31.12.18

Wie rauchen

Als ich ein Kind war, gab es "Brot statt Böller". Das wurde ganz in der Nähe von unserem Zuhause erfunden, in Bargteheide, 1981. Fand ich gut, denn schon als ich vier war, habe ich, als meine Eltern mich weckten, damit ich das Feuerwerk sehen konnte, nur gemurmelt, "will kein Feuer sehen".

Ich mag Feuerwerk. Sehr sogar. Wenn jemand eines choreographiert, das elegant ist und eine Geschichte erzählt. Was ich noch nie mochte, war mir sinnlos erscheinendes Werfen von lauten Dingen, die explodieren. Ebenfalls als ich Kind war, haben wir Silvester immer mit einer Familie gefeiert, die in der Stadt wohnte. Auf dem Weg wurden wir schon damals von Jugendlichen mit Donnerschlägen beworfen, die am Auto explodierten oder vor unsere Füße kullerten.  Nicht so direkt witzig.

Neulich, als wir uns fragten, ob wir zu intolerant sind inzwischen, weil wir tatsächlich gar kein Verständnis mehr haben für Menschen, die Böller oder Raketen kaufen und ballern, fiel mir die Analogie zum Rauchen ein – die mir passender vorkommt, je näher Silvester rückt. Denn im Grund ist Böllern ja wie Rauchen. Und meine Haltung zu Leuten, die böllern, ähnlich verständnislos wie zu Leuten, die rauchen.

Absurd wird es, wenn Menschen, die Tiere halten oder mit Tieren leben, böllern. Denn die könnten, wenn sie auch nur mit geringen Mengen Empathie ausgestattet wären, sehen, was es bei denen anrichtet. Wer einmal eine Pferdeherde in Panik im Kreis hat laufen sehen, weil um sie herum kriegsähnliche Zustände herrschen, ist wahrscheinlich für alle Zeit kuriert. Wer einmal demente alte Menschen erlebt, die sich in die Bombennächte in Hamburg zurück versetzt fühlen und vor Angst schreien, weil alles wieder hochkommt, verliert jedes Verständnis vor denen, die daran Spaß haben.

Dieses Jahr habe ich mal drauf geachtet, wer da an den Grabbeltischen stand und Böller in den Einkaufswagen lud. Und selbst das eine oder andere Vorurteil ein bisschen weglassend, war der Vergleich mit Rauchen wieder passend. Es ist geradezu beruhigend, dass Böllern wie Rauchen mehr und mehr etwas ist, das nur noch in bildungsfernen und unterbürgerlichen Schichten unreflektiert verbreitet ist. Zumindest bei uns.

Und dass dieses Jahr der Terror der Idioten erst heute, am Silvestertag, begann und nicht wie in den letzten Jahren am 28.12., macht mich optimistisch. Dass es irgendwann, zu einem Zeitpunkt, den ich noch erlebe, nur noch zentrale, wunderschöne Feuerwerke geben wird. Und sich dumm vorkommt, wer der Zeit hinterhertrauert, in der sie Feuerwerk im Supermarkt kaufen konnte.

16.12.18

#schnippschnapp

Ich war ein bisschen überrascht, dass ich so viel Resonanz bekam, als ich neulich auf Twitter fragte, wieso eigentlich so wenige Männer eine Vasektomie machen lassen – und wieso noch wenige darüber sprechen. Mir war gar nicht klar, wie viele merkwürdige "Argumente" es teilweise gibt, die aus Sicht von Jungs dagegen sprechen könnten. Denn in meinem Umfeld ist eine Vasektomie normal. Und etwas, worüber wir auch sprechen. Und, um das gleich vorweg zu sagen, bei niemandem, den ich kenne, mit Einschränkungen oder Problemen verbunden.

Schere. Autor: Richard Huber, Lizenz: cc-by 3.0
Ganz ehrlich – ich kann noch nicht einmal nachvollziehen, wieso es rund um eine Vasektomie überhaupt zu Diskussionen kommen kann. Für mich war es klar, als Quarta geboren wurde, dass dieses unser letztes Kind sein soll (und aus gesundheitlichen Gründen auch sein musste). Und es gibt de facto nur eine wirklich sichere Verhütungsmethode, die mit keinen Nebenwirkungen und einem minimalen Eingriff verbunden ist: das Durchtrennen der Samenleiter beim Mann. 

Weil es dazu so viele Mythen gibt, hier mal das, was da wirklich passiert: Ein Vorgespräch, eine Beratung (in unserem Fall aus gemeinsam als Paar). Und dann ein Termin zur ambulanten Operation in der Praxis des Urologen meines Vertrauens. Konnte ich zu Fuß hingehen. Und konnte ich zu Fuß wieder nach Hause nach einer Stunde. Zweimal zur Wundkontrolle, einmal Ejakulat abgeben zur Erfolgskontrolle. Und Ende Gelände. Schnippschnapp. Fertig. Weitere Folgen: keine. Wirklich nicht. Und auch bei niemandem sonst in Familie und Freundeskreis.

Warum schreibe ich darüber?

Weil ich es absurd finde, dass so wenige Männer eine Vasektomie machen lassen. Und weil mich die "Argumente", die ich höre, wenn welche sagen, warum sie es nicht machen, erschrecken. Sicher, ich bin in der besonderen Situation, dass meine Beziehung schon aus religiösen Gründen auf dieses ganze Leben angelegt ist und sich mir die Frage, ob ich vielleicht im Zuge meiner Midlifecrisis noch mal eine neue Familie zu brauchen glaube, nicht stellt. 

Aber was für ein Menschen- und Männerbild spricht denn aus der Angst, ich könnte im Alter nicht mehr Kinder zeugen? Aus der Vorstellung, dass nur das aktive Verstreuen meines Samens mich zum richtigen Mann macht? Das ist mir zu dicht an der Vorstellung, Männer seien Tiere, seien "nun mal so", was ja auch als Entschuldigung bei anderem absurden und übergriffen Verhalten angeführt wird. Wobei ja lustigerweise Tiere sehr oft an der Fortpflanzung gehindert werden.

Wer zu einem Zeitpunkt, zu dem die Familienplanung abgeschlossen ist (und nur darum geht es hier ja), die Verhütung der Partnerin aufbürdet, obwohl es eine einfache, preiswerte und sichere Methode gibt, die ich selbst anwenden kann, zeigt am Ende doch nur, dass das Gerede von der Gleichberechtigung und Partnerschaftlichkeit doch eben nur leer war. Die Frage, ob über eine Vasektomie in dieser Situation auch nur nachgedacht werden muss, ist doch am Ende der "ground truth check" in der Gleichberechtigungsdebatte, wie es ein Freund neulich formulierte. Und dem stimme ich zu.

Toll fand ich andererseits die Geschichte von dem großen Handwerksbetrieb, in dem als Schwächling gilt und als unmännlich, wer die Sterilisation seiner Frau zumutet anstatt selbst unters Messer zu gehen. Weil diese Geschichte zeigt, wie durch Vorbilder und durch Framing Verhalten geändert werden kann.

Ich denke, je mehr wir, die wir es gemacht haben, darüber reden – und auch darüber, wie unproblematisch das war und ist und dass es keine Einfluss auf unsere Sexualität hat –, desto eher wird es auch für andere so normal. 

22.11.18

Ungefragt

Neulich bereitete ich mich auf ein Interview mit zwei Studentinnen vor, die über Berufseinstiege in Agenturen sprechen wollten. Zu den Fragen, die sie stellten, gehörten auch welche, die meinen eigenen Berufsweg betrafen. Fand ich spannend, denn so fiel mir auf, dass ich keine einzige Aufgabe in meinem bisherigen Leben über eine klassische Bewerbung übernommen habe. Wirklich nicht eine. Und eine Verabredung mit einer künftigen Arbeitgeberin habe ich sogar auf einer Serviette beim gemeinsamen Mittagessen getroffen, mit allen Konditionen und dem ganzen Drum und Dran.

Und weil sie das anregten, habe ich drei Tipps (und einen Bonus Tipp) für den Anfang der Berufstätigkeit gegeben. Die ich hier ungefragt noch einmal aufschreibe.

1.  Durchhalten

Die ersten Jahre sind nicht einfach. Ihr werdet denken, dass ihr nichts könnt. Das macht nichts. Das geht allen so. Und auch mir bis heute immer wieder. 

2. Fragen, fragen, fragen

Nur wer fragt, bekommt Antworten. Kommunikation in Firmen ist de facto eine Holschuld. Wer nicht fragt, wird als Arbeitsbiene eingesetzt. Wer neugierig ist, kann schnell wachsen. Wer Verantwortung übernimmt, macht Karriere. Fragen zu stellen, ist der erste Schritt, um Verantwortung zu übernehmen. Und Verantwortung zu übernehmen, ist der Schlüssel.

3. Dies ist kein Job, dies ist Leidenschaft

Lest, geht ins Museum, schaut Serien (mein Tipp für alle, die Kommunikation machen: Mr. Robot, die beste Fortbildung sozusagen, und eher The Bold Type als Mad Men), redet mit Menschen, engagiert euch in Vereinen, Parteien. Kreativität und Beratung sind eher eine Frage der Haltung als der Ausbildung. Denn die spannenden Unternehmen und Agenturen stellen mehr und mehr nach Haltung ein und nicht nach "Skills".

Bonus Tipp:

Wenn ihr irgendwann mal Führungsverantwortung übernehmen wollt, lernt reiten. Alles, was ich über Führung weiß, habe ich von meinem Pferd gelernt. Und ich bin mir sehr, sehr sicher: wer es schafft, mit Pferden umzugehen und zu reiten, kann auch führen.


15.10.18

Was für ein Spaß

Da dachte ich doch immer, Briefromane wären langweilig oder sonst wie nichts für mich. Und dann las ich nun endlich Lady Susan von Jane Austen. Merkwürdig genug, dass die Liebste mich erst kürzlich darauf aufmerksam machte, dass es dieses Büchlein gibt. Das ich daraufhin sofort kaufte.

Denn es ist ein wunderbarer, fantastischer Spaß. Was wohl mehr an Austen liegt als am Format. Aber das Format in Briefen trägt ein Übriges bei. Es sind die Zwischenräume, die mich lachen lassen. Das, was nicht erzählt wird. Was passiert sein muss, um den Brief auszulösen. Köstlich.

Eigentlich ist die Susan eine Farce. Und erst das lapidare Nachwort, in Prosa an die Briefe rangeklatscht, löst die Geschichte in typischer Austen-Manier auf. Ironisch changierend zwischen Happy End und irre-kicherndem Spott.

Wie konnte ich bisher übersehen, wie witzig und inspirierend Briefromane sein können. Gibt es eigentlich moderne?


[Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr beim Pendeln mehr zu lesen. Bücher und so. Wenn es in dem Tempo weitergehen sollte, werden das viele, aber wer weiß. Und das hier ein Lesetagebuch. Vielleicht.]

17.9.18

Same procedure as every year

Die GPRA-Präsidentin Christiane Schulz hat eine neue Runde über Sinn und Bezahlung des PR-Agentur-Nachwuchses eröffnet. Und wie erwartbar, hat (immerhin der von mir sehr geschätzte) Thomas Pleil als Vertreter der akademischen PR-Ausbildung ihren Text auseinandergenommen (zusammen mit seinem Kollegen Lars Rademacher).
Wagniserziehung im Kindergarten, 1955, Bundesarchiv, Bild 183-31215-0003 / CC-BY-SA 3.0





Ich finde beide Texte eher wenig hilfreich

Denn tatsächlich hat Thomas aus meiner Sicht Recht, wenn er kritisiert, dass die Verknüpfung von Honoraren, die unter Druck sind, und Ausbildungsgehältern ein schwaches Argument sei. Und ich möchte durchaus noch ergänzen, dass nicht nur Erfahrung der einzige Unterschied zwischen langjährigen Beraterinnen und Berufseinsteigerinnen ist. Nur dass – und Thomas weiß, dass ich das anders sehe, denn darüber diskutieren wir seit vielen Jahren – die "akademische Seite" aus meiner Sicht ihre Ausbildung massiv überschätzt.

Aus meiner Sicht krankt die Diskussion an zwei Stellen:
  • Zum einen an der Vorstellung der PR-Studiengänge davon, was heute moderne Agenturen seien, die sich früher mal "PR-Agentur" nannten – und damit an einer (falschen) Vorstellung, wie gut Absolventinnen von PR-Studiengängen auf die Arbeit in Agenturen vorbereitet seien.
  • Und zum anderen an der offenbar von uns und den Akademikerinnen unterschiedlich beantworteten Frage, ob wir Agenturen unsere jungen Leute ausbilden müssen.

Wen wir suchen, weil wir uns verändert haben

Tatsächlich hat sich aus meiner Sicht das Anforderungsprofil an Menschen in den letzten Jahren radikal verändert, die in Agenturen arbeiten (wollen), die aus der PR kommen. Was dazu führt, dass wir oft mit Leuten besser fahren, die in anderen Fächern als Kommunikation ihre Abschlüsse gemacht haben und die in einem Bereich, der sie wirklich und brennend interessierte, tatsächlich einmal ein bisschen wissenschaftlich gearbeitet haben. Das gilt weder für alle noch stellen wir keine Absolventinnen von einschlägigen Studiengängen ein. Einige unserer besten High Potentials und Anführerinnen haben Kommunikation studiert.
Maximale Flexibilität im Denken und dazu radikale Leistungsbereitschaft
Aber die Vorstellung, jemand mit Kommunikationsstudiengang hätte einen Startvorteil im Job, kann ich aus der Praxis nicht teilen. In einer Zeit, in der das, was in PR-Studiengängen landläufig gelehrt wird, vielleicht noch 10% unserer Arbeit ausmacht, kann ich nicht anders, als meine jungen Leute selbst auszubilden. Einen Startvorteil in einer Agentur hat aus meiner Sicht, wer sich im Studium selbstständig in ein komplexes Thema eingearbeitet hat und es wissenschaftlich aufbereitete – denn dies ist methodisch weit näher an unserer Beratungstätigkeit als etliches vermeintliches Fachwissen, das dann doch nur halb zu unserer jeweiligen Methodik passt. Maximale Flexibilität im Denken anstatt Methodenautismus und dazu radikale Leistungsbereitschaft: Darauf achten wir deutlich mehr als auf einschlägige Fachexpertise.

Was mich darüber hinaus (vielleicht unfairerweise) skeptisch macht: Als Agenturgeschäftsführer bekomme ich etwa 50 Anfragen im Jahr von Studierenden der Kommunikationsfächer für Umfragen und Interviews im Rahmen von Abschlussarbeiten. Und in den letzten Jahren war nur eine einzige davon Werbung für den Studiengang oder die Studentin. Beim Rest musste ich sehr an mich halten, um geduldig und freundlich zu bleiben (was ich zunehmend wieder schaffe, weil es mir wichtig ist, dass Studierende wissenschaftlich arbeiten). Daher: Ich weiß nicht, ob es wirklich nur die ansprechendere "Verpackung" der Themen ist, die dazu führt, dass ich die bei internationalen Preisen ausgezeichneten Abschlussarbeiten und ihre Autorinnen irgendwie fast immer inspirierender fand bisher als die bei deutschen Preisen präsentierten.

Tatsächlich profitieren wir sehr vom aktuellen Wissen und von der wissenschaftlichen Neugier der jungen Leute in unseren Teams. Soziologinnen, Medienwissenschaftlerinnen, Gesundheitswirtinnen, Historikerinnen, Wirtschaftspsychologinnen, Kommunikationswirtinnen und vielen mehr. Impulse aus neuen Erkenntnissen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften sind unschätzbar. Und helfen außerdem den Trainees und Volontärinnen, sich auf das schnelle und sich schnell verändernde Geschäft in Agenturen einzustellen.

Warum wir unseren Nachwuchs gerne ausbilden

Diejenigen von uns, die schon lange oder länger in Agenturen sind, haben sich oft bewusst für eine Agentur entschieden. Und es ist kein Zufall, dass eher diejenigen, die hochspezialisiert in ihrem Feld sind, im Laufe der Berufstätigkeit "quer" in Agenturen einsteigen – und nicht in gleicher Menge die Beraterinnen und Generalistinnen, von denen wir in den Agenturen, die aus der PR kommen, immer noch und (so meine Prognose) auch morgen noch viele haben. Agentur ist etwas, das ich mögen muss. Denn Agentur ist anstrengend, wenn ich nicht weit überdurchschnittlich neugierig bin (ok, sonst auch oft, aber das ist noch mal ein anderes Thema).

In guten und modernen Agenturen haben wir Methoden für Beratung und Kreativität entwickelt, die uns auszeichnen und unterscheidbar machen. Wir haben Positionen zu Trends und Themen, wir wetten auf die Zukunft von professioneller Kommunikation. Wir müssen, wenn wir unser Geld Wert sein wollen, unsere Kundinnen inspirieren und überraschen, etwas anders machen, als sie es erwarten würden, zwei Schritte weiter denken, als sie es heute schon umzusetzen überlegt haben.

Und dafür brauchen wir gemischte Teams. Aus Menschen mit langjähriger Erfahrung, aus total fachfremden Leuten, aus Kreativen und Plannern. Wir haben unsere jeweilige Art entwickelt, wie wir zu Kommunikationsstrategien und großen Ideen kommen. Und wir haben unsere unterschiedlichen Herangehensweisen an Kampagnen und Kanäle. In einigen Agenturen werden integrierte Kampagnen von verschiedenen Spezialistinnen umgesetzt - in anderen werden sie von Generalistinnen über alle Kanäle gespielt. Während bei uns beispielsweise jede Beraterin auch den Facebook Business Manager bedienen kann, wird das in anderen Agenturen in speziellen Social-Media- oder Paid-Media-Teams gemacht.
Agentur ist anstrengend, wenn ich nicht weit überdurchschnittlich neugierig bin
Niemand, die aus einem Studium kommt, kann das alles so können, wie es in der Agentur gebraucht wird. Ein wissenschaftliches Studium würde ich – Stand heute – als Voraussetzung für eine Ausbildung in einer Agentur bezeichnen. Ein kommunikationswissenschaftliches Studium kann da eine Möglichkeit sein. Wenn jemand für Kommunikation brennt und sich brennend für kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen interessiert. Sonst ist es eher keine Möglichkeit, um den Einstieg in eine Agentur zu schaffen, siehe oben, das Brennen und die Neugier.

Ein Traineeship/Volontariat ist dann ähnlich wie in anderen Berufen ein Teil der Ausbildung. Und im Übrigen auch, denn das war ja mal wieder der Ausgangspunkt, ähnlich bezahlt wie ein Referendariat.

28.8.18

Rechte und linke Demonstranten

Symbolbild: Linksradikale (laut Medien)
Ein Nazimob rennt durch eine sächsische Kleinstadt. Menschen, die keine Nazis sind, demonstrieren dagegen, dass ein Nazimob durch die sächsische Kleinstadt rennt. Und die deutschen Medien heute so (und zwar bis in die von mir geschätzte liberale Zeit Online hinein): "Proteste rechter und linker Demonstranten". Das ist ein Problem. Oder vielmehr: Das ist der Sieg (zumindest der kulturelle und der Diskurssieg) der Rechtsextremen in diesem Land.

Denn wo Menschen, die keine Nazis sind, als "links" bezeichnet werden, erscheint Nazisein als fast schon normal, nämlich als nicht-links. Und das ist für die meisten Menschen in diesem Land gut und normal. Also nicht-links zu sein. Unter anderem deshalb, weil die Worte rechts und links im öffentlichen Diskurs heute nicht mehr eine grobe und unproblematische Verortung in einem politischen Koordinatensystem meinen, sondern das, was "wir" früher als rechts- oder linksradikal bezeichnet haben. Wie vor einigen Jahren ein damals noch jugendlicher Verwandter formulierte: "Rechts ist, wenn ich Ausländer verhaue, nicht, wenn ich was gegen Ausländer habe". Das hat mich damals unglaublich aufgeregt. Und heute ist es Teil dessen, was die meisten Menschen, die ich erlebe, ungefähr so sagen.

Wenn es in diesem Sinne "links" sein soll, gegen Nazis zu sein, dann ist es wohl noch schlimmer, als ich dachte. Dann richten sich Journalistinnen und Politikerinnen in einer bequemen Äquidistanz ein - Nazis und Nicht-Nazis, irgendwie beide gleich weit weg von mir. Merkt ihr, oder?

Es ist nicht links, gegen Nazis zu sein und aufzustehen, wenn sie marschieren oder rennen. Es ist normal. Und viele Konservative, die ich kenne (und die sich, wenn sie in meinem Alter oder etwas älter sind, selbst eigentlich als "rechts" im alten Sinne bezeichnen würden), finden es überhaupt nicht witzig, dass sie auf einmal als Linke bezeichnet werden, nur weil sie gegen Nazis sind.

Ich glaube, auch nur in diesem Sinne ist verständlich, wieso rechtsextreme ehemalige Konservative einen "Linksruck" der CDU beklagen. Da, wo sich die CDU (also fast nur in Westdeutschland und auch da leider längst nicht überall) klar gegen Nazis positioniert, ist sie in diesem Sinne nämlich "links". Aha. So, auch und gerade mit der gedankenlosen Formulierung "rechte und linke Demonstranten", werden Menschen, die sich nicht selbst als "links" bezeichnen, gegenüber Nazis desensibilisiert.

Das macht mir viel mehr Angst als ein Nazimob, der durch Chemnitz rennt. Und dass die Polizei nichtmal diese Äquidistanz hat. Eigentlich traurig, dass ich schon froh wäre, wenn die Polizei als Institution Nazis ähnlich behandelte wie linken Protest.



17.7.18

25

Wir haben Freundinnen, die auch die 25 geschafft haben. Auf ganz andere Weise. Die nie streiten und die wir mit unserer Art wahnsinnig machen. Es gibt also mehr als einen Weg. Denn dies haben wir ja gemeinsam: 25 Jahre und kein Ende in Sicht.

Meistens sprechen Menschen von Höhen und Tiefen. Und wir hatten auch welche. Aber wenn ich darüber nachdenke, keine als Paar. Sondern nur einzeln. Und die Tiefen waren darum einfacher durchzustehen. Denn wir waren jeweils nicht allein.

Dass wir ein wir sind, das, was viele Menschen an Partnerschaften so nervt, ist vielleicht das Schönste daran. Neben allem anderen. Allem anderen.



Vier Kinder, vier Häuser und eine Pferdeherde später bin ich immer noch sehr, sehr froh, dass wir damals, am 17. Juli 1993, noch mitten im Studium, als erste aus dem Kreis unserer Freundinnen, sehr zur Überraschung fast aller Menschen um uns herum, geheiratet haben.

In weiß und in schwarz, aber ohne das ganze Getüdel, dass später üblich wurde. Mit einem wunderschönen Fest, das wir uns von unseren Eltern gewünscht hatten. Mit zwei Trauzeuginnen, die uns bis dahin begleitet hatten und uns bis heute begleiten, Paten zweier unserer Kinder wurden, selbst heirateten, da waren.


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25 Jähre sind keine Selbstverständlichkeit.


Für 25 Jahre bin ich sehr, sehr dankbar.



25 Jahre sind erst der Anfang.




24.5.18

Datenschutzdingspanik


Jetzt, wo sich die Debatte um Datenschutz und Datensouveränität in meiner Filterblase ihrem hysterischen Höhepunkt nähert, doch noch einmal drei, vier Beobachtungen zum Datenschutz und zur Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Dies ist keine juristische Einschätzung, es sind nur die Beobachtungen, die ich in den letzten zwei Jahren (ja, denn so lange beschäftigen sich diejenigen, die jetzt gerade nicht Panik schieben, ja bereits damit) gemacht habe – und die mich teilweise sehr irritieren und ratlos machen. Also ein paar weitgehend unzusammenhängende Absätze.

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Besonders auffällig finde ich, dass ich aus größeren Unternehmen – die eigentlich überproportional von Datenschutz betroffen sind – deutlich unterproportionales Jammern höre. Meine These dazu ist ja, dass da, wo die Verordnung gelesen (und dank Fachkompetenz von Fachleuten verstanden) wurde, die Panik ausgeblieben ist. Das finde ich zunächst einmal interessant.

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Ich habe mir sehr viele der Mails, die von Newsletter-Versenderinnen kamen in den letzten Wochen, durchgelesen. Der allergeringste Teil davon ist gerechtfertigt gewesen, weil das, was da abgefragt wurde, ganz offensichtlich gar nicht an der DSGVO liegt. Denn in den meisten Fällen gab es eine Double-Opt-In von mir und eine Zustimmung zur Speicherung meiner Daten und zum Empfang der Mails. Allerdings ist auffällig, dass sehr viele über diesen Weg zum einen versucht haben, weitere Daten (vor allem den Namen) von mir zu bekommen. Und zum anderen eine weitergehende Zustimmung zur Nutzung meiner Daten als ich bisher gegeben hatte.

Besonders apart fand ich die Bettelmails, die voller Bedauern auf die schlimmen Veränderungen hinwiesen (offensichtlich anknüpfend an die Panikberichte der letzten Wochen) - um dann allerdings zu versuchen, mich zu absurd weitgehenden Zustimmungen zur Datenpreisgabe und Einwilligung zu tricksen. Anders erklärbar wären viele diese Mails nur, wenn die Versenderinnen aufgrund schlampiger bisheriger Prozesse nicht nachweisen könnten, dass ich ihren Mails und der Speicherung meiner Daten zugestimmt habe. Weiß nicht, was ich schlimmer finden soll.

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In dem Zusammenhang fand ich die sehr verschiedene Tonalität von Online-Aktivistinnen aus Deutschland und aus Nordamerika gelinde gesagt verstörend. Sehr gut war das auch auf der diesjährigen re:publica zu beobachten für die, die es vorher noch nicht so verfolgt hatten: Während ich von US-Aktivistinnen fast nur lobende Worte hörte, war von sehr vielen deutschen Aktivistinnen sehr weitgehende Kritik zu hören.

[In dem Zusammenhang und etwas off topic auch die Beobachtung, dass ebenfalls die Diskussion rund um das NetzDG, also den deutschen Umgang mit Gewalt in Sozialen Medien, entlang dieser Linie ebenfalls so unterschiedlich ausfällt. Amerikanische Jüdinnen und Feministinnen dazu zu lesen, ist total interessant – bis hin zu der Beobachtung, dass für etliche von ihnen Deutschland online eine Art "safe space" geworden ist.]

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Während (meine Einschätzung: effektheischend) einige Startups und Services mit einer I-don't-care-Haltung zu Datenschutz und Datensouveränität nun unter großen Tränen Europäerinnen von ihren Services ausschließen, wenden andere Unternehmen die europäischen Regeln nun weltweit an. Nach dem, was ich aus Unternehmen höre, sei das ohnehin nicht schwer, weil außer einer stringenteren Dokumentationspflicht ein ethisch und rechtlich vernünftiges Verhalten auch vorher schon ungefähr so ausgesehen hätte. Ob das so ist, kann ich mangels Fachkenntnis nicht beurteilen, es macht mich aber nachdenklich.

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Dass sich im Zuge der DSGVO mehr und mehr Menschen, die Onlineangebote betreiben, mit der Frage beschäftigen (müssen), ob sie eigentlich personenbezogene Daten erheben und verarbeiten (ich musste das für dieses Hobby hier, also diese Blog und das andere Hobby-Blog, ebenfalls, oder habe es jedenfalls auch erstmals gemacht), kann ich irgendwie nicht doof finden. Wenn dann einige, denen es zu mühsam ist, sich das anzugucken und darüber nachzudenken und zu versuchen, das zu verstehen, ihre Onlinedings schließen/löschen/beenden, dann finde ich das auch nur so mittelgut – aber das ist zum einen ihr gutes Recht. Und zum anderen vielleicht doch auch irgendwie gut so. Denn wenn es ihnen zu mühsam ist, sich diese Frage zu stellen, habe ich auch nur wenig Hoffnung, dass sie verantwortlich mit Daten anderer umgehen (wollen).

In dem Zusammenhang finde ich es interessant, wie anders die Frage nach Datenschutz und die Frage nach Algorithmen diskutiert werden in meiner Ecke des Internets. Denn während es sehr viele Aktivistinnen gibt, die fordern, dass Menschen Algorithmen zumindest dem Grunde nach verstehen sollten (das meint ja die Forderung nach Programmiergrundkenntnissen für alle bzw. Programmieren als Schulfach), ist mir die gleiche Forderung in Bezug auf Daten, Datenschutz oder Datensouveränität bisher nicht aufgefallen. Was ich übrigens schade finde. Und bei näherem Nachdenken irgendwie auch das noch wichtigere Thema als das Programmieren für Schule, Weiterbildung und Aufklärung. Aber na ja.

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Nach dem, was ich im Beruf mitbekommen und was ich rund um mein Hobby gemacht habe anlässlich der DSGVO, scheint es mir so zu sein, dass es tatsächlich an der einen oder anderen Stelle anstrengend ist. Vor allem die Dokumentationspflichten sind nicht das reine Vergnügen. Aber: die kann ich verstehen - sowohl verstehen im Sinne von "ich weiß, was damit gemeint ist" als auch im Sinne von "ich weiß, warum das so sein soll".

Was ich gelernt habe in den letzten Wochen, ist vor allem, wo etwas, das ich tue, personenbezogene Daten, Daten im Sinne der DSGVO, erzeugt. Und wenigstens teilweise habe ich gelernt, was mit denen passiert im Hintergrund, ob und wo sie gespeichert werden, ob und wie sie ausgewertet werden. Ich halte es für richtig, dass jemand, die etwas macht, wobei diese Daten anfallen, genau dieses auch lernt. Und finde es im Gegenteil eher bedenklich, dass ich mir vorher darüber weder Gedanken gemacht habe noch nachgeguckt habe. Ja, kann man doof finden, kann man auch überflüssig finden – sollte man dann aber auch genau so sagen, denke ich.

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In meiner Ecke des Internets, in meiner Bezugsgruppe, höre ich in den letzten Wochen oft, die DSGVO habe dem Thema Datenschutz einen Bärendienst erwiesen, vor allem weil sie auch Gutmeinende in die Ablehnung getrieben hätte. Als jemand, der beruflich selbst Kampagnen macht und ein bisschen sensibel ist für das Beobachten von Kampagnen, bin ich mir nicht ganz sicher, ob da nicht manche, die sich für dafür nicht sehr anfällig halten, einer Kampagne derer aufgesessen sind, denen die Nebelkerzen nutzen. Also den Datenhändlerinnen (darunter die meisten Verlage) und Scoring-Anbieterinnen. Eine Folge des Trommelfeuers auch der Aktivistinnen gegen die DSGVO scheint mir zu sein, dass – wie oben beschrieben – etliche die Grundstimmung, die durch das Trommelfeuer geschürt wurde, nutzen, um Blankovollmachten einzufordern und eine Entmachtung von Menschen in Bezug auf ihre Daten zu versuchen.

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Zu sagen, der Versuch, eine systemische Grundlage schaffen, die Menschen einen souveränen, also mächtigen, eigenen Umgang mit den eigenen personenbezogenen Daten ermöglicht (selbst wenn den nicht alle nutzen wollen oder werden), sei bevormundend oder anders paternalistisch, kommt mir sehr grotesk vor. Oder libertär. Was ja aber ein Pleonasmus ist.

11.4.18

Wiederlesen

Weichselkirschen
Dieses Jahr werde ich mehr lesen, sagte ich ja schon. Und es fing ja auch gut an. Doch dann begann ich mit Leonie Ossowskis Weichselkirschen. Ich kam nicht gut rein, fand es mühsam, im Stil altbacken, als Thema uninteressant (dabei war mir viel Positives dazu erzählt worden). Und habe darum zwischendurch noch mal eben alle sieben Bände Harry Potter in der tatsächlich wundervollen neueren Fassung, gelesen von Stephen Fry, gehört. Was dadurch kam, dass einer meiner Söhne sie sich zum Geburtstag gewünscht hatte. Über Harry Potter als Begleiter durch Kindheit und Jugend meiner beiden älteren Kinder muss ich ohnehin irgendwann mal schreiben, aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls war ich raus. Und als ich dann durch war mit Harry Potter (und da ich mich entschlossen habe, mein Lesetagebuch nur über Papier zu führen und nicht über Audio) nahm ich Ossowskis Buch wieder in die Hand. Und hatte keine Lust mehr.

Mir fällt es immer noch schwer, Bücher aus der Hand zu legen, ohne sie auszulesen. Ich kann mich eigentlich bisher nur daran erinnern, dass mir das mit der Tante Jolesch passiert ist.

Mit einem Buch aufzuhören, bevor es zu Ende ist, fühlt sich an wie eine Niederlage. Und ich mag Niederlagen irgendwie nicht so gerne. Andererseits ist es auch blöd, sich durch Bücher zu quälen, die ich aus Genuss und in der Freizeit lese(n will). Also kam es gerade Recht, dass ich neulich etwas leichtfertig über Thomas Manns Doktor Faustus schrieb. Und dass es im Bücherregal steht, weil ich es immer mit umzog, obwohl ich es 1989 zum letzten Mal gelesen habe. Ich erinnere mich noch, dass ich, Bildungssnob, der ich war, über die Rolle der Religion im Faustus meinen Impuls vorbereitete und meine Gruppendiskussion führte, als ich zum Auswahlwochenende für die Studienstiftung eingeladen worden war. Und mein Erstkontakt mit ihm war über viele, viele Wochen in "Am Abend vorgelesen" im NDR, gelesen vom großen Gert Westphal. Ich musste mich irre beeilen, wenn ich vom Chor nach Hause kam, weil es sehr knapp war, noch rechtzeitig am Radio zu sein. Those were the days.

Jedenfalls sind es jetzt diese vergilbten Seiten, dazu Schönbergs Streichquartette auf den Ohren, die mich beim Pendeln begleiten für einige Zeit.


[Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr beim Pendeln mehr zu lesen. Bücher und so. Wenn es in dem Tempo weitergehen sollte, werden das viele, aber wer weiß. Und das hier ein Lesetagebuch. Vielleicht.]

22.3.18

Konservative Revolution

Es gehört zu den merkwürdigen Legenden, die sowohl von linksliberalen Intellektuellen als auch von autoritären Rebellinnen immer wieder kolportiert werden, dass Intellektuelle in Deutschland eher links seien. Das war nie so, das ist nicht so, das ist nicht an sich schlimm, finde ich. Denn wie Robert Habeck in (wie er sagen würde) einem Blog wunderschön beschrieb, sind auch für Menschen, die sich eher links oder liberal verorten, konservative Intellektuelle oder Künstlerinnen inspirierend.

Bis in die 60er Jahre hinein stand der Mainstream, wenn es denn so etwas gibt unter Intellektuellen, in Deutschland eigentlich auch sehr konsequent und wirkmächtig rechts bis ganz rechts. Und eine besonders wirkmächtige Bewegung darin war die so genannte "Konservative Revolution", an die einige Autoritäre gerade wieder anknüpfen wollen (obwohl ich ehrlich gesagt eher davon ausgehen würde, dass Dobrindt und andere nicht wissen, woran sie anknüpfen, wenn sie diesen Begriff verwenden). Was mich an der rohen Sprache und dem unpräzisen Raunen einiger Intellektueller gerade in diesem Zusammenhang sehr beunruhigt, ist allerdings, dass die sehr expressionistisch geprägte (George!) Konservative Revolution der 20er und 30er auf Menschen, die für starke Gefühle im intellektuellen Diskurs ansprechbar sind, weit über Konservative hinaus eine hohe emotionale Sogwirkung haben kann.

Friedrich Gogarten

Mein wichtigster Lehrer im Studium hat mich beispielsweise mit Gogarten in Berührung gebracht. Der unter den brillanten Theologen des 20sten Jahrhunderts der war, den ich zur Konservativen Revolution zählen würde (und trotzdem wahrscheinlich der einzige seiner Generation, der Luther, speziell de servo arbitrio, verstanden hat, wie es in jeder Generation fast immer nur eine oder einen gibt). Und mich sehr in seinen Bann zog. Ich kann also (emotional) nachvollziehen, wie sich Menschen dieser Gewalt und gewaltigen Sprachmacht zuwenden, die immer Bestandteil der Konservativen Revolution ist und sein muss.
(Weshalb ich auch nicht wirklich besorgt bin ob des sprachlich armseligen Furors, den aktuell die sich revolutionär empfindenden Konservativen der Erklärung 2018 abbilden.)

Thomas Mann, selbst unverdächtig links oder liberal zu sein, hat ein wunderbares Buch geschrieben, das zwar formal über Musik geht - aber im Grunde von der Konservativen Revolution handelt. Im Doktor Faustus beschreibt er das faustische, teuflische an dieser Lust an der Brutalität. Ich habe das genaue Zitat beim Durchblättern in den letzten Jahren nicht wieder gefunden (und es kann auch sein, dass es gar nicht aus dem Buch selbst ist sondern aus seinem Essay über das Buch), aber in meiner (wahrscheinlich falsch erinnerten) Formulierung ist es mir eine wichtige Leitschnur geworden:
Wo die Altertümlichkeit der Seele auf die Hochfahrenheit des Geistes trifft, da ist der Teufel.

Ethnopluralismus

Davon sind wir noch ein bisschen entfernt, aber eher, weil der Geist derer, die da hochfahren, eher nicht so riesig ist bisher. Weil die großen Intellektuellen, auf die dieser Satz zutrifft, bis auf Sloterdijk verstummt oder tot sind. Und bisher nur kleine nachgekommen sind. Aber das Potenzial ist da, gerade wenn es sich mit der intellektuell brillanten französischen Spielart der Konservativen Revolution verbindet, dem Ethnopluralismus, der so elegant daherkommt, wo die Deutschen so martialisch wirken.

Meine Sorge ist, dass durch die Legende vom linksliberalen intellektuellen Mainstream die reale Größe und die emotional-intellektuelle Gefahr der rohen, revolutionären Konservativen übersehen werden könnte. Denn die Mehrheit der Intellektuellen war immer (sehr) konservativ.

Mein Zwischenfazit ist darum: Es lohnt sich sehr, sich mit den Intellektuellen der „konservativen Revolution“ der 20er/30er zu beschäftigen, die in ihrer (Thomas Mann würde sagen) Hochfahrenheit des Geistes so enthusiastisch waren. Ein großer Teil der Intellektuellen war auch die letzten 30 Jahre rechts - nur dass es nicht so eine Resonanz hatte. Aber Walser, Strauß, Sloterdijk, Bolz, alle die gab es schon. Und Doktor Faustus war faktisch über sie geschrieben.

Verrückt, wie aktuell mein liebstes Lieblingsbuch wieder ist.

16.2.18

Wurst

Über die letzten, sagen wir mal, fünfzehn Jahre bin ich objektiv betrachtet deutlich konservativer geworden. Das erschreckt mich manchmal. Ich merke es deutlich, wenn ich alte Texte in diesem Blog lese, das am Sonntag seit fünfzehn Jahren online ist, und wenn ich mit dem einen oder anderen meiner Söhne diskutiere.

In einer größeren Gruppe von Menschen, die ich seit Jahren unregelmäßig sehe und die hohe und sehr hohe Führungspositionen inne haben, gibt es einen, der immer sehr klar zu seiner sehr konservativen Position gestanden hat. Die er als einer der wenigen in dieser Gruppe laut und deutlich vertrat und immer noch vertritt. Er hat seine Position in den letzten, sagen wir mal, fünfzehn Jahren, in denen wir uns in diesem Rahmen begegnen, nicht wesentlich geändert und bezeichnet sich selbst übrigens ebenfalls als "sehr konservativ".

Als diese Gruppe vor einige Zeit und nach längerer Pause, über ein Jahr, wieder einmal zusammenkam, war etwas sehr Merkwürdiges passiert. Oder eigentlich drei merkwürdige Dinge. 

Zum einen wurde sehr viel mehr über Politik geredet als jemals zuvor. Zum anderen waren die Frauen in dieser Gruppe so schweigsam wie seit Jahren nicht mehr. Und zum dritten war jener sehr konservative Mann auf einem Koordinatensystem, das von rechts nach links sortiert wäre, derjenige, der von allen dort im Raum mir am nächsten war. Und von den Männern, die sich lautstark äußerten, der einzige, der keine Selbstviktimisierung betrieb. Wir beide wurden im Laufe des Abends immer schweigsamer.

Tatsächlich ist meine Erschütterung über dieses Erlebnis größer, als ich zunächst dachte. Wie es passieren konnte, dass so viele verstummten, macht mir Angst. Und die Wurstwerdung von Stahlträgern des Systems irritiert mich sehr.

Symbolbild: Würste

14.2.18

Wie ich das zweite Mal aus der SPD austrat

Zweimal bin ich aus der SPD ausgetreten. Nachdem ich, seit ich 14 war, in ihr mitgearbeitet hatte. Das erste Mal nach den Petersberger Beschlüssen 1992, in denen die Partei die Schleusen öffnete für den Rechtsruck der Gesellschaft. Ich denke, dass es nicht völlig abwegig ist, Engholm, den ich ansonsten sehr verehre, als einen der Wegbereiter des Klimas zu bezeichnen, das schließlich zum Aufstand und Aufruhr der Autoritären führte. Und dann das zweite Mal, als niemand bereit war, wenigstens den Versuch zu unternehmen, Schröders Unterwerfung der Partei zu verhindern. Womit wir bei Nahles wären.

Ich finde es gut, dass sie Vorsitzende werden will und aus Sicht des Vorstandes soll. Ich hätte mir nur gewünscht, sie wäre es schon 1999 geworden. Da hätte es gepasst. Damals habe ich es ihr und anderen Linken (damals gehörte sie formal zu den Linken in der Partei, daher kommt wahrscheinlich heute noch dieses Etikett) sehr übel genommen, dass sie nicht den Versuch unternahmen, die Partei unabhängig von der Regierung zu positionieren.

Dieses Zurückzucken vor der Macht habe ich nie verstanden, schon 1990 nicht, als Lafontaine den ihm von Vogel angetragenen Parteivorsitz ausschlug. Dass Nahes heute weiter ist, finde ich super. Es wird ihrer Partei gut tun, an der ich mich ja auch nur deshalb immer noch und immer wieder abarbeite, weil sie mir im tiefen Herzen wichtig ist. Und ich es sehr bedauern würde, wenn sie wie in vielen anderen Ländern Europas unterginge.

26.1.18

Das Nachwort

Seit Jahren wollte ich einen Henry-James-Roman lesen. Wenn ich ehrlich bin, liegt das an Notting Hill. Also an dem Film. Wisst schon, wieso... Also habe ich mir, ebenfalls vor Jahren, die Aspern-Schriften gekauft. Weil es in Venedig spielt, das ich so liebe und ganz gut zu kennen glaube. Und nun also endlich gelesen.

Henry James: Die Aspern-Schriften, 180 Seiten

Die Ausgabe, die ich von dem Buch habe (das eigentlich eher eine Novelle ist, auch wenn Roman draufsteht), hat hinten drin ein Essay der Übersetzerin Bettina Blumenberg. Und ohne dieses Essay hätte mich die Geschichte etwas ratlos zurück gelassen. Übrigens gefällt mir die Übersetzung sehr, sprachlich vor allem. Dass Blumenberg mir aber am Ende noch einmal erklärt, warum das, was mich irritierte, gewollt und richtig und besonders kunstvoll ist, beruhigte mich etwas. Denn ohne den Kontext war es mir so merkwürdig fleischlos, toastbrotartig erschienen. Ja, die gewisse Lieblosigkeit, mit der der Ich-Erzähler hantiert, war als Ausdruck seines Charakters gedacht, das war mit klar. Aber diese lapidare Form, in der alle, die in der Geschichte auftreten, unsympathisch bleiben oder werden, trieb mich immer schneller durch die Geschichte, ohne dass sich Genuss oder auch nur ein Eintauchen einstellte. Dass Venedig im Grunde nicht einmal die Kulisse darstellt, tut ein Übriges.

Über's Nachwort habe ich es verstanden. Und lächelte über meine Naivität. Sollte ich noch was von Henry James lesen, wenn es mir so mit dieser Novelle ging?

[Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr beim Pendeln mehr zu lesen. Bücher und so. Wenn es in dem Tempo weitergehen sollte, werden das viele, aber wer weiß. Und das hier ein Lesetagebuch. Vielleicht.]

17.1.18

Vorurteilen zum Trotz

Ich muss etwas gestehen: Ich habe bis jetzt dieses Buch (DIESES BUCH11!1!!11) noch nie ganz gelesen. Immer mal angefangen aber nicht durchgehalten oder durchhalten wollen. Und war voller Vorurteile, weil ich mich nicht auf Stil und Sprache einlassen wollte.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil, 402 Seiten

Jetzt aber. Und voila, es hat gar nicht weh getan. Am meisten haben mich zwei Dinge überrascht: zum einen, dass es immer als ironisch oder karikierend beschrieben wird. Es ist witzig, sehr oft. Aber ist es wirklich eine Karikatur? Und zum anderen, dass es ja tatsächlich wie das Drehbuch der großartigen Miniserie der BBC mit Jennifer Ehle und Colin Firth ist. Erstaunlich, wie genau sich diese Verfilmung an das Buch hält.

Und weil ich die Geschichte also doch sehr genau kenne, habe ich das Buch tatsächlich dieses Mal genossen. Auch, weil es für sein Alter sehr rasant ist. Keine Längen, keine sinnlosen Kapriolen, wunderbar konstruiert. Eben die Mutter aller Liebesgeschichten. Geholfen hat mir dabei, dass ich zum ersten Mal einen Versuch machte, es in größeren Stücken zu lesen. So konnte ich mich mit mehr Ruhe in die Sprache einfinden. Pendeln ist zu was gut...

Was mich dann beim Lesen gefesselt hat, ist, dass dieser Roman nie süßlich ist. Nicht im eigentlichen Sinne romantisch. Und erst auf den letzten Seiten rührend. Und wie immer die Perspektive Elisabeths gehalten wird. Ihre inneren Kämpfe und ihre Weiterentwicklung im Mittelpunkt stehen - was keine der vielen Verfilmungen und Adaptionen, die ich kenne, auch nur in Ansätzen abbildet.

Es ist ein großes Buch. Ein menschliches. Und eines, bei dem mich nie störte, dass ich die "Story" kenne, dass alle Menschen es schon gelesen haben, meine Liebste viele, viele Male beispielsweise. Im Gegenteil, so konnte ich mein Erstaunen und meine Gedanken teilen, ohne etwas erklären zu wollen. Hab ich genossen.

Endlich abgehakt auf der ewigen Leseliste. Und schade, dass es schon zu Ende ist.


[Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr beim Pendeln mehr zu lesen. Bücher und so. Wenn es in dem Tempo weitergehen sollte, werden das viele, aber wer weiß. Und das hier ein Lesetagebuch. Vielleicht.]

15.1.18

Pimmelparade

Symbolbild
Sehr passend finde ich ja, sich über (fast) reine Männerlisten, Männerumfragen, Männerpanels mit diesem Wort lustig zu machen. Denn wo es sie gibt, ist es genau so lächerlich wie dieses Wort suggeriert: sehr.

Daran musste ich Ende letzten Jahres wieder denken, als ein Rundruf bei Medienschaffenden dazu, wie denn 2018 so werde, in einem Fachdienst rund 15 Männer und eine Frau mit ihren Antworten aufgeführt waren. Was für eine beknackte Pimmelparade. Die Redaktion gab sich selbstbewusst und wies darauf hin, dass die Frage an etwa gleich viele Männer wie Frauen geschickt worden sei - aber fast nur Männer geantwortet hätten. Na sowas. Womit sie das Phänomen der Pimmelparade sehr gut beschrieben hat.

Mit dieser Frage beschäftige ich mich ja schon lange. Ich hab gerade mal nachgeguckt - im Zusammenhang mit meiner Partei schrieb ich 2011 schon mal was dazu. Und als ich feststellte, das das tatsächlich schon 2011 war, erschrak ich sogar etwas.

So wenig sind wir seitdem weitergekommen? Es ist immer noch die gleiche Ausrede? Dieses "wir haben ja gefragt, sie wollten ja nicht" wird von sehr vielen immer noch nicht als Teil des Problems erkannt? Das finde ich sehr, sehr traurig und grotesk.

Eine Pimmelparade bleibt beknackt

Egal, welche Ausrede ich finde, sie bleibt falsch. Und wenn es, wie in dem Beispiel im Dezember, auf eine Idee nur Zustimmung von Männern gibt, sehe ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich akzeptiere, dass ich eben eine Pimmelparade mache und stehe dazu. Oder ich hinterfrage das, was ich da angeschoben habe.

Denn es kann ja auch sehr gut sein, dass nur so wenige Frauen auf den Rundruf reagiert haben, weil sie die Frage und das Format genau so doof fanden wie ich es auch fand. Nur dass ich mich in meiner Eitelkeit wahrscheinlich dafür entschieden hätte, eine Antwort zu schicken, um mein Bild auf der Website zu sehen. Eine solche Rücklaufquote wäre also eigentlich die ideale Gelegenheit, über das Format nachzudenken. Oder zumindest (zumindest!) einmal nachzufragen bei der einen oder anderen, wieso sie nicht geantwortet hat.

Wenn ich für Fensterredenkongresse nicht genug Sprecherinnen finde, kann das daran liegen, dass ich doof bin. Oder daran, dass das Format Fensterrede doof ist. Wenn sich in einer Debatte irgendwann nur noch Männer zu Wort melden, kann es sein, dass das Thema nur Männer interessiert. Oder dass schon alles gesagt ist und es langweilig wird.

These: Eine Pimmelparade ist ein untrügliches Zeichen, dass Thema oder Format langweilig und irrelevant ist.

9.1.18

Altes Land

Ein so zauberhaftes Buch. Zwei Tage, vier Bahnfahrten nur. Netto also rund sechs Stunden. Und schade, dass es schon vorbei ist.

Dörte Hansen: Altes Land, 287 Seiten

Es ist vor allem und mehr noch als die Geschichte die Sprache, die mich sofort und die gesamte Zeit in den Bann geschlagen hat. Dieser lapidare, fast lyrische Stil, der sehr aus der Mode ist, den ich aber immer so sehr genieße. Mit den Perspektivwechseln zu jedem Kapitel, die alle wunderbar zärtlich-spöttisch gemalten Protagonistinnen vielschichtig und lebendig machen.

Keine einzige Person in diesem Kammerstück ist grotesk überzeichnet. Den Barmbeker Tischler kenne ich aus Bramfeld. Die Ottensener Eltern sehe ich jeden Tag. Die Altländer Bauern und noch mehr die Bäuerinnen erinnern entfernt an die, die ich auf dem Land treffe. Die Stadtflüchtigen sind die einzigen, die wirklich doof sind. Also alles wie in echt.

Und ansonsten ist es die liebevoll erzählte Geschichte von Menschen, die nicht "funktionieren", aber irgendwie zusammen ins Leben zurück finden. Mehr noch als die von einem Haus, das so windschief ist wie seine Bewohnerinnen.

Was für ein Lesegenuss jedenfalls. Was für Jahresauftakt für mich, der mich glücklich machte.

[Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr beim Pendeln mehr zu lesen. Bücher und so. Wenn es in dem Tempo weitergehen sollte, werden das viele, aber wer weiß. Und das hier ein Lesetagebuch. Vielleicht.]