24.12.11

Kevin ist nicht allein

Am letzten Schultag vor Weihnachten konnten die Kinder schon um 11 Uhr nach Hause gehen. Bis auf Kevin, denn er sollte bis um 13 Uhr bleiben, wie immer. Das geht nicht anders, seine Pflegefamilie kann vorher nicht, denn die gesamte Betreuung ist auf die verlässliche Halbtagsschule eingestellt. Tertius hat ihn mit nach Hause gebracht. "Das wäre doch wirklich doof", sagte er und rief uns kurz mit dem Notfallhandy an, um Bescheid zu sagen, dass sie zu zweit kommen. Da haben wir doch nicht alles falsch gemacht in der Erziehung.

Kevin ist ein nettes Kind, auch wenn er meistens in einer Jogginghose rumläuft. Die beiden haben den ganzen Tag wunderbar gespielt und noch Weihnachtsgeschenke für Kevin gebastelt. Und beim Abschied sagte er mit strahlenden Augen, dass er sich auf den ersten Weihnachtstag freut. Da ist er zum ersten Mal seit Monaten bei seiner Mutter, zusammen mit einigen seiner Geschwister, die in anderen Familien leben.

Einen der Tage kommt er zu uns. Darauf hat Tertius bestanden. Ich bin sehr stolz auf ihn.

Ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Ich habe keine Version von Rolf Zuckowski bei YoutTube gefunden, verzeiht, dass es Mary Roos ist.

22.12.11

Orale Tradition

(Nein, nicht was ihr wieder denkt)

Hermeneutik und orale Tradition ist ja etwas, das mir als Theologe geläufig ist. Insofern sind die PISA-Dings mit dem sinnentnehmenden Lesen für mich immer sehr spannend gewesen und bleiben es auch. Zugleich lehrt die Beschäftigung mit Erzähltradition und Überlieferung und Deutungsgeschichte, wie sehr die eigene (oft: Zwergen-) Perspektive bestimmt, was ich aus einem Text lese oder in ihn hinein.

Besonders interessant war das immer dann, wenn Epigonen eine Geschichte aus ihrer Spät-Bekehrten-Sicht betrachteten - während die Erzählenden schon längst einige Stufen weiter gezogen waren.

Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem gab es schon in den ältesten biblischen Erzähltraditionen und machen es heute so mühsam, die Kerne ihrer (Weiter- und manchmal auch Gegen-) Erzählungen zu identifizieren. Vor allem hatten es die mit der Naherwartung an Erlösung schwer, die zu verstehen, die schon länger dabei waren und schon gemerkt haben, dass die Erlösung noch etwas auf sich warten lässt.

(Das nur, weil gleich mein Weihnachtsurlaub beginnt. Und ja, dies mag auch ein Gleichnis sein)



Euch ein gesegnetes Weihnachtsfest, gehabt euch wohl, nehmt euch etwas Zeit für eure Familien, die konnten sich die meisten von uns ja nicht aussuchen.

Der “privacy divide” und unsere Mediengesellschaft

Rund um meine sechs Ansagen für 2012 werde ich in den nächsten Tagen oder Wochen einige der Themen hier ausführlicher behandeln, um den Kontext zu meinen kurzen Thesen nachzuliefern. Den Anfang macht die mir persönlich wichtigste Beobachtung: Der privacy divide.
Datenschutz und Privatsphäre sind zwei Dinge, die sich 2011 vor allem in der deutschen Onlinediskussion zu sehr platten Kampfbegriffen und Kampffeldern entwickelt haben. Extremen Datenschützerinnen ohne Verständnis für die gesellschaftlichen Veränderungen stehen Aktivistinnen der so genannten “Spackeria” entgegen, die Privatsphäre als Grundkonzept ablehnen. Die Positionen beider Gruppen halte ich für absurd. Dennoch markieren sie die Eckpunkte einer Diskussion, die wir ernsthaft führen müssen - um die Frage herum, wie Privatsphäre in einer Welt aussehen kann und aussehen wird, in der immer mehr Daten digital vorliegen. Datenschutz ist dabei nur ein winziger Aspekt dieses größeren Themas, ebenso wie Datensicherheit, Datensparsamkeit/Datengeiz und Datenströme. Aus meiner Sicht geht es zentral um zwei nicht miteinander vereinbare Konzepte rund um Privatsphäre, aus denen ein neuer “privacy divide” in der Gesellschaft entsteht.

Einigen können werden wir uns - von einigen Radikalen beider Seiten abgesehen - sicher darauf, dass es eine Unterscheidung zwischen öffentlich, zugänglich und privat für Daten und persönliche Informationen geben muss. Und darauf, dass Menschen weitgehend selbst entscheiden können sollten, was sie öffentlich, zugänglich oder privat halten (wollen). Die Vorstellung und der Versuch, dies für andere Menschen vorschreiben zu wollen oder auch nur zu können, stellt die jeweils Radikalen außerhalb des Diskurses.

Datenschützerinnen haben, angeführt von Thilo Weichert vom ULD in Kiel, das Jahr 2011 genutzt, um sich zu der neuen Onlinewirklichkeit zu positionieren, die sich Menschen und Unternehmen in Deutschland selbst erschlossen und geschaffen haben. Einige von ihnen haben dabei versucht, auch nachzuvollziehen, was Menschen wie ich dort - vor allem aber nicht nur online - tun. Allen voran der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, der sich 2011 immer wieder unaufgeregt und differenziert zum Themenkomplex geäußert hat.

Was Radikale wie die Spackeria oder Weichert/ULD meines Erachtens übersehen, ist, dass sehr viele Menschen sehr bewusst beginnen, mit diesem Thema umzugehen und für sich Wege zu finden, die gangbar, hilfreich und praktisch sind. Und je jünger diese Menschen sind, so ist meine Beobachtung, desto differenzierter und bewusster tun sie dies: Eine der wichtigsten und gefragtesten Fortbildungen der Berufseinsteigerinnen in unserer Agentur ist der Kurs über Privatsphäreeinstellungen auf Facebook. Im Freundinnenkreis meiner jugendlichen Kinder haben die meisten ihre Pinnwand und ihre Fotos nur für ihre Kontakte geöffnet - in meinem Freundinnenkreis ist das eher anders.

Ich bin überzeugt, 2012 wird das Jahr der Entscheidung: Die radikale Position der Datenschutzbehörden wird von Gerichten und von den Gesetzgeberinnen überprüft. Und auch von der Wirklichkeit und den Bedürfnissen der Menschen. Der alte „digital divide“ wird abgelöst vom „privacy divide“: Die einen werden für die Bequemlichkeiten, die ihnen Facebook und andere Services bieten, damit “bezahlen”, dass sie bewusst (und - ja - teilweise auch unbewusst) Daten und Informationen von sich preisgeben. Und die anderen werden genau das nicht tun – und auf diese Form der Kommunikation, auf Rabatte und auf manche Informationen verzichten. Diese Teilung wird quer durch alle Altergruppen, Schichten und Bildungsgruppen verlaufen und sich 2012 erstmals sichtbar manifestieren.

Dabei gibt es kein richtig oder falsch. Weder Post-Privacy-Aktivistinnen noch radikale so genannte Datenschützerinnen liegen damit richtig, hier Vorschriften machen zu wollen. Ob ich mich entscheide, einen kleineren oder größeren Teil meines Lebens öffentlich oder zumindest für andere zugänglich zu dokumentieren, hat Konsequenzen. Und diese Konsequenzen sind jeweils - und nicht nur, je nach Blickwinkel, in jeweils einem Fall - zu tragen.

Zu den großen Paradoxa der Mediengesellschaft (also einer Gesellschaft, in der medial vermittelte Inhalte für die meisten Menschen sowohl produzierend als auch konsumierend zugänglich sind) gehört doch gerade, dass es nicht ausgemacht und für alle gültig ist, ob mir Datengeiz oder Datenverschwendung mehr “nützt”. An meinem eigenen Beispiel versuche ich dieses Phänomen seit Jahren so zu beschreiben:
Dass ich seit Anfang 2003 blogge und sehr viel in Bild, Video, Text, Bewertungen, Orten und anderen Details von mir “preisgebe”, ist es mir gelungen, weitgehend selbst zu bestimmen, was andere Menschen über mich wissen, was sie über mich finden und wie die Person Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach oder die “Marke luebue” dargestellt ist. Keinen Einfluss habe ich darauf, wie andere dieses Bild sehen und verarbeiten. Aber in einem nicht kontrollierbaren Medienraum habe ich durch gezielte Öffentlichkeit einen gut Teil der Kontrolle darüber erlangt, was über mich bekannt ist und was nicht.
Niemand muss das so machen. Niemand muss die Grenze so ziehen, wie ich es tue (und ja, auch ich ziehe Grenzen). Wer es anders macht, wird andere Vorteile und andere Nachteile daraus haben. Meines Erachtens überwiegen die Vorteile der Datenfreigiebigkeit. Zumindest für mich. Und zumindest noch. Facebook ist ein gutes Beispiel, wie dies auch kippen kann: Wenn die Kosten (Daten und mangelnder Datenschutz) den Nutzen übersteigen. Das ist einem meiner Söhne so gegangen, weshalb er sich wieder abgemeldet hat. Und das kann auch mir oder anderen irgendwann so gehen. Dafür brauche ich kein ULD. Und keine Panik.

Es ist keine Frage der Generationen oder der Bildung, wie ich mich entscheide. Der “privacy divide” ist eher eine Haltungsfrage und eine von Opportunitätskosten und Grenznutzen (um es mal ökonomistisch auszudrücken). Daten und Privatsphäre sind in unserer Mediengesellschaft eine Währung geworden, für die ich mir Bequemlichkeit, Kommunikationsmöglichkeiten und Rabatte oder Zugang zu Nachrichten und Informationen “kaufe”. Ist mir das, was mir Facebook oder die Onlineausgabe des Hamburger Abendblatt bieten, der Rabatt, den mir Jako-o einräumt, oder was auch immer - ist mir das diese Daten und diese Aufgabe von Teilen meiner Privatsphäre wert?

Die einen werden sich so entscheiden wie ich. Die anderen so wie meine Schwester. Die einen so wie mein einer Sohn. Die anderen so wie mein anderer. Die einen so wie mein Vater. Und die anderen so wie mein Schwiegervater. Politik. Medien, Unternehmen, Marketing, Eltern, Lehrerinnen - wir alle werden uns darauf einstellen (müssen), dass wir es immer mit einer Bandbreite zu tun haben. Und dass der “privacy divide” mitten durch die Gruppe von Menschen hindurch läuft, mit der wir zu tun haben.

21.12.11

Glaskugel 2012

Kennt ihr ja. Kaum droht ein neues Jahr, kann ich nicht an mich halten und muss irgendwie mehr oder weniger steile Vorhersagen machen, die dann eintreten. War letztes Jahr auch so. Da haben wir es mit der Absatzwirtschaft gemacht. Dieses Jahr mit w&v - dort findet ihr also dieses Jahr meine Ansagen, wie ich denke, dass 2012 wird. Hier nur kurz die Überschriften angedeutet, ausführlich dort, geht mal rüber....
1. Zielgruppen sind wieder da.
2. Social Media? Wieso Social Media?
3. Daten, Daten, Daten.
4. Das Jahr der Entscheidung zwischen Privatsphäre und Bequemlichkeit.
5. Social Commerce kommt, anders als wir dachten.
6. Der App-Boom endet.
Besonders wichtig ist mir persönlich übrigens die vierte Ansage. Dass dieser privacy divide kommt, davon bin ich überzeugt, er deutet sich ja bereits an. Dazu schreib ich auch noch mal ausführlicher, denn das ist ein Thema, das nicht nur mich als Kommunikationsberater betrifft sondern auch mich als Vater und mich als Politiker.

Und die sechste ist mir eine Herzensangelegenheit, die ich damit herbeischreiben und im kommenden Jahr herbeiarbeiten will. Weil mir das Internetz wichtig ist. Und Apps vielleicht online sind. Aber kein Internet.

18.12.11

Hommage an die Sauna

Und an finnische Männer.

Gerade haben wir diese Doku geguckt. Skurril, faszinierend, männlich. Und wer mich kennt, weiß, dass Sauna für mich und mein Leben und meine Familie und meine Liebste ebenso wichtig ist. Ich twittere jedesmal (oder sag es wenigstens auf Foursquare), wenn ich in die Sauna gehe. Und in jedem unserer drei Häuser bisher haben wir alle anderen Räume um die Sauna herum gebaut.

Eine Sauna passt überall hin, wie man im Film sieht. Und es ist der Ort, um auch als Mann zu reden und zu schwitzen und zu denken und zu entspannen. Nur trinken, vor allem Bier wie die Finnen, kann ich da irgendwie nicht. Aber leben ohne Sauna? Auch nicht.

80 Minuten voller Männergeschichten und Lebensweisheiten aus einem Land nördlich des 60. Breitengrades. Voller skurriler Männer. Und immer wieder überraschend und liebevoll.



(Sagte ich schon, wie sehr ich mich auf den nächsten Sommer freue, wenn wir noch einmal mit allen Kinden nach Finnland fahren? Mit holzbefeuerter Sauna und See und ohne jeden Nachbarn?)

10.12.11

Der Spin von SchülerVZ rund um den Flop-Button

Ich bin wirklich sehr froh, dass SchülerVZ am Ende eingesehen hat, dass ihre Pausenhof-App gar nicht geht. Es ist mir noch nie passiert, dass ich (mit ein oder zwei Ausnahmen und - selbstverständlich - einigen Trollen, die ich überwiegend gelöscht habe dieses Mal) eine so einhellige Zustimmung zu meiner scharfen Interpretation einer Sache, die mich aufregt, bekommen habe. Besonders von Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zusammenleben, aber nicht nur. Wie ein Kollege es so unfein ausdrückte, war die Sachlage hier wohl einfach nur eindeutig: "Der Bauer erkennt seine Schweinchen am Gang."

Vielleicht ganz kurz ein zeitlicher Abriss der letzten zwei Tage:
  • Am 8.12.2011 um 13:06 Uhr habe ich den ersten Tweet zu dem Thema geschrieben, die Resonanz darauf war so groß, dass ich um 13:28 Uhr meinen zornigen Blogpost online gestellt habe. Weil ich mich mit Johnny Haeusler von Spreeblick ohnehin oft über Kinder und Internet unterhalte, habe ich ihn zeitgleich auf das Thema hingewiesen - sein Beitrag hat dann die Geschichte so richtig ins Rollen gebracht. Weit über 10.000 Menschen haben allein bei mir den Beitrag angeguckt, die Erwähnungen bei Twitter, Google+ und Facebook waren Legion.
  • Rund 26 Stunden später (am 9.12.2011 um 15:11 Uhr) hat SchülerVZ dann die Pressemitteilung veröffentlicht, die ich hier dokumentiere - und einen Exit angekündigt. Damit ist das Thema nicht erledigt, es wird noch mehr nachkommen, von Medien, Eltern, Aktivisten. Vor allem aber sieht man an der Dokumentation, dass es nicht wirklich befriedigend ist - und dass SchülerVZ mindestens an einer Stelle in der Mitteilung versucht, einen Spin (so nennen wir PR-Leute den Versuch einer Umdeutung an der Kante zur Wahrheit) auf die Geschichte zu legen, der sogar für einen Spin das, was man landläufig so "Wahrheit" nennen würde, extrem überdehnt.
Darum hier die Pressemitteilung, die Anleitung der Pausenhof-App vom Vortag und ein Screenshot von der Situation in der App gestern Abend. Da ich keinen SchülerVZ-Account mehr in der Familie habe, endet meine Dokumentationsmöglichkeit damit. Die Situation vor dem Eingeständnis von SchülerVZ hatte ich ja schon am 8.12. dokumentiert.



Meine Punkte zu diesen Dokumenten und zur Gesamtsituation sind diese:
  1. Es gab den Flop Button, siehe die Screenshots. Dass man die Flops nicht sah, war erst bei längerer Nutzung zu merken. Mir scheint, die, die das abwiegeln, haben die App nicht getestet. Dass Mobbing nicht möglich gewesen sei, wie SchülerVZ in seiner Pressemitteilung behauptet, ist nicht wahr. Ich konnte es, wenn ich wollte.
  2. Es wurden nicht etwa Profilbilder bewertet sondern Personen. Hier sagt SchülerVZ in seiner Pressemitteilung nicht die Wahrheit. Sie schreiben, es gebe die "Möglichkeit, über Profilbilder von anderen schülerVZ-Mitgliedern ... abzustimmen". Unter 'VI. Top oder Flop' schreibt SchülerVZ jedoch in der Erklärung des Pausenhof-App, es sei möglich, "verschiedene Profile ansehen und diese per 'Daumen hoch' oder 'Daumen runter' bewerten." Könnt ihr oben nachlesen.
  3. SchülerVZ killt den Flop-Button, was ich gut finde. Die PM dazu ist das übliche PR-Geschwurbel, das wissen wir hier alle, kein Grund zur Aufregung. Dass sie durch konkludentes Verhalten anerkennen, dass sie falsch lagen, reicht mir grundsätzlich. Allerdings wünsche ich mir, dass sie zugeben, dass die Aufforderung an Kinder, andere Kinder als Flop zu bezeichnen, ein Überschreiten der Grenze ist. Ein Modell zur Rettung einer untergehenden Plattform (weil sie am Nutzermarkt nicht mehr nachgefragt wird) darauf aufzubauen, dass Kinder nun mal grausam sein können und oft auch grausam sind, halte ich für zynisch und eklig. Und dabei bleibe ich.
  4. Die Tonalität der Pressemitteilung spiegelt die Gesamthaltung der VZ Netzwerke Ltd. wider, die mir seit langem von einer Weigerung geprägt zu sein scheint, die Realität wahrzunehmen. Aber das ist mir ehrlich gesagt egal.
  5. Dass sie auf Druck reagieren, und das recht schnell (rund 26h), ist gut. Ich kann ja nicht nur meckern. Dass sie so reagieren, wie sie reagieren, zeigt aber auch, dass sie offenbar anders zu der Frage stehen, ob man sexualisiert und auf die Grausamkeit von Kindern spekulierend werben sollte, als ich es tue.
  6. Unklar ist mir, wie der Pausenhof funktionieren soll, wenn die zentrale Funktion wegbricht. Etwa so wie auf dem Screenshot von gestern abend? Das könnte ja nun wirklich nicht der Ernst sein, SchülerVZ, oder? Den gesenkten Daumen durch einen Pfeil nach rechts ersetzen? Vielleicht ist es ein Schnellschuss, um etwas zu tun, dann ist es ok. Aber vielleicht lohnt es sich, das weiterzuverfolgen.
Danke für alle Unterstützer. Danke für eure Tweets, Artikel, Anfragen. Es lohnt sich, auf die Barrikaden zu gehen und nicht einfach hinzunehmen, wenn ein Unternehmen die Grenze überschreitet.

8.12.11

Es wird Zeit, zu gehen, SchülerVZ



Ich habe mich geirrt. Das Jahr geht zu Ende und die VZs gibt es noch. Formal zumindest. Das, was man an Insiderdingen hört, lässt zwar vermuten, dass ich mich nur um wenige Monate vertan habe mit der Prognose, dass sie dieses Jahr aufgeben oder ihr Geschäftsmodell ändern, aber...

HALT.

Geschäftsmodell ändern? Vielleicht hatte ich doch recht. Zumindest bei SchülerVZ. Das Bild oben ist aus einer Mail, die sie heute an ihre Mitglieder verschickt haben, zumindest an die Inaktiven (andere kenne ich nicht). Offenbar will SchülerVZ die mehr oder weniger offizielle Mobbingplattform an deutschen Schulen werden, also ungefähr das Gegenteil dessen, was ich ihnen als Ausweg empfohlen hätte (denn hey, für sehr junge Kinder könnte es - in Zusammenarbeit mit den Eltern - spannend sein, in einem Netzwerk mit deutschen Moderatoren und deutschem Datenschutz zu sein oder so, naja, Chance vertan).

Um es ganz klar zu sagen: Damit überschreitet SchülerVZ eine Grenze, die sie niemals hätten überschreiten dürfen. Hat von denen eigentlich irgendjemand Kontakt zu Jugendlichen? Also im richtigen Leben jetzt? Mobbing ist kein Kavaliersdelikt. Mobbing ist eine der schlimmsten Formen von Gewalt, die im Alltag deutscher Schulen vorkommt.

Heute abend, wenn sie zu Hause sind, werde ich mich mit meinen (jugendlichen) Söhnen hinsetzen und sie werden ihre (selbstverständlich ohnehin inaktiven) Accounts bei SchülerVZ löschen. So einen Dreck wie dieses Pausenhofmobbing mache ich nicht mit, nicht mal passiv. Und ich rufe hier und via Twitter und Facebook alle Eltern auf, es ebenso zu machen. Eure Kinder, die sich damals mal bei SchülerVZ angemeldet haben, bevor sie zu Facebook gewechselt sind, wurden auf ein Portal umgezogen, das damit wirbt, dass man da super einfach und spaßig mobben kann. Das ist eklig. Fast noch ekliger als diese eklige Mediamarktwerbung mit diesem Konsumbaumdingens.

SchülerVZ, es wird Zeit für dich, zu gehen. Nicht, damit ich recht behalte. Sondern weil deine Zeit abgelaufen ist. Weil du in deiner Verzweiflung offenbar nur noch in die unterste Schublade greifen kannst. Im Sommer, mit deinen Porno-Chic-Mails an die Schülerinnen (weißt du noch, dieses Ding mit den Bildern, auf denen die jungen Leute fast nix anhatten), da dachte ich, es geht nicht mehr schlechter und weiter nach unten. Ich hatte mich schon wieder geirrt.

SchülerVZ, das Maß ist nun voll, das Fass ist nun übergelaufen. Ich bin beileibe kein Fanboy von Facebook und finde, dass die Kosten (Daten, Sicherheit, Cookies) dort langsam anfangen, den Nutzen nicht mehr aufzuwiegen. Aber mit dir, SchülerVZ, will ich nichts mehr zu tun haben. Nicht mal passiv. Und ich verbiete meinen Kindern, bei dir Mitglied zu sein. Da bin ich ganz altmodisch und autoritär. Stirb allein. Lass Menschen mit Hirn und Herz in Ruhe.

Edit 9.12.2011, 18.00 Uhr
Wir haben es geschafft: SchülerVZ killt den Flop-Button. Gut so.

Edit 10.12.2011, 10:00 Uhr
Alle neuen Punkte, meine Bewertung des Sieges der Pädagogik und der guten Sitten über SchülerVZ und eine Dokumentation der Pressemitteilung und der vorherigen Nutzungsbedingungen - siehe meinen zusammenfassenden aktuellen Post.

6.12.11

So wird Inklusion nicht funktionieren

Um es vorweg zu sagen: Ich bin für Inklusion. Ich habe schon für die Integration von Kindern mit Behinderungen in die so genannten Regelschulen gestritten, da wart ihr noch nicht mal geboren, damals, in den 80ern mit Rosi Raab, da waren wir schon echt weit mit dem Thema. Dann habe ich Schulpolitik und Integrationsfragen erstmal ruhen lassen, weil meine Frau in dem Bereich aktiv war. Sie ist heute Lehrerin mit dem Förderschwerpunkt Sprache und geistige Entwicklung. Meine Beobachtungen und Erfahrungen und auch meine Haltung zu dem gesamten Komplex ist also nicht nur dadurch geprägt, dass meine vier Kinder vier unterschiedliche Schulen besuchen - sondern auch durch ihre konkreten Erlebnisse.

Hamburg setzt nun also auch endlich EU- und Menschenrechte um und versucht, Kinder mit Behinderungen standardmäßig mit anderen Kindern gemeinsam zu unterrichten. Faktisch werden die Sonderschulen aufgelöst und die Lehrerinnen auf die Grund- und Stadtteilschulen verteilt. Also alles gut, denn es sei ja kein Sparmodell, wie auch die Bildungspolitikerinnen meiner Partei immer wieder sagen? Nein, gar nichts ist gut. Denn so wird es nicht funktionieren. Und das aus mehreren Gründen.

1. Der Bedarf ist viel höher als angenommen
Seit Kinder mit Förderbedarf nicht mehr an Sonderschulen abgeschoben werden (können), gibt es auf einmal viel mehr Kinder mit Förderbedarf. Die naive Rechnung der Schulbehörde (und auch und gerade der früheren grünen Behördenleitung), dass ja gleich viele sonderpädagogische Stunden für gleich viele Kinder zur Verfügung stünden, war von Anfang an falsch - und alle, die sich ein bisschen mit Grundschulen und Sonderschulen auskennen, haben das auch vorher so gesagt. Wenn ich als Schule nun mehr Stunden bekomme, wenn ich mehr Kinder mit Förderbedarf habe, ermutige ich die Eltern, ihn anzumelden. Vorher habe ich eher entmutigt, weil ich das Kind nicht abgeben wollte.

Um das nicht falsch zu verstehen: Das ist auch gut so. Wenn alle Kinder besondere Förderung (beispielsweise wegen Problemen mit der Sprache oder dem Sprechen) bekommen, die das brauchen, dann ist das gut. Aber das geht nun einmal nicht kostenneutral.

2. Die Inklusion ist eine Verschlechterung für die meisten Kinder mit Behinderungen
In der Theorie ist es absolut richtig (und unterstütze ich es auch), dass es für Kinder mit Behinderungen besser ist, in wohnortnahen Klassen mit allen anderen Kindern gemeinsam unterrichtet zu werden. In der Praxis aber bedeutet das eine deutliche Verschlechterung ihrer individuellen Förderung.

Ein Kind, das stark stottert - um mal eine "einfache" Behinderung heranzuziehen -, kann mit echter unterrichtsimmanenter Therapie (also mit Unterricht, in dem sozusagen subkutan Sprachtherapie stattfindet) und mit kleinen Klassen (maximal 12 Schülerinnen) seine Hemmungen abbauen und sein Stottern ablegen oder damit umzugehen lernen. Mit ein bis zwei Förderstunden, in denen es aus seiner Klasse mit mehr als 25 Schülerinnen genommen wird, in der es die anderen 23 Stunden der Woche unterrichtet wird, kann das nicht gelingen.

Ein Kind mit einer geistigen Behinderung, das lesen und rechnen lernen kann in einer Lerngruppe aus fünf oder sechs Kindern, kann das nicht zwingend, wenn es faktisch als Beistellkind den nicht-behinderten Kindern soziales Lernen ermöglichen soll (ok, das war polemisch, aber es spiegelt leider dennoch die Realität in den Speckgürteln wider).

Kinder mit emotionaler oder sozialer Behinderung, insbesondere solche mit schweren psychischen Störungen, werden in großen Gruppen dauerhaft überfordert. Ohne eine individuelle Lernbegleitung haben sie keine Chance, am Unterricht teilzunehmen. Dies wird beispielsweise in Schweden deshalb auch so umgesetzt, die schon damals, in den 80ern, zu Rosi Raabs Zeiten, unser Rollenmodell waren, weil sie es besser und professioneller umsetzten als wir heute. Dort hat ein Kind mit entsprechenden Behinderungen immer eine individuelle Lernassistenz bei sich (pro Kind eine Person), mal abgesehen von fast durchgängigen Doppelbesetzungen im Unterricht.

3. Die Förderstunden der Sonderpädagoginnen kommen nicht bei den Kindern an
Die Idee, dass Lehrerinnen mit besonderen Förderschwerpunkten je nach Bedarf an den Schulen "zugebucht" und eingesetzt werden, klingt am grünen Tisch verlockend. So wird es ja nun seit mehr als einem Jahr versucht. Das Problem ist: Diese Zusatzstunden versickern im System und kommen nicht bei den Kindern an. Theoretisch werden diese Stunden für Doppelbesetzungen in den Klassen eingesetzt und zur Förderung der Kinder, für die sie als Förderbedarf angefordert wurden. Nur werden Doppelbesetzungen immer als erstes aufgelöst, wenn es zu Krankheit oder Klassenreise oder Sportveranstaltungen oder Theatergängen oder Wandertagen kommt.

In der Praxis ist mir keine einzige Lehrerin bekannt, die als Sonderpädagogin an eine "Regelschule" abgeordnet wurde und dort nicht überwiegend als "normale" Lehrerin eingesetzt wird, um "normale" Lücken zu schließen. Das ist ja auch logisch, denn die Grundversorgung geht vor. Soll sie sich weigern, die erkrankte Kollegin zu vertreten? So lange das System Schule so auf Kante genäht ist, dass im November der normale Unterricht nur schwer aufrecht erhalten werden kann, kann dieses System gar nicht anders als die sonderpädagogischen Stunden aufsaugen und verbrauchen.

4. Das Thema Inklusion ist erst spät von der politischen Leitung gesehen worden und mit einer Posteriorität versehen
Nicht in den Sonntagsreden, klar. Aber in der Praxis spielt das Thema Inklusion keine Rolle für die Leitung der Behörde, spielte noch weniger eine Rolle unter grüner Leitung. In der Reform der Schulstruktur wurden die Sonderschulen erst vergessen, dann - nach entsprechenden Protesten der Sonderschulleiterinnen - als später zu entscheiden und ersteinmal bei der Schulreform auszuklammern markiert - und schließlich irgendwie verwurstet. Keines der realen Probleme, die die Inklusion zurzeit mit sich bringt, ist für irgendwen, der sich mehr als eine Stunde mit dem Thema beschäftigt hat, überraschend. Alle Punkte, die ich oben aufführe, waren schon exakt so vorher von einigen Praktikern angesprochen worden. Da ich nicht zu denen gehöre, darf ich das sagen, denn ich habe es nicht vorher gewusst, sondern kann es jetzt, wo ich mich mit dem Thema intensiver beschäftige, zusammentragen.

Klar ist aus meiner Sicht, dass Inklusion so, wie sie in Hamburg von uns Grünen angeschoben und nun von der SPD umgesetzt wird, niemandem von denen nützt, für die sie gemacht wurde. In den Schulen werden Kinder ankommen, die Gruppen sprengen, Lernen unmöglich machen und nicht aufgefangen werden können. Die Kinder mit Förderbedarf werden schlechter gefördert als bisher. Und die Lehrerinnen, die sich um solche herausfordernden Kinder kümmern wollen, werden als Lückenfüllerinnen einer zu engen Personalplanung verbrannt.

1.12.11

Jetzt aber endlich mal typisieren, bitte


Für die meisten von euch wird es Eulen nach Athen sein. Für die anderen wird es Zeit, es jetzt zu tun. Manchmal fehlt ja nur der Anstoß. Oder es ist nicht klar, wie wichtig das ist. Wir erleben das gerade mit dem 5-jährigen Sohn von Freunden.

Er wird jetzt auf eine Transplantation von Knochenmark vorbereitet. Nächste Woche wird die dann beginnen. Das mit der Isolation, dem Zelt, der Grausamkeit für ein kleines Kind und das zu Weihnachten - das erspare ich euch. Mir geht es um einen anderen Punkt:

Es war unmöglich, aus den Millionen von Spenderinnen in Europa und Nordamerika eine wirklich gute und wirklich passende Spende herauszufinden. Wochenlang wurde gesucht, dann ein Spender gefunden, der so halbwegs passt, sozusagen am unteren Rand dessen, was man wagen mag für die Transplantation. Denn hier kommt man mit Verwandtschaft und so weiter nicht weiter. Es sind unglaublich viele Merkmale, die Knochenmark aufweist - und je mehr davon mit dem Jungen übereinstimmen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er das Mark annimmt und also überlebt.

Obwohl ich selbst typisiert, also als Spender eingetragen bin, war mir das so nicht bewusst. Dass es so schwierig ist, eine Spenderin zu finden. Dass es für ihn keine gibt. Und sie es jetzt trotzdem versuchen werden. Denn er soll leben.

Jede einzelne, die sich typisieren lässt, erhöht die Chance für einen Menschen zu leben. Jede einzelne, die es nicht macht, tut genau das nicht. Es ist nur wenig. Und kann so viel sein. Denn seine Geschwister mitzunehmen oder den Weihnachtsbesuch ins Gästezimmer zu lassen, das können nur wir, die wir sein Umfeld bilden. Das andere könnt ihr auch. Hier.