21.1.21

Christianismus – eine massiv unterschätzte Gefahr für unsere Gesellschaft

 

Bild einer Kreuzzugspredigt
Christianismus, der – radikale politische Ideologie, die sich (aus Sicht der meisten Christ:innen: fälschlicherweise) auf das Christentum beruft und vorgibt, eine christliche Gesellschaft formen oder erhalten zu wollen. Die politisch radikale Form eines christlichen Fundamentalismus, oft auch als "religiöse Rechte" oder als "politisches Christentum" bezeichnet.

***

Während über den Islamismus, den "politischen Islam" viel geredet und geschrieben wird und weitgehende Einigkeit besteht, dass Muslim:innen sich vom Islamismus aktiv zu distanzieren haben (auch wenn der in dieser Forderung praktisch inhärente Rassismus noch mal gesondert zu besprechen wäre), ist der Christianismus weitgehend undiskutiert, wenn es nicht um die religiöse Rechte in den USA oder die rechtsradikalen Pflingstgemeinden in Brasilien geht. 

Dass aber der Christianismus auch in Europa und speziell in Deutschland ein massives und sehr gefährliches Problem ist, diskutieren wir selten. In Ansätzen erlebe ich die Kritik und die Diskussion langsam in theologisch konservativen evangelischen Kreisen, die sich bewusst und aktiv gegen eine Vereinnahmung durch faschistische Bewegungen und Parteien wehren, aber nicht in der Breite meiner Kirche. Und schon gar nicht in der Politik. Nicht hilfreich (aus religiöser Binnensicht) ist sicher auch, dass ansonsten diese Diskussion eher von einer Gruppe getrieben wird, die ich als "religiöse Atheist:innen" bezeichnen würde, also denen, die Religion – und insbesondere das Christentum – an sich und mit religiösem Eifer ablehnen oder hassen, und den Christianismus darum als "natürliche" Form und logische Konsequenz des Christentums sehen und beschreiben.

***

Und die Versuchung des Christianismus ist für Christ:innen ja auch real – denn wenn ich glaube, dann versuche ich, mein Leben danach auszurichten. Und wenn ich glaube, dass es eine Wahrheit gibt, dann wäre es auch schön, wenn das Leben allgemein auf diese Wahrheit ausgerichtet ist. Wer hier stehen bleibt und daraus ableitet, dass Gesellschaft und Politik so organisiert werden sollen, ja: müssen, überschreitet sehr leicht die Linie, die eine liberale Demokratie von einem autoritären Regime unterscheidet. Und darum sind Christianist:innen so gefährlich, selbst wenn sie (davon gibt es ja bis hin zu Abgeordneten im Bundestag einige) in demokratischen Parteien organisiert sind. Denn in ihrem Inneren können sie nicht akzeptieren, dass die Mehrheit eine andere Entscheidung fällt in Fragen, in denen Christ:innen eine Leitschnur haben. Wer darauf besteht, dass Politik sich an der Wahrheit, an die ich glaube, ausrichtet, kann nicht akzeptieren, wenn sie es nicht tut.

Darum, so denke ich, sind Christianist:innen so anfällig für autoritäre Politikangebote bis hin zu faschistischen Parteien und Bewegungen wie die AfD oder Trump. Weil der Christianismus am Ende nichts mit einer Demokratie anfangen kann. Wer nicht nur für sich selbst keine Grautöne kennt sondern sie auch bei anderen nicht akzeptieren kann, bedroht die Art, wie wir in diesem Land zusammenleben.

***

Den evangelischen Christianismus gibt es in seiner jetzigen Form seit etwa den 1980er Jahren – und er hat sich immer weiter radikalisiert, je mehr sich die Gesellschaft in eine inklusivere, offenere Richtung entwickelte. Am Anfang stand eine Bewegung, die sich gegen die Öffnung der evangelischen Kirchen in Deutschland für nicht-konservative Menschen wendete. Die den Eindruck hatte, dass die evangelischen Kirchen mit ihrer Unterstützung der Ostverträge und mit ihrem Eintreten für eine Friedensethik den Boden von dem verlassen hätten, was sie Bibel und Bekenntnis nannten. 

Als jemand, der in den 1980ern sowohl religiös als auch politisch aktiv wurde, erinnere ich mich noch gut, wie die frühen Christianist:innen (eine ihrer damals die Freund:innen meiner Eltern und teilweise auch meine Mutter selbst besonders stark bedrohenden Vertreterinnen bei uns im Norden sitzt heute für die CDU Bremen im Bundestag) in Nordelbien (Hamburg und Schleswig-Holstein) einen Kirchenkampf starteten, den sie mit Spitzeleien führten (beispielsweise indem sie von meinem Propsten jede Predigt mitschrieben und Dienstbeschwerden daraus ableiteten, bis er im Burnout landete). Ein etwas skurril zu lesender Text aus der "Zeit" damals dokumentiert Teile dieser Anfänge ganz gut.

Ich selbst hatte mit der zweiten Generation der Christianist:innen in meiner Kirche immer wieder zu tun, weil ich einige ihrer theologischen Ansätze teilte, vor allem ihre Betonung der lutherischen reformatorischen Tradition. Weshalb ich (als politisch damals Linker) nie bei ihnen mitmachen konnte, war, weil sie schon damals als einzige politische Konsequenz aus einem klaren und entschiedenen Christentum nur einen autoritären Konservatismus akzeptierten. Also schon in den 1990er Jahren aus ihrem radikalen Christ:in-Sein ein eindeutiges politisches Mandat ableiteten. "Left evangelicals", wie es sie in den USA und teilweise in England gibt, gab es damals bei uns nicht, höchstens am Rande in den methodistischen Kirchen.

Meine Beobachtung ist, dass die Christianist:innen sich in dem Maße, in dem sie immer mehr in eine immer kleiner werdende Minderheit gerieten (sowohl kirchlich als auch gesellschaftlich) immer weiter selbst radikalisierten. Im Grunde ähnlich wie die rasante Selbst-Radikalisierung im Zeitraffer, die wir, katalysiert durch Social Media, in den letzten wenigen Jahren auch in vielen anderen Bereichen erleben (bestes Beispiel scheint mir neben einigen Journalisten im Pensionsalter gerade dieser Wirtschaftsprofessor Homburg zu sein, dessen Abgleiten in Verschwörungserzählungen sich quasi live auf Twitter verfolgen lässt bis hin zur Einlassung, seine Kritiker:innen seien von Regierung und Pharmaindustrie bezahlt). 

Spätestens seit die sichtbare Galionsfigur des deutschen Christianismus und zugleich ihr (letztes?) Scharnier in den demokratischen Konservatismus, Ulrich Parzany, keine öffentliche Resonanz mehr findet, hat die Selbstviktimierung und damit die Radikalisierung noch einmal an Fahrt aufgenommen. Wie sehr, zeigen die Reaktionen aus dieser inzwischen antidemokratischen Bewegung auf den Rücktritt des sächsischen Bischofs 2019 aufgrund seiner faschistischen Texte um 1990 herum und seiner späteren Auftritte in rechtsextremen Think Tanks.

Ähnlich wie Islamist:innen geraten auch Christianist:innen fast zwangsläufig in eine Situation, in der sie eine offene Gesellschaft und eine liberale Demokratie ablehnen (müssen), weil diese sich nicht an ihrer jeweiligen Wahrheit zu orientieren bereit ist. Auch da, wo sie formal noch in demokratischen Organisationen aktiv sind (Christianist:innen gar nicht so selten in führenden und hauptamtlichen Positionen in der CDU und ihren Arbeitsgemeinschaften), geraten sie immer wieder in Konflikte aufgrund der Tatsache, dass sie eine Toleranz für andere Positionen oder einen anderen Glauben ablehnen. Bei beiden religiösen Deformationen schließt diese Ablehnung auch die jeweilige Mehrheit ihrer Religionen ein. 

Christianismus ist darum aus meiner Sicht weit gefährlicher als Islamismus, weil seine Vertreter:innen in der Mitte der Gesellschaft leben und arbeiten, in Medien, in Parteiorganisationen, in Kirchen. Die Beispiele USA, Polen und Brasilien zeigen, dass sie sehr leicht in eine Koalition mit offen faschistischen Führern eintreten, wenn diese ihnen eine Überwindung oder Bekämpfung der offenen Gesellschaft versprechen. Und das passiert vor allem darum, weil sie die Spielregeln der Demokratie für weniger wichtig halten als ihren Glauben, zu dem in seiner extremistischen Variante gehört, dass es falsch und geradezu verbrecherisch ist, ihn nicht zu teilen. Und wenn sie also vor die Wahl gestellt werden, die Demokratie zu verteidigen oder ihren (extremistischen) Glauben, werden sie sich notwendig immer für den Glauben entscheiden. 

Sie sind die ersten, die gegen die offene Gesellschaft auch aktiv zu Felde ziehen, wenn es den Hauch einer Chance gibt. Was das irritierende Verhalten auch in Deutschland von Menschen, die sich als christlich identifizieren und dennoch autoritäre und faschistische Parteien wählen, im Zuge der Selbstradikalisierung zumindest erklärt. Was fehlt, ist meines Erachtens eine klare Distanzierung der Kirchen und von (konservativen) Christ:innen von diesen Radikalen. 

***

Einmal ganz praktisch: Wo die Grenze zwischen (konservativen) Christ:innen und Christianist:innen verläuft, kann – nur beispielhaft – am Thema Abtreibung gezeigt werden. Gemeinsame Position ist, Abtreibung abzulehnen. Während eine christliche Position, die sich als Teil einer offenen, liberalen Gesellschaft versteht, dann (etwas holzschnittartig) ist, für das werdende Leben zu werben und die eigene Position (werbend) zu erläutern, verlangen Christianist:innen, dass ihre Position auch das staatliche Gesetz ist und können einen anderen Beschluss des Parlaments nicht akzeptieren und wenden psychische Gewalt gegen Menschen an, die ihre Position nicht teilen. Im Zuge ihrer Radikalisierung gehen sie dann manchmal noch weiter, wie wir in Polen und den USA sehen, und wenden auch physische Gewalt an. Hier überschreiten sie die allzu feine Linie vom Extremismus zum Terrorismus, auch das ähnlich wie bei Islamist:innen.

***

Und noch als Ergänzung, weil die eine oder andere gefragt hat: der Christianismus ist meines Erachtens noch mal sehr anders als der (mir ebenfalls unsympathische) Pietismus, vor allem der rheinischer Prägung, der nicht umsonst Pietkong hieß. Aber er war eben auch – so unangenehm er für andere Christ:innen immer war und ist aufgrund seiner Aufdringlichkeit – sehr persönlich und nach innen gerichtet und nicht auf die Welt. Ähnlich wie in den USA, bevor Reagan die rechten Christ:innen politisierte. Insofern halte ich den Christianismus für anders und vor allem extrem viel gefährlicher. 

18.1.21

Ich liebe Radio

Radio

Ich wollte nie zum Fernsehen. Weil ich immer Radio liebte. Nur mit der Stimme, sehr direkt, sehr intim – und trotzdem für alle zu hören, die zufällig oder bewusst einschalten. Die Zeit als Kirchenfunker im Privatradio war sehr cool, bis hin zu den Experimenten, on air zu beten.

Radio ist aber vor allem auch flüchtig. Weshalb ich noch die Generation Mix-Tapes bin, die Lieder aus dem Radio auf Kassette aufgenommen hat und am Doppelkassettendeck neu zusammenstellte.

Ich mag auch Podcasts und Hörbücher, sehr sogar. Die höre ich beispielsweise bei der Hofarbeit, beim Pferdescheißeschaufeln, beim Zäunebauen, beim Kochen.

Ephemeral Media

Und ich mochte schon immer Ephemeral Media. Damit habe ich mich damals, vor sechs Jahren, als es losging mit Ephemeral Media, intensiv beschäftigt und viel drüber geschrieben und Vorträge gehalten. Das Flüchtige als Antwort auf die unangenehme Erfahrung, dass "das Web nicht vergisst", hat mich die gesamte Zeit fasziniert. Ebenso übrigens, wie dann dieses Flüchtige für uns doch permanent sein sollte - wie die Highlights auf Insta, die eigentlich ephemere Storys haltbar machen.

Radio ist eigentlich auch Ephemeral Media, immer schon. Sogar noch radikaler, weil es eben nur im Moment funktioniert und nicht mal die sonst üblichen 24 Stunden.

Clubhouse

Und nun also Clubhouse. Dieses Wochenende ist es so richtig offiziell in Deutschland angekommen, es sieht so aus, als ob es tatsächlich für fast alle, die ein iPhone haben, geöffnet wird. Clubhouse machte seit rund einem Jahr ein bisschen Furore, vor allem in Nordamerika, weil es zunächst nur für kleine exklusive Zirkel zugänglich war, um auszuprobieren, was da geht und was nicht. 

In aller Kürze: Nur Audio, kein Video, kein Text, keine Bilder. Nur live, nur im Moment. Wer einen Raum öffnet, kann sprechen und entscheiden, wer mit sprechen darf, andere können zuhören und darum bitten, mitsprechen zu dürfen. Also im Grunde eine Mischung aus Talkradio und Open Mic.

Hype oder nachhaltig?

Im Grund ist es egal, ob es "nur" ein Hype ist oder ob da ein neues, nachhaltiges Netzwerk entsteht. Für Hype spricht, dass ich von Freund:innen, die es vor Monaten anfingen zu nutzen und anfangs hell begeistert waren, höre, dass das schnell wieder abflaute und sie noch ein, zwei Mal in der Woche oder sogar nur im Monat die App öffnen. Das scheinen auch andere zu hören. Und es ist auch allzu sehr männlich und weiß und teilweise offenbar auch echt kakke.

Aber: es ist, gerade für einen alten Radiomenschen wie mich, auch irgendwie super aufregend, wie dort eine Community versucht, im Grunde die Brecht'sche Vision vom Radio zum Leben zu erwecken. Und da steckt etwas drin. Ich denke, dass da auch die Nachhaltigkeit liegt.

Erste Überlegungen eines Kommunikationsmenschen 

1. Ask Me Anything
Gerade für Top-Executives kann es eine Umgebung sein (und ist es bisher, als es noch kuschelig war, auch gewesen), in der sie live und "intim", flüchtig, erzählen und Fragen beantworten können. Das haben wir von Leuten aus der Start-Up-Szene gesehen, von einigen wenigen Politiker:innen, das könnten wir auch für andere sehen.

2. Formatierung
Eines der wichtigsten Erfolgsrezepte von Radio ist die Formatierung. Dass ich also weiß, was mich wann erwartet: Von 18 Uhr bis 18.40 Uhr beispielsweise die abendliche Aktuell-Sendung, und dann von 18.40 Uhr bis 19.00 Uhr ein ausführlicher Hintergrund (im Beispiel Deutschlandfunk). Flüchtige Live-Medien werden Formate brauchen. Erste gibt es schon auf Clubhouse. Und hier sehe ich tatsächlich große Chancen. Sowohl für Profis als auch für Marken.

3. Talkradio
In Deutschland gibt es wenig bis kein echtes Talkradio. Anders als in vielen anderen Ländern. Clubhouse könnte diese Lücke schließen. Es könnte sich zu einem Talkradio entwickeln. Und damit wäre auch alles, was in Talkradios, vor allem live, denkbar ist, hier denkbar. Da lohnt es sich wahrscheinlich, kreativ zu werden. Muss ja nicht alles wie Domian sein.

Erste Erfahrungen
Was mir auffällt: anders als die meisten anderen Formen von Ephemeral Media muss zumindest ich mich auf die Gespräche in den Räumen von Clubhouse konzentrieren. Das geht nicht einfach so nebenbei oder aus dem Augenwinkel. Und während ich Twitter wunderbar neben Filmen, TV-Events oder Wahlberichterstattung nutzen kann und nutze, kann ich das mit diesem Talkradio nicht. Also ich zumindest kann das nicht. Ich muss mir also bewusst und echt Zeit nehmen, um eine Sendung auf Clubhouse zu hören oder an einer Diskussion teilzunehmen. Zumal es eben nicht asynchron ist, was ich beispielsweise an Twitter oder an Messengern sehr mag. Auch das spricht übrigens für Formate, denn dann kann ich mich darauf einstellen.

Kleiner Nebeneffekt – aber ich glaube, das ist super wichtig und kann einer der Treiber sein, dass Clubhouse (oder so was) bleibt – sind darüberhinaus die Zufallsbegegnungen. Menschen, die sich in Gespräche einklinken und die mich begeistern. Andere, die ich nicht kannte, lerne ich kennen, folge ihnen, sehe mehr von ihnen. 

Weil ich Radio so liebe, gebe ich Clubhouse eine Chance. Und habe ihm trotzdem nicht Zugriff auf mein Adressbuch gegeben. Es funktioniert dennoch, übrigens.

[Und auf LinkedIn habe ich noch einen englischen Artikel über Clubhouse geschrieben, etwas anderer Schwerpunkt, aber die Gedanken hier weiterführend.]

13.1.21

Brutalismus

Das Kloster Sainte-Marie de la Tourette, gebaut von Le Corbusier


Vielleicht bin ich in Bezug auf Brutalismus etwas sensibler, weil ich ihn zum einen in der Architektur mag (jaja, ich weiß, da bin ich einer der ganz wenigen, ich mag ja auch Beton wirklich gerne, neben Holz, aber das ist eine andere Geschichte) und zum anderen immer wieder eine heißkalte Faszination für die theologische, philosophischen und politische Bewegung hatte, die ich einem Brutalismus zuordnen würde: die Konservative Revolution (auch wenn mir bewusst ist, dass der Begriff nach 1945 von dem Faschisten Armin Mohler gebildet wurde, um bürgerliche Rechtsextreme nachträglich vom Nationalsozialismus zu trennen und anschlussfähig für die neue Zeit zu machen). 

Die Beschäftigung damit kommt vor allem aus dem etwas intensiveren Studium Friedrich Gogartens, der für mich vor allem so faszinierend war, weil er einerseits vielleicht der einzige seiner Generation war, der meines Erachtens Luther verstanden hatte (so wie sein Schüler, mein Lehrer Matthias Kroeger dann eine Generation später) und andererseits irre hart an der konservativen Revolution dran war. 

Kirche Johannes XXIII., Katholische Hochschulgemeinde Köln
Vielleicht machen mir darum Beobachtungen eines Extremismus der Mitte und eines libertären Brutalismus aber auch nur mehr Sorge. Zumal dazu kommt, dass ich über die Begegnung mit dem Christianismus auch die andere Quelle der Brutalismus-Bewegung gut kenne. Dass libertär und christianistisch so famos zusammen gehen, ist uns aus den USA bekannt, aber hier bei uns in Europa und in Deutschland wenig beschrieben. Über Christianismus werde ich noch mal gesondert schreiben. Der macht mir tatsächlich noch mehr Angst als alles andere, vielleicht, weil ich ihm lebensweltlich näher bin, ihn eben besser kenne.

Mir geht es nicht um eine Alarmstimmung. Ich beobachte, dass sich sowohl Christianismus als auch libertärer Brutalismus weiter radikalisieren und die Mitteextremist:innen beides zugleich immer stärker normalisieren. Aber andererseits – und das finde ich unglaublich ermutigend – ist es in den USA gerade (möglicherweise erstmals!) gelungen, den Faschismus in Wahlen zu besiegen. Knapp, weil er es geschafft hatte, neben dem harten Kern eine Koalition an sich zu binden, in der Libertäre, Christianist:innen und Mitteextremist:innen waren (darin übrigens ja nicht unähnlich den meisten faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts).
Was mir Sorge macht, ist, wie Libertäre, vor allem libertäre Brutalist:innen, und Mitteextremist:innen, die jeweils an sich mit dem, wie sie sich Gesellschaft vorstellen (jetzt einmal vereinfacht gesagt, denn für Libertäre ist das an sich ja schon so nicht ganz richtig), vom Faschismus eher weiter weg sind (anders als Christianist:innen), wie diese also durch Koalitionen, Normalisierungen oder Zentrismus Gesellschaften kontinuierlich und nachhaltig immer weiter nach Rechts verschieben. Libertärer Brutalismus und Mitteextremismus können eine freie Gesellschaft nicht gegen die faschistische Herausforderung verteidigen, weil sie die entweder nicht sehen oder nur für eine von mehreren halten.

Was ich tragisch finde, ist, dass beide Ideologien sich selbst aus möglichen Bündnissen gegen den Faschismus herausnehmen, wenn auch aus unterschiedlichen Motivationen und Überlegungen. Gemeinsam ist ihnen nach meiner Wahrnehmung nur, dass sie – wie historisch in bisher jeder Gesellschaft, in der Faschist:innen die Macht übernommen haben – dem Faschismus nie entgegentreten. Zumindest nie aktiv. Ich denke, dass das auch damit zusammenhängt, dass sie den Status Quo, gegen den der Faschismus sich erhebt, nicht intensiv genug verteidigungswürdig finden. Weil er angeblich linksgrün versifft sei. Oder weil er dazu führt, dass angeblich nicht mehr alles gesagt werden dürfe. Oder weil er die Privilegien ihrer Protagonist:innen nicht genug schützt. Oder oder oder.

Ich persönlich finde Mitteextremist:innen dabei graduell unangenehmer, weil ihr Beitrag zur Normalisierung des Faschismus subjektiv "gute" Motive hat – indem sie eine Spaltung der Gesellschaft diagnostizieren, die es zu überwinden und versöhnen gelte. Ihr Apriori ist dabei, dass es "auf beiden Seiten" Gute und Böse gebe und "beide Seiten" irgendwie (gleich) falsch seien. Ihr Extremismus ist dabei vor allem, dass sie ihre Privilegien nicht reflektieren, zu denen gehört, dass sie Faschist:innen umarmen und versöhnen können, weil sie von ihnen nicht unmittelbar angegriffen werden. Eine Versöhnung mit den Feind:innen muss ich mir erstmal leisten können. 
Darüber, die wichtig es ist, sich auf Unterstützung verlassen zu können, habe ich ja schon mal geschrieben. Wichtig vor allem für die, die von Faschist:innen angegriffen werden. Wichtig aber auch für die Gesellschaft, die sie gerade mürbe zu machen versuchen, indem sie sie als Diktatur diffamieren, Anstand ablehnen ("politisch korrekt") oder von der Gesellschaft einfordern, dass niemand ihnen widersprechen darf ("cancel culture"). Es sind nur Beispiele – aber hier wird bereits das Problem mit Libertären und Mitteextremist:innen deutlich: dass beide Gruppen es nicht schaffen, sich hier konsequent und durchgängig auf der Seite der freien, liberalen Gesellschaft zu positionieren. Dass sich eben nicht auf sie verlassen kann, wer für diese Gesellschaft aufsteht.

Wer nicht zwischen Gegner:innen und Feind:innen unterscheidet und sie sehr unterschiedlich behandelt, betreibt das Geschäft der Feind:innen. Wer Streit und Hass nicht unterscheidet, wer statt für Zusammenhalt auch unter Gegner:innen für Versöhnung mit den Feind:innen plädiert, kann die offene Gesellschaft nicht verteidigen. Sondern ist Extremist:in.