaft, beide weitgehend ohne Gestaltungsanspruch, beide mit der Vorstellung, es gebe einen objektiv richtigen Weg. Also beide genau so, wie Merkel agiert und regiert. Ja, beide in unterschiedlicher Ausprägung, so unterschiedlich sogar, dass es schwer fällt, sie auch nur gemeinsam zu nennen - aber ich finde die Gemeinsamkeiten verblüffend. Zumal sie noch etwas gemeinsam haben: Ich finde es schwer erträglich, wie sie die Technokratie oder Expertokratie der Demokratie vorziehen. Und ich finde sie gleich unwählbar.

Eine Vorliebe für Cuba ist keine Frage des Alters. Und Pubertät auch nicht.

6.8.13

Ein neuer Baum

Nachdem einige von uns so langsam wieder aus der Schockstarre aufwachen und zornig werden, ich selbst ja auch neulich mit der Frage, ob das schon der Anlass zum Widerstand sei, finde ich es an der Zeit, einmal nach vorne zu denken.

Und dabei hilft ein Blick zurück. Ich zumindest kann mich noch an Zeiten liberaler Innenminister erinnern. Gerhard Baum beispielsweise. Mit der geistig-moralischen Wende des Helmut K. hörte das auf. Es kam Zimmermann.

Nun lässt sich nicht sagen, dass Liberale (Grüne und FDP) sich in Fragen der Sicherheitshysterie mit Ruhm bekleckert hätten, lest noch mal Nicos Text dazu. Dennoch möchte ich mir nicht ausmalen müssen, was 2002ff passiert wäre, wenn Schily nicht von den alten Parteifreunden hin und wieder ausgebremst worden wäre. Oder wenn jetzt nicht die Justizministerin wäre.

Wenn der Innenminister ("Verfassungsminister") im Gleichschritt mit dem Chef der Polizeigewerkschaft ein bekennender Verfassungsfeind ("Supergrundrecht Sicherheit") ist, nutzt es auch nichts, dass der breiten Mehrheit in diesem Land das Thema Freiheitsrechte am Allerwertesten vorbei geht. Allerdings finde ich es dabei eher niedlich, wenn auf Gestapo und Stasi verwiesen wird, um anzumerken, dass wir doch besonders sensibel sein müssten. Mein Verdacht ist ja eher, dass Gestapo und Stasi aus exakt dem Grund so gut funktionierten, aus dem sich auch jetzt das Desinteresse am Aushöhlen unserer Demokratie speist. Aber das ist vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Die die Frage der Legitimität von Widerstand aufwirft, die ich aber nicht stellen will und werde, weil sich alles in mir dagegen sträubt.

Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Und Parteien, denen die Verfassung wichtig ist, werden jeweils unter 15% bleiben. Aber: es sieht alles danach aus, als ob auch die nächste Regierung von einer dieser Parteien mitgetragen werden wird. Und hier sehe ich eine Chance. Ich wünsche mir, dass sowohl die FDP als auch die Grünen für eine Koalition darauf bestehen, die nächste Innenministerin zu stellen. Dass diese Ministerin wieder vor allem für den Rechtsstaat und die Verfassung zuständig ist und nicht nur für die Polizei. So von der Haltung her.

Wäre das nicht ein Deal? Vielleicht wäre es sogar ein Rettungsprogramm für die FDP (oh Gott und das von mir) - dass sie sich festlegt auf das Innenministerium, ohne das sie in keine Koalition geht. Und bei den Grünen werde ich auch für diese Idee werben.

Was denkt ihr?

18.6.13

Haltungsturnen

Steinbrück ist als Kanzler nicht geeignet. Das ist ein Dilemma, weil meine Partei (die Grünen) damit zwischen Pest und Cholera entscheiden müsste. Andererseits ist ja die "Strategie 2017" von Sigmar Gabriel genial (also die Strategie, in diesem Jahr einen populären Kandidaten zu verbrennen, so dass er ihm 2017 nicht im Weg steht, wenn er selbst Kanzler werden kann) und ist dabei aufzugehen. Dass sie zynisch ist, weil sie dem Land vier weitere Jahre eine falsche Regierung bescheren wird, ist halt Gabriel. Aber genug an der Herzenspartei SPD abgearbeitet.

Hier geht es eigentlich um Haltung.
Und das ist seit über zehn Jahren das bleibende Thema dieses Blogs. Und sein Geburtshelfer. Denn schon bevor ich dieses Blog 2003 startete, hatte ich den Gedanken vom "Haltungsturnen" entwickelt, sogar ein "Haltungsturner-Manifest" geschrieben. Und überlegt, ob das etwas sein könnte, wohin ich mich auch beruflich entwickeln will (was ja immer noch kommen kann).

In den 90ern des letzten Jahrhunderts habe ich vor allem zu Ethik gearbeitet, während des Studiums und in meiner Zeit in der evangelischen Publizistik. Haltung ist in diesem Zusammenhang für mich der alltagstaugliche Begriff eines operationalisierbaren Wertekanons. Ich komme aus einer Ethikecke, die werteorientiert ist (im Gegensatz zur liberalen und zur utilitaristischen angelsächsischen Tradition, die eher zielorientiert ist, um es einmal etwas holzschnittartig zu formulieren). Die genaue Verortung und genaue Definition würde jetzt hier zu weit führen, aber eine Anekdote, die mich, als ich sie 2002 erstmal hörte, sehr beeindruckt hat, hat dazu geführt, das, was mir wichtig ist, als "Haltungsturnen" zu bezeichnen: das Einüben von Haltung, also das Treffen von Entscheidungen aufgrund von Werten und Werturteilen. Was wichtig ist, damit ich diese Werte und diese Haltung kenne, wenn es hart auf hart kommt. Diese Geschichte ging so:

Dieter Gorny war Vorstandsvorsitzender der Viva Media AG, die u.a. den Musikender "Viva" betrieb, als am 11.9.2001 jener grauenvolle Anschlag in New York verübt wurde. Fast alle TV-Sender haben ab mittags den live gesendeten Flug in den zweiten Turm in Endlosschleife gespielt. Falls ihr alt genug seid, werdet ihr euch daran erinnern. Gorny soll, so geht die Geschichte, die selbstverständlich auch eine Legende sein kann, das kann ich nicht beurteilen, gegen viele Widerstände persönlich entschieden haben (und die Konsequenzen auf seine Kappe zu nehmen bereit gewesen sein), da nicht mitzumachen - und stattdessen einen schwarzen Bildschirm zu senden. Er war unter Druck und in einer Extremsituation in der Lage, eine starke und (wie sich herausstellte) richtige Entscheidung zu treffen. Das war, so hieß es damals, nur möglich, weil er sich immer wieder seiner Werte versichert habe, weil er wusste, wo er steht.

Zurück zu Steinbrück. Und dazu, dass er Rolf Kleine zum Sprecher und Berater gemacht hat.

Neben den Screenshots von Rolf Kleines Facebook-Profil, die ihn als Alltagsrassisten outen, ist es vor allem seine Rolle als Kampagnenmacher und Hetzer in der Anti-Griechenlandkampagne der "Bild", die zeigen, was für ein Mensch er ist. Dazu hat unter großen Schmerzen der Ex-Sozi Michalis Pantelouris etwas beeindruckendes geschrieben.

Mir kann niemand erzählen, dass Steinbrück das nicht gewusst hat (was im Übrigen seine Kanzlerqualifikation noch nachhaltiger ruinierte). Dass er ohne Not und unter im Vergleich zu einer Kanzlerschaft nur minimalem Druck die Entscheidung trifft, so einen als Berater zu wählen, offenbart bestenfalls seine Haltungslosigkeit, schlimmstenfalls seine Haltung. Egal was - weder ein Kanzler mit einer menschenverachtenden Haltung noch einer, der in einer wirklichen Krise gar keine Haltung, gar keinen Kompass hat, an dem er sich orientieren kann, ist dem Amt gewachsen. Das war ja schon das Problem bei Schröder. Und das hebt Merkel trotz all ihrer schlechten Politik aus der Masse heraus.

Ich habe kein Problem mit Alphatieren. Ich habe nicht einmal ein Problem mit Zynikern. Aber mir wird Angst und Bange vor einem Mann, der in der ersten kleinen Bewährungsprobe dafür, ob er von einem Wertekompass geleitet ist oder angstvoll rumschlingert, nur Zeichen von letzterem zeigt.

Das ist mir nicht egal.

8.1.13

Weg mit der Netzpolitik

Jedes Jahr im Januar, so scheint es, muss ich den Appell wiederholen. Zuletzt im vergangenen Jahr. Als ich diesen alten Beitrag wieder las, wurde ich irgendwie traurig. Weil ich ihn fast wörtlich noch einmal so schreiben könnte. Und das heute. Ein Jahr später.

Oder, um es deutlich zu sagen: So, wie sie jetzt ist, muss die Netzpolitik weg.

Denn es geht nicht um Netzpolitik. Es geht um eine Politik, die den Lebens- und Kommunikationsraum einer neuen Generation ernst nimmt. Es geht also um Ordnungspolitik und um einen (politischen) Modernisierungsschub, ähnlich dem, der durch den politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert ausgelöst wurde - übrigens auch verbunden mit einem neuen Lebens- und Kommunikationsraum einer neuen Generation und Klasse (damals). Und ironischerweise mit einem Medium, dessen zurückgehende Relevanz für die oben genannte neue Generation gerade zu ordnungspolitischen Pirouetten seiner Lobbyistinnen führt: der papierenen Zeitung. Aber das nur am Rande.

Die Obrigkeit reagierte mit Zensur. Damals, im 19. Jahrhundert. Und die Kulturpolitik war der Ort, an dem sie sich auslebte.

Die Parallelen sind sicher nicht zufällig. Zumindest in meiner Partei sind es aktuell auch wieder die Kulturpolitikerinnen, die durch massiv medial verstärkte öffentliche Stellungnahmen die an sich guten und zukunftsorientierten Beschlüsse und Positionen der Gesamtpartei systematisch unterlaufen.

Die Netzpolitikerinnen dagegen haben sich im exotischen Gedönsschutzraum der Medienpolitik verschanzt. Und jede weiß ja, dass Medienpolitik nur ein kleiner Teilbereich der wichtigen Kulturpolitik sei.

Was tun? Nina Galla, die ich sehr schätze, auch wenn ich sie (politisch) immer aufziehe und mit ihr (politisch) in fast keinem Thema, das mir wichtig ist, einer Meinung bin, schrieb dazu (und heute hat carta_ es aufgenommen)
Um Netzpolitik den Bürgern nahe zu bringen, muss die Kommunikation dringend vereinfacht werden: Verzicht auf Fachwörter, Beispiele aus dem Alltag, einfache Vergleiche, sprachliche Bilder, Visualisierungen. Die netzpolitische Kommunikation muss so einfach sein, dass wir sie unseren Eltern und Kindern so erklären können, dass sie sie sofort verstehen.
Netzpolitische Damoklesschwerter
Damit hat sie recht. Und damit mache ich tatsächlich auch im privaten und hin und wieder im politischen Umfeld gute Erfahrungen. Immer mal wieder gelingt es mir, meine Großeltern, meine Kinder oder die Eltern von Freundinnen meiner Kinder so mit den Themen meines Kommunikations- und Lebensraumes zu beschäftigen, dass ich den Eindruck habe, sie verstehen, was mir warum wichtig ist. Denn bereits daran scheitert die Debatte ja in der Praxis bisher.

Aber ich denke, Nina geht nicht weit genug. Es ist nicht (nur) ein Kommunikationsproblem. Was ich letztes Jahr Webfehler nannte, lässt sich wahrscheinlich nur beheben, wenn wir die Netzpolitik als Thema und Disziplin abschaffen. Wenn ich mich ganz auf mein anderes Thema konzentriere, die Bildungspolitik. Wenn Lars sich ganz auf Wirtschaftspolitik konzentriert und Jan Philipp auf Innenpolitik. Nur mal beispielsweise.

Vorschlag: Lasst uns die Themen der Netzpolitik für neun Monate lassen. Und in unseren Parteien dafür arbeiten, dass unsere Themen nach der Bundestagswahl stark in der praktischen Politik werden. Und dafür trommeln, dass die besonders absurden Lobbyistinnen nicht wieder aufgestellt werden für die Bundestagswahl (oups, zu spät, Platz 11 in Bayern ist allzu aussichtsreich, schiet). Und in den anderen Politikbereichen unsere Themen massiv vorantreiben.

Kurzfristig ist es fast egal, aber in der kommenden Legislaturperiode stehen mit den Theman Datenschutz, Urheberinnenrecht und Privatsphäre drei große ordnungspolitische Themen zur Neuregelung an, die unseren Lebensraum massiv gestalten. Lasst uns uns darauf und auf die anderen Infrastrukturthemen, die ab 2014 anstehen, konzentrieren. Und uns dieses Jahr 2013, das ohnehin politisch tot ist, nicht in Schlachten verschleißen, die wir verlieren werden. Wollen wir am Beginn der großen Reformwelle wirklich wie die Verliererinnen dastehen? Oder es so machen, wie wir es auch unseren Kundinnen empfehlen (würden) - jetzt die Pflöcke im Hintergrund einschlagen, jetzt die Quellen und Hintergrundmaterialien und die Verbündeten zusammen suchen, und dann präsent und fertig sein, wenn es drauf ankommt.

27.3.12

Claudia Roth und Jürgen Trittin sind der neue Helmut Schmidt

Bei den Grünen gibt es (nicht nur intern) Diskussionen, wer die Partei in den Bundestagswahlkampf anführen soll. Und auch wenn das die meisten, die mich kennen, überraschen wird: Ich denke, das sollten Claudia Roth und Jürgen Trittin sein. Dringend. Am liebsten mit Renate Künast, aber sonst auch gerne ohne sie.

Kaum jemand (mal abgesehen von Ursula von der Leyen) ist stärker verantwortlich zu machen für das Hauptproblem der Grünen als die beiden. Und darum sollen sie die erste wichtige Wahlkonsequenz auch verantwortlich tragen: das erwartbar nur mittelgute Abschneiden bei der Bundestagswahl und den Einzug der Piraten ins Parlament.

Denn so wie Helmut Schmidt der wichtigste Geburtshelfer der Grünen war, weil er für viele moderne Linke und eine sich über die Anti-Atom- und Friedensbewegung politisierende Generation habituell und auch inhaltlich altbacken und unwählbar daher kam, so gilt dieses heute für Claudia Roth und Jürgen Trittin (und mit ihnen für die allermeisten führenden Grünen). Sie stehen so sehr für die alten Grünen der 90er und 0er Jahre, sie sind in Politikstil, Habitus und ihren inhaltlichen Schwerpunkten so sehr der Grund, warum jene Menschen nicht den Weg zu den Grünen fanden, die sich angesichts der Zerstörungsversuche von Frau von der Leyen im Lebensraum unserer Generation politisiert haben. Nicht einmal die, die inhaltlich passen würden (was ja nun beileibe nicht für alle, vielleicht nicht einmal für die meisten Piraten gilt).

Nessy fasst das in ihrem Blog unter dem Titel Liebe Generation meiner Eltern wunderbar zusammen. Ich denke, und schrob das ja auch bereits, genau so können wir verstehen, was da passiert. Wer immer glaubt, die Piraten und ihre Erfolge inhaltlich begründen oder inhaltlich "bekämpfen" zu können, sollte Nessys Text dringend lesen. Denn wer auch nur einmal mit Piraten zu tun hatte, weiß, dass ihr Erfolg nichts, aber auch gar nichts mit Netzpolitik zu tun hat. Und das, obwohl (ja, das klingt komisch, aber so ist es) der Anlass der Politisierung und auch der ursprüngliche Grund, sich die Piraten überhaupt mal anzusehen, für die meisten mit Netzpolitik zu tun hat.

Claudia Roth ist bei den Grünen sehr beliebt. Aber Grüne haben schon mit ihren Wählerinnen kaum etwas gemeinsam – geschweige dann mit neuen Gruppen, die lebensweltlich ganz anders verortet sind. Jürgen Trittin ist einer der Stars des selbstreferenziellen Resonanzraums der klassischen Medien (TV, Zeitungen). Eines Raumes, der keine Relevanz mehr hat für Menschen, deren wesentlicher Heimatraum „das Internet“ ist. Beide können – gemeinsam oder alleine – die bestehende Basis und Wählerinnenschaft der Grünen mobilisieren. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Und das sollten sie noch einmal tun – um auszuloten und aufzuzeigen, wie groß die Basis für Grüne in diesem Land ist, wenn sie sich nicht weiter entwickeln.

Mit „weiterentwickeln“ meine ich nicht programmatisch – denn da sind sie genau dazu in der Lage. Wer sich für Inhalte interessiert, wird zugeben, dass auf dem Papier die Grünen heute in den Bereichen Urheberrecht, Netzpolitik und Demokratie nicht nur weiter und überzeugender auf die Fragen der Netzbewohnerinnen antworten als jede andere Partei, einschließlich der Piraten.

Grüne haben nicht programmatisch die Anschlussfähigkeit an Gruppen jenseits ihrer seit Jahren stabilen Stammwählerinnenschaft und ihres (bürgerlichen, akademischen, etablierten, recht uniformen) Milieus verloren, sondern lebensweltlich und habituell. Um es einmal zugespitzt zu formulieren: ein Malte Spitz reicht nicht.

Kaum etwas illustriert den Widerspruch grüner Rituale und grünen Spitzenpersonals zu der Lebenswelt von Piraten und ihren Wählerinnen mehr als die für viele überraschenden Personen, die bei den Piraten in Spitzenämter gewählt werden – und wie das geschieht.

Denn nicht etwa schillernde Personen wie Lauer (Berlin) oder Weisband (Bundesgeschäftsführerin) sondern – sorry für die Formulierung – langweilige Spießer wie Baum (Berlin), Nerz (Bund) oder Paul (NRW) gelangen an die Spitze. Eben eher ein Malte Spitz, der als einziges Mitglied des grünen Bundesvorstandes kaum bekannt ist, als eine Claudia Roth. Inhaltliche und persönliche Kompetenz anstatt Eloquenz und Medientauglichkeit.

Ja, das liegt an den „Akzeptanzwahlen“ der Piraten, und an die habe ich durchaus auch sehr ernste Anfragen. Aber diese den Grünen fremde Art der Basisdemokratie, die ja nichts mit Inhalten zu tun hat sondern mit Politikstil und mit einer anderen als unserer Vorstellung von Partizipation, macht einen gewaltigen Unterschied in der Haltung zu Politik und zu Mehrheiten und zur Meinungsentwicklung aus. Übrigens eine Haltung, auf die die Grünen nach dem Ende der Flügel ja durchaus auch hätten kommen können. Aber nicht kamen (was keine Kritik ist, sondern nur feststellt, wo habituelle Unterschiede liegen).

Ein weiterer Punkt, der viele ältere Grüne verstören wird, ist der Befund, dass die Piraten erstaunlich wenig ironisch sind und sehr viel ernsthafter und ernster an Politik herangehen als Grüne. Renate Künasts Ausflug in die Westerwelle’sche Spaßparteirhetorik („Piraten resozialisieren“) illustriert das hervorragend. Wer im Internet zu Hause ist, weiß, dass Humor als Humor gekennzeichnet werden muss und dass Ironie nicht funktioniert. Anders als ihre Vorurteile diejenigen vermuten lassen, die soziale Medien von außen beobachten oder – wie Bärbel Höhn – „Internet gucken“, führt die kontinuierliche Interaktion (und nicht das Senden, die es grüne Spitzen gut und erfolgreich beherrschen) eher zu einer tieferen und ernsthafteren Beschäftigung mit Themen als die Konsumption von Politik über die klassischen Medien.

Je mehr Grüne auf die Piraten einschlagen oder sie gar zu den Hauptgegnern der Wahlkämpfe machen, wie es Sylvia Löhrmann für NRW in gnadenloser Hilflosigkeit getan hat (um dann auch noch in Höhn’scher Manier das „wir haben einen jungen Abgeordneten“ nachzuschieben), sollten Claudia Roth und Jürgen Trittin, die Taufpaten der Piratenpartei, auch die Grünen in den Wahlkampf führen.

21.2.11

or·dent·lich, Adjektiv

Das also meinen unsere grünen Führungsleute, wenn sie an das Abschneiden der GAL bei den Wahlen gestern in Hamburg denken. Interessant. Ich finde ja eher, dass es eine ordentliche Niederlage ist. Haben die sie noch alle, die Schönrednerinnen?

Silbentrennung: or·dent·lich, Komparativ: or·dent·li·cher, Superlativ: am or·dent·lichs·ten
Aussprache: IPA: [ˈɔʁdn̩tlɪç], Komparativ: [ˈɔʁdn̩tˌlɪçɐ]

Bedeutungen:
[1] aufgeräumt; geordnet
[2] umgangssprachlich: anständig; löblich
[3] umgangssprachlich: sehr viel
[4] auf Person bezogen: ordnungsliebend

Herkunft: abgeleitet von Orden + Fugenelement t + -lich

Synonyme:
[1] genau, systematisch, strukturiert
[2] anständig; löblich
[3] reichlich, gehörig, großzügig

Gegenwörter:
[1] unordentlich
[3] wenig, dürftig, geizig
[4] unordentlich

Beispiele:
[1] Dein Zimmer ist ja heute so ordentlich.
[2] Er hat eine ordentliche Leistung gezeigt.
[3] Mach ordentlich Ketchup drauf!
[3] Der hat eine ordentliche Tracht Prügel verdient!
[4] An ihrer Schultasche sieht man schon, dass sie sehr ordentlich ist.

11.2.11

Die Angst der SPD vor ihren Wählern

Ich bin ja ein sehr, sehr großer Freund des neuen Hamburger Wahlrechts, von dem ich immer wieder höre, dass so viele Hamburger es nicht mögen, weil es ihnen zu kompliziert sei. Meine eigenen Schlüsse aus dem Wahlrecht für mein Wahlverhalten habe ich neulich ja schon mal aufgeschrieben. Dass das Wahlrecht, bei dem wir Wählende einen sehr großen Einfluss darauf haben, wie die Reihenfolge der Parteikandidatinnen aussieht, die dann wirklich ins Parlament kommen (weil wir jeden einzelnen wählen können, auch mit fünf Stimmen, oder die Stimmen auch auf verschiedene Parteien verteilen und so weiter), dass dieses Wahlrecht vor allem für die beiden "großen" ein Problem ist, finde ich logisch. Denn das ausgeklüngelte ausgeklügelte System, nach dem in so komplexen Organisationen wie - sagen wir mal - der SPD Listen zusammengestellt werden, ist eben dieses: komplex. Und es tariert Befindlichkeiten und Abhängigkeiten gut aus. Das meine ich nicht mal zynisch.

Das Tolle ist ja nun aber, dass dieses Austarieren für uns Wählende egal ist. Und so könnte es beispielsweise passieren, dass Isabella Vértes-Schütter, die traditionell auf dem letzten Landeslistenplatz, sozusagen symbolisch, kandidiert, gewählt wird, weil die Rentner-Stammwähler der SPD sie auf Seite 2 am Ende, also leicht erkennbar, entdecken und ihr ihre fünf Stimmen geben. Huch.

Oder dass Leute, die auf Platz 3 in einem Wahlkreis sind oder auf Platz 50 der Liste, persönlichen Wahlkampf machen und nach vorne rutschen. Oder reiche Freunde haben, die ganzseitige Anzeigen schalten. Oder oder oder.

Darf nicht sein. Abgeordnetenwatch hat auf die Antwort von CDU und SPD hingewiesen: Richtlinien, wie Kandidierende sich zu verhalten haben, damit ja nichts durcheinander kommt. Zumindest bei der SPD mussten alle Kandidierende ein solches Papier unterschreiben, in dem sie erklären, dass sie sich entsprechend verhalten

Und weil der von mir geschätzte Hansjörg Schmidt, der ja selbst in der unglücklichen Lage ist, nicht auf einem privilegierten Platz für die Bürgerschaft zu kandidieren (und dem ich wünsche, dass er gewählt wird, aber das habe ich ja schon gesagt), heute morgen erklärte, der Bericht von Abgeordnetenwatch sei falsch, er kenne kein solches Papier und habe es nicht unterschrieben, hab ich es mir mal besorgt.



Ganz ehrlich: Ich finde einige Passagen in diesem Papier skandalös. Und sie offenbaren eine Angst der SPD, die mich vielleicht nicht überrascht, aber doch befremdet. Dafür erklären sie aber immerhin, warum ich viele, viele CDU-Plakate sehe, auf denen lokale Kandidaten um fünf Stimmen bitten, aber keine von der SPD (außer für die Plätze 1 und 2 in den Wahlkreisen). Und warum dann die anderen auf kreative Maßnahmen zurück greifen müssen, wie bei mir mein alter Widersacher aus Jusozeiten (er war der erste "rechte" Jusokreisvorsitzende bei uns in Wandsbek und löste uns als letzten linken Kreisvorstand ab, damals, Mitte der 80er) Ekkehard Wysocki, für den Mitbürger auf DIN-A-5-Zetteln bei uns in der Siedlung werben, weil er "einer von uns" sei.

Das Verhalten der SPD finde ich sehr unsympathisch. Und die widersprüchlichen Aussagen zur Verbindlichkeit jenes Papiers oben sehr dubios.

27.9.09

Ein paar erste unzusammenhängende Gedanken zur Wahl

Ich war lange genug in der SPD, um den Tag heute als (ja, vielleicht verdient, aber doch) bitter zu erleben. Und der groteske Auftritt von Steinmünte im Willy-Brandt-Haus so kurz nach den ersten Prognosen war doch allzu durchschaubar als Versuch, die ersten Pflöcke einzuschlagen. Obwohl ich die sich dann durch den ganzen Abend ziehenden historischen Anspielungen andererseits brillant fand - die große Geschichte dieser einst so großen Partei ist das einzige, was ihr jetzt noch bleibt.
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Als ich mit dem damaligen Landesvorsitzenden der FDP in Hamburg eng zusammen arbeitete, hatte ich gewisse Sympathien für diese Partei, die immer dann gestoppt wurden, wenn mir einfiel, dass Westerwelle der Vorsitzende ist. Heute erinnerte ich mich daran, wieso das so war. Ich hab ihn ja seit Jahren nicht mehr im TV gesehen, heute reichte für die nächsten Jahre, auch wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird.
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Rund 10% für die Grünen - und trotzdem nur die fünfte Kraft, das ist schon verrückt. Dass es nicht dafür reicht, die so genannte Linke und die FDP zu überholen, ist doof. Aber dass die ehemals "Kleinen" so groß sind, freut mich, über alle Parteigrenzen hinweg. Ich halte dieses Zusammenrücken der Parteien hinsichtlich ihrer Größe für eine gute Entwicklung. Die CDU bleibt noch für vier Jahre volksparteiähnlich, die SPD muss eine neue Rolle suchen, wenn sie nicht zum Traditionsverein werden will, aber die anderen Parteien sind schon in der neuen Zeit angekommen - thematisch enger, aber weltanschaulich offener als frühere Parteien. Ja, auch die Linke und die FDP würde ich da schon sehen.
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Denkbar ist, dass es eine Regierung geben wird, anders als in den letzten vier Jahren Stillstands. Die wird vieles falsch machen aus meiner Sicht, aber sie wird, mit etwas Glück, etwas tun. Um mich und meine Familie habe ich wenig Sorge - wir dürften eher zu den persönlichen Gewinnern einer FDP-Regierungsbeteiligung gehören, auch die Konzepte zu den Steuerfreibeträgen für Kinder, die die Union immer noch vor sich her trägt, würden uns persönlich nutzen. Ich denke aber, dass es schädlich für dieses Land ist, wenn Regierungshandeln Menschen wie mir die größten Vorteile bringt. Und das macht mich ein bisschen ärgerlich.
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Trotzdem besteht kein Grund, jetzt den Sand in den Kopf zu stecken.