26.1.13

Derailing und die Lämmerfrage

Dass der direkt unter der Oberfläche der Wahrnehmung brodelnde Zorn von vielen Frauen über den alltäglichen Sexismus in der Nacht von Donnerstag auf Freitag unter dem Stichwort #aufschrei sich auf Twitter entlud und seitdem nicht zur Ruhe kommt, ist gut, finde ich. Dass damit eine Diskussion beginne, ist allerdings falsch. Für viele Menschen mag es so scheinen - insbesondere, wenn sie sich nie mit Feminismus beschäftigt haben oder - als Mann - noch nie damit konfrontiert wurden. Aber das, was gerade passiert, ist eigentlich nur, dass eine jahrelange Diskussion in die medial verstärkte Wahrnehmung der breiten Masse gespült wird.

Oder, wie Antje Schrupp (wieder einmal) passend beschrieb: Es zeigt, wie auf einmal "Lappalien" relevant werden (Anmerkung: Lest wirklich mal den verlinkten Beitrag, nicht umsonst ist Antje Bloggerin des Jahres 2012).

Und ehrlich gesagt, ist mir angesichts des Themas egal, dass der Anlass (nicht die Ursache - der Unterschied ist wie bei fast allem, was passiert, immens wichtig) eine Geschichte im "Stern" ist, die die eine oder andere sogar zu Recht ob Tonalität und Agenda kritisiert hat. Nach meiner Wahrnehmung war übrigens keineswegs die Brüderle-Geschichte der Anlass für den Aufschrei - sondern die Reaktionen einiges alter Männer on- und offline. Denn erst als der Minister Hahn (Hessen) und andere über den Tabubruch schwadronierten (wobei sie merkwürdigerweise nicht den Tabubruch Brüderles meinten sondern den Tabubruch der Journalistin), kanalisierte sich der Zorn. Denn genau diese Reaktionen sind es, die den Kern des Alltagssexismus in diesem Land ausmachen. Derailing - Ablenkung.

Ähnlich dann gestern der mir auch vorher schon unerträgliche Norbert Bolz (mit dem ich letztes Jahr einen Abend am Referententisch einer Veranstaltung zubrachte, was meine Meinung über ihn nun mit einer aus eigenem Erleben bezogenen Realität bestätigte), der auf NDR-Info Laura Himmelreich vorwarf, die Spielregeln verletzt zu haben, da Politiker ein Recht darauf hätten, dass nicht alles in die Öffentlichkeit kommt, dass sie einen Schutzraum hätten. Was er damit mindestens in Kauf nimmt: Dass alte Böcke in diesem "Schutzraum" Grenzen übertreten.

In dieses Klima hinein unsortiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität eigene subjektive Erlebnisse zu schreien, die eine als Übergriff empfunden hat, ist der Kontrapunkt, der gefehlt hat, um unsere langjährige Diskussion in die Öffentlichkeit zu spülen. Dass die Diskussion nicht neu ist, wissen vielleicht nur die, die sie vorher führten. Mein eigener erster Blogbeitrag sozusagen zu #aufschrei stammt beispielsweise vom 22.8.2012 und klingt trotzdem so, als sei es gestern geschrieben worden.

Und darum habe ich mich über den in meiner Ecke des Internets sehr viel verlinkten und kommentierten und beklatschten Blogeintrag von Meike Lobo gestern auch sehr geärgert. Kurz gesagt: Weil ich glaube, dass sie sich, auch wenn sie es nicht will, faktisch am Derailing beteiligt. Dass sie sehr viel Lob von den Männern meiner Timeline bekommt, die vorher schon auf der Linie von Hahn, Edathy und Kubicki argumentierten (und von denen ich einige mag und schätze, weshalb es mich so besonders bestürzt), will ich ihr nicht vorwerfen, finde ich aber auch nicht überraschend.

Denn sie hat im Prinzip völlig Recht mit allem, was sie schreibt. Und dennoch mit vielem auch gar nicht. Ja, Veränderungen sind immer am besten im Dialog möglich. Und ja, selbstverständlich wäre es toll und würde den Veränderungsprozess massiv beschleunigen, wenn Frauen nicht Lämmer sind (wie Meike behauptet) sondern Löwinnen, die Männer und andere, die ihnen sexistisch kommen, direkt in die Schranken weisen. Die Männern sagen, was sie sich wünschen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich ganz anders aufgewachsen bin, ganz anders sozialisiert wurde - aber genau das habe ich mein Leben lang erlebt. oder glaubt irgendwer, ich wäre von allein darauf gekommen, was mit Patriarchat und Sexismus nicht stimmt? Ich habe Lämmer erstmals kennen gelernt, als ich schon einige Jahre im Beruf stand und erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche vollständig verließ. Da ich in einer feministischen und materialistischen (im ideologischen Sinne, nicht wie es heute verwendet wird) Gemeinde und Gemeinschaft aufgewachsen bin, in der Frauen und Männer sehr darauf achteten, dass Übergriffe benannt werden, und in der schon in meiner Jugend eine (so hieß das damals bei uns) geschlechtergerechte Sprache genutzt wurde, war mir wahrscheinlich tatsächlich vieles schon klar. Und habe ich gelernt, auch in der politischen Arbeit, dass die verschiedenen Formen von Protest und Anstoß ihren Raum haben und ihre Zeit.

Ich halte den Blogpost von Meike Lobo in all seiner "Richtigkeit" dennoch für manipulativ - und allein denen nützlich, die sich der Diskussion über Sexismus und den notwendigen Änderungen im Verhalten von Frauen und - vor allem - Männern nicht stellen wollen. Zur Mechanik dieser Manipulation schrieb ich ja erst gerade.

Vor allem aber verkennt Meike das Thema Herrschaft und Asymmetrie in Beziehungen meines Erachtens völlig. Oder sie hält es nicht für relevant oder existent, das weiß ich selbstverständlich nicht. Nur: Ich halte es für extrem wichtig, siehe auch meinen alten Täter-Blogeintrag. In einer asymmetrischen Beziehung von denen, die "unten" sind, den ersten Schritt der Versöhnung zu verlangen, halte ich für politisch naiv und strategisch falsch.

Das Erratische und - da bin ich ganz bei Meike - von jeder von uns sicher unterschiedlich relevant oder übergriffig Gesehene an den kurzen Geschichten auf Twitter zum #aufschrei hat für Männer meines Erachtens vor allem eine Funktion und stellt sie vor eine Aufgabe: Zunächst einmal zuzuhören. Und ohne (Ab)wertung anzunehmen, dass - von den Spaßvögeln abgesehen - hier unterschiedliche Frauen ganz unterschiedliche Dinge und Verhaltensweisen als Übergriff empfinden.

Aus einer von Herrschaft und Asymmetrie geprägten Situation gibt es im Grunde zwei Wege, wenn die "unteren" es nicht mehr aushalten (wollen) - entweder die Revolution, also die Gegengewalt. Oder der Verzicht der Herrschenden. Aber nie und nimmer - hier bin ich komplett anderer Meinung als Meike - das einfache Gespräch.

#Aufschrei macht Sexismus als Form der Herrschaft von Männern über Frauen sichtbar. In Schutzräumen (wie damals bei uns in den evangelischen Kirchengemeinden) können wir ein neues Zusammenleben sicher ausprobieren, dass es geht, haben wir seit den 70ern gezeigt. Aber als gesellschaftliches Thema wird es, davon bin ich überzeugt, nicht durch eine Lämmer- oder Löwinnenfrage gelöst werden. Sondern entweder von Männern durch Verzicht und Achtsamkeit. Oder von Frauen durch Verweigerung und Gegengewalt. Beides finde ich ok. Verzicht und Achtsamkeit für mich allerdings den besseren Weg. Vielleicht, weil ich in den hineingewachsen bin in den 80ern und 90ern. Vielleicht, weil ich erleben durfte, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlt. Vielleicht weil ich keine Lust auf Gewalt habe.

23.1.13

Brüderle ist doch super

Mal ganz grob gesagt, ist es doch klasse, dass einer wie Rainer Brüderle offen auf seinen Sexappeal reduziert wird. Für den größeren Teil der wenigen Männer, von denen ich weiß, dass sie noch freiwillig (also anders als die CDU-Mitglieder in Niedersachsen jüngst) FDP wählen, ist er ein Role Model. Ein Held einer sterbenden Gattung. Jener Ekelmänner, die in der Generation meiner Großeltern Schwerenöter genannt wurden. Und die meine beiden Großmütter und einer meiner Großväter auch damals schon eklig fanden (und nicht etwa, wie sie selbst dachten, sexy). Mein anderer Großvater, lebenslanger FDP-Wähler übrigens und Arzt, 15 Jahre schon tot, war wie Brüderle. Und hatte außerdem seine letzte Affäre, einige Jahre, nachdem er seine Frau in die Klapsmühle (so nannte man das damals) einzuweisen versucht hatte, weil sie ihn ausschimpfte, weil er immer mit Patientinnen und so rumdingste, nachdem er schon mehrere Jahre komplett impotent war, einen Fuß abgenommen bekommen hatte, mit einer Nachbarin gleichen Alters, die beide Brüste verloren hatte. Also vorher schon. War offenbar also habituell, nicht ausschließlich auf Wollust und körperlichem Verlangen basierend, dass er in dieser Hinsicht ein sexistisches Arschloch war.

Aber während ich es also komplett naheliegend finde, dass Brüderle der Spitzenmann der FDP ist und Rücktrittsgeschrei albern und weltfremd finde, macht mich doch dieser Tweet von Frau Tessa nachdenklich:
Denn da hat sie Recht. Und das ist mir, wie die eine oder andere vielleicht ahnt, die mein Blog hin und wieder liest, tatsächlich wichtig. Vielleicht ist es keine Strategie, aber hier ist, was "wir" tun können, sehr unvollständig, nur spontan einige Punkte, die für jeden von uns möglich sind:

  • "Herrenwitze" nicht lustig finden. Und das auch sagen. Ich mache eher gute Erfahrungen damit, irritiert zu sein, wenn in reinen Männerrunden Sexismus um sich greift. Dass das nachlässt, wenn ich dabei bin, verbirgt ihn zwar nur - aber jede der Minuten, in denen sich Männer wie Menschen benehmen, ist eine gute Minute.
  • Übergriffiges Verhalten benennen. Schwierig, wenn es jemand in der Hierarchie über dir ist, aber notwendig, denke ich. Ein Netzwerk aus Männern innerhalb von Unternehmen und Parteien und Organisationen und so zu gründen, das sich gegenseitig stützt, wenn jemand eingreift, kann dann helfen. Und der eigentliche Skandal im Brüderle-Fall ist doch, dass keiner der Kollegen eingriff, als der wandelnde Herrenwitz ihre Kollegin angriff.
  • Die Sprache ändern. Denn meine Erfahrung ist, dass allein die Tatsache, dass ich mir die Zeit nehme, in Gesprächen, Meetings, Präsentationen inklusive Sprache zu verwenden, und das, egal, wie die Gruppe zusammen gesetzt ist, das Verhalten sogar der Männer ändert, die eigentlich und innerlich Brüderle einen tollen Hecht finden.
  • Grenzen ziehen, auch wo es weh tut. Dazu, wo es mir weh tut - beim toller-Hecht-Spielen auf Podien und Konferenzen - habe ich ja was gesagt. Ihr könnt auf einen sehr bald anstehenden ersten Lakmustest der spektakuläreren Sorte gespannt sein...

Abgesehen davon wird es übrigens kein Zufall sein, dass ich beim Blick auf diese Schlagzeile auf Seite eins meiner Regionalzeitung heute früh auf dem Klo den freudschen Fehllesefehler beging, über die frühere Kollegin zu lesen: "Tritt Suding aus?" Hätte ich irgendwie logischer gefunden, aber das ist eine andere Geschichte.

Update:
In ihrem Blog Frau Dingens schreibt Mina wütend auf, worum es geht. Genau darum. Punkt. Lesen!

16.1.13

Manipulation

Nur ein kurzer Zwischenruf. Ich dachte, dass auch dieses Thema, ähnlich wie so viele feministische, seit den 80ern fertig ausdiskutiert wäre und wir uns der Arbeit zuwenden können. Aber das stimmt leider nicht. Seufz. Aber vielleicht ist es die Aufgabe von uns Alten, es nicht nur an unsere Kinder weiterzugeben sondern auch immer und immer wieder denen zu erzählen, die damals diese Diskurse nicht mitbekommen haben oder zu jung waren, sozusagen die Zwischengeneration.

Denn wir, die wir damals geprägt wurden und die Diskurse und Argumente mitbekamen, haben uns um euch nicht gekümmert, wie das immer so ist. Vielleicht hätten wir es tun sollen, dann müsstet ihr euch jetzt nicht in so positivistischen Bewegungen wie den Piraten oder so sammeln. Denn vor dem Positivismus und dem Affirmatismus (so will ich es mal nennen) hilft vor allem eine solide Unterrichtung im kritisch-materialistischen Diskurs. Dies mit der Herrschaft, you know. Dass es keine Nicht-Herrschaft gibt, dass es wichtig ist, zu gucken, welches Argument eher (positivistisch) die eigentlich als verbesserungsfähig erkannten Realitäten stützt. Und welches sie zu verändern hilft.

Genug der Vorrede. Es soll um eines der irresten und irre erfolgreichen Manipulationsinstrumente gehen, das der Affirmatismus (also die positivistisch auf die Erhaltung des Existierenden ausgerichtete Haltung) in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Das scheinemanzipatorische oder scheinfortschrittliche Zeigen auf Das Große Ganze. Was ist welches Problem schon, verglichen mit Hungesnöten im Suden oder Hodenkrebs (um mal ein Filmzitat aus einem meiner Lieblingsfilme zu erwähnen, das dort nicht umsonst ein masturbierender Waliser sagt, aber das ist eine andere Geschichte).

Willkürlich herausgegriffen dieser Tweet von der geschätzten (wirklich!) Kollegin Nina Galla, bestimmt aus purem Zufall an dem Tag, an dem der Kommentar über den Sexismus der Piraten, über den seit Sonnabend diskutiert wurde, online war.
Innerhalb von 15 Minuten 6 Retweets und 4 Favs, bestimmt inzwischen mehr. Und das Perfide an dieser Manipulation, der Nina da methodisch aufgesessen ist, ist ja gerade, dass dieser Satz prinzipisch stimmt. Stünde er nicht im Zusammenhang mit einer kurzen, heftigen Diskussion, zu der dieser Satz gehört (und Nina ist ja, auch als sie noch bei den Grünen war, eine glühende Gegnerin quotierter Redelisten etc gewesen, was sie auch öffentlich bekannte, weshalb es sicher erlaubt ist, dieses hier in den Kontext zu stellen) -
Das Problem ist, dass sich die Vertreterinnen des Affirmatismus ins Fäustchen lachen. Denn wenn ich beispielsweise eine Redeliste ablehne, die strukturelle Machtverhältnisse korrigieren will, indem sie streng quotiert ist, mit dem Argument, es müsse darum gehen, "auf alle Diskriminierungen (zu) achten", wird keine Diskriminierung bekämpft. Wunderbar für die, die es nicht ändern wollen. Und übrigens der strategische Fehler des organisierten Marxismus bis in die späten 70er hinein, der die "Frauenfrage" als "Nebenwiderspruch" verunglimpfte, um die Machtstrukturen zu erhalten, die so bequem waren. Denn, so postulierte es der Marxismus, und so postulieren es heute die Piraten in der gleichen totalitären (im Sinne von "die Situation total erklären") Art des Denkens, eigentlich sei die Frauenfrage ja zusammen mit der Frage des Privateigentums (Marxismus) oder der Basisdemokratie (Piraten) gelöst.

Die eine oder andere kritisiert mich ja, wenn ich diesen manipulierten Stil als "pubertär" beschimpfe. Aber wer sich einmal mit Emos (was ja nur die radikale Variante ist) oder auch nur mit normalen sensiblen und sich links (im Sinne von: gegen Ungerechtigkeit und die Schlechtigkeit der Welt eingenommen) fühlenden Jugendlichen unterhält, wird feststellen, dass es ein hartes Stück Arbeit ist, aus der Verzweiflung über Das Große Ganze, die einen lähmt, in die Aktion für einen Teilaspekt zu kommen. Das würde ich (vielleicht etwas unfair) als den Übergang von einer pubertären zu einer erwachsen werdenden Haltung bezeichnen.

Am Ende ist die Haltung, die Nina da twittert, vor allem eines: ein Vorwurf an die, die sich auf ein Problem konzentrieren. Also gegen die, die an einer Stelle etwas ändern. Und nicht zuerst Hodenkrebs besiegen und den Hunger im Sudan. Sondern sich erdreisten, die Hälfte des Himmels zu fordern. Und das hier auf der Erde.

Der Marxismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat denen, die sich einer Unterdrückung widmeten, oft Partikularismus vorgeworfen. Aber der Totalitarismus hat bisher immer nur denen genutzt, die nichts ändern wollten, oder zumindest nichts zum besseren ändern. Und wenn der Totalitarismus noch nicht mal aus einem geschlossenen Weltbild kommt, ist er nur noch ein Zerrbild seiner selbst. Und nutzt und hilft nur denen, die nichts ändern wollen. Und damit ist er auf deren Manipulation hereingefallen.

Dass die Rechte Gramsci intensiver gelesen und besser verstanden hat als die Linke, ist nicht neu. Besser macht es das nicht. Und wer sich in diesem Sinne aus einer emanzipatorischen Haltung heraus, die in der Pubertät stecken blieb, vor ihren Karren spannen lässt, mit der werde ich mich ganz lange streiten. Wenn ich sie nicht aufgeben will.

(ganz und gar nicht feministischer Lesetipp: Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch)

12.1.13

Erläuterungen zu den Facebook-Reichweitenverlusten

Am Freitag habe ich auf der Seite von achtung!, wo ich ja den Bereich Digitale Kommunikations leite, einen Artikel veröffentlicht, der eine große Resonanz hatte - zu den Beobachtungen, die mein Team bei sehr vielen Facebook-Seiten gemacht hat, die wir für unsere Kundinnen führen oder zu denen wir über Partnerinnen Zugang haben, weil wir daran mitarbeiten.

Grob zusammengefasst ging es in diesem Artikel darum, dass seit dem 19. Dezember 2012 die so genannte "organische Reichweite" von Beiträgen der Facebook-Seiten sehr zurück gegangen ist, teilweise auch sehr massiv, teilweise auf nur noch 20% der Reichweite im Oktober und November (der Dezember fällt hier als Vergleich raus, dazu gleich). Unsere Erklärung dafür ist, dass wir annehmen, Facebook habe zu diesem Zeitpunkt endlich geschafft, die angekündigten Änderungen am Edgerank einzuführen. Explizit sind wir (also mein Team und ich) der Meinung, dass dies gut ist. Das sage ich auch mehrfach im Artikel.

Die Reaktionen waren gemischt. Von einer großen Zahl Community Manager, vor allem solcher mittelgroßer Seiten (mittelgroß nenne ich Seiten zwischen 100.000 und 1 Mio Fans), haben wir bestätigt bekommen, dass sie die gleichen Beobachtungen machen und es sich ähnlich erklären. Von einer Reihe von so genannten Facebook-Experten haben wir Gegenwind bekommen, exemplarisch sei der Blogpost von Johannes Lenz genannt, der einige von ihnen zitiert. Interessant ist dabei, dass - mit der Ausnahme Thomas Hutter, der unsere Beobachtungen und Erklärungsversuche auf allen Kanälen "Bockmist" nannte - selten und bei Johannes im Blog sogar gar nicht auf die Punkte eingegangen wurde, die uns dabei wichtig sind.

Die seien hier noch einmal etwas erläutert.

(1) Unsere Beobachtungen
Zuerst sind uns die Veränderungen an der Reichweite der einzelnen Posts bei den mittelgroßen Seiten aufgefallen, die wir betreuen. Dies sind Seiten zwischen 100.000 und 1 Mio Fans. Das Interessante ist, dass der Zusammenhang zuerst unseren Data Analysts auffiel, nicht den Kolleginnen im Community Management. Hier zahlte sich also aus, dass Community Management, Datenanalyse und Facebook Media bei uns so eng zusammen arbeiten.

Erst als wir hier bei diesen Seiten eine Spur hatten und wussten, wonach wir suchen müssen, konnten wir den gleichen Effekt auch bei den kleinen Facbeookseiten (also denen mit weniger als 100.000 Fans) nachweisen. Nach Rücksprache mit Data Analysts in UK und Frankreich, die unsere Beobachtungen bestätigten, haben wir nach Erklärungen gesucht.

Die zweite wichtige Beobachtung war, dass die Kommentare und das andere Engagement nicht zurück gingen. Das wird auch der Grund sein, denke ich, warum einige Experten so reflexhaft von Bockmist reden. Auch Johannes Lenz geht in seinem kritischen Blogpost gerade nicht auf unsere Beobachtungen ein - sondern behauptet, uns zu widersprechen, wenn er sagt:
Ich konnte bisher ein nennenswertes Abfallen von Engagement und Interaktion bei Facebook-Seiten nicht bemerken, sei es nun extern oder auch bei Kunden von AKOM360. (Johannes im AKOM360-Blog)
Nur: das sagen wir auch nicht. Im Gegenteil - das Phänomen ist ja gerade, dass nur die organische Reichweite zurück geht, nicht aber die Interaktion. Dass also die Interaktion im Grunde sogar extrem steigt, da ein höherer Prozentanteil derjenigen, die einen Post gesehen haben, mit ihm interagiert. Darum sagen wir auch, dass Facebook alles richtig macht in diesem Fall: es ist ihnen endlich gelungen, das konsequent umzusetzen, was sie schon lange versuchen und angekündigt haben.

Ich glaube denen, die kleine Seiten betreuen, sogar, dass sie keinen Rückgang der Reichweite bemerken. Wenn man nicht sehr genaue Datenanalyse macht und die Daten, die Facebook spitz liefert, auch selbst noch einmal speichert und auswertet, dürfte das oft kaum auffallen - und bei kleine Seiten lohnt sich eine wissenschaftliche Datenanalyse offenbar nicht immer (zumindest erleben wir, dass es viele noch nicht machen, obwohl sich das bald wird ändern müssen, wenn sie nicht vom Markt verschwinden wollen, aber das ist noch mal ein aderes Thema).

Beispielhaft sei hier eine Grafik aus einer Analyse einer deutschen mittelgroßen Seite gezeigt, ganz leicht anonymisiert und nicht bemaßt, bei Klick auf das Bild wird sie auch lesbar...

Entwicklung von organischer Reichweite, Kommentaren und Interaktion vom 8.10.12 bis zum 4.1.13

Was man gut erkennen kann, ist, dass die organische Reichweite der einzelnen Beiträge zunächst relativ stabil ist und die Interaktion an den Beiträgen nur geringe Auswirkung auf die organische Reichweite hat. Bei viraler Reichweite sieht es etwas anders aus, logisch, die ist hier nicht abgebildet, ebensowenig die bezahlte Reichweite. Ende November läuft die von Facebook ausgewiesene Reichweite dann aus dem Ruder - wir gehen hier, wie leider so oft, von fehlerhaften Zahlen von Facebook aus, das ist übrigens in der Vergangenheit meistens so gewesen, unmittelbar bevor eine größere (unsichtbare) Veränderung von Facebook produktiv gesetzt wurde.

Ab dem 19. Dezember sieht die Kurve der Reichweite anders aus als vorher. Sie variiert stärker und ist offenbar vor allem von einem Wert zusätzlich abhängig: von den Kommentaren. Mehr Kommentare führen zu mehr Reichweite führen zu mehr Likes etc. Wenn wir die Daten noch detaillierter auswerten, sehen wir dieses auch im Zeitverlauf.

(2) Unsere Interpretation
Dass diese Beobachtung sich in mehreren Ländern und für sehr viele Seiten so zeigen lässt, lässt für uns nur den Schluss zu, dass es eine Änderung bei Facebook gegeben hat. Anders ist es kaum zu erklären. Da die Situation jetzt sehr viel besser für die Menschen ist, die Facebook nutzen, und bei oberflächlicher Betrachtung sich gleichzeitig für die Seiten nicht viel zu ändern scheint, gehen wir davon aus, dass es genau so gewollt ist. Es passt auch zu den Ankündigungen rund um den Edgerank, die Facebook das gesamte Jahr 2012 immer wieder gemacht hat, die aber bis zum 19. Dezember keine konsistenten Änderungen nach sich zogen - vielleicht sind sich darum manche wie Thomas Hutter auch so sicher, dass es faktisch keine gibt. Ein Fehlschluss, wie die Analyse zeigt.

(3) Reichweite, ist die wirklich wichtig?
In den ersten Reaktionen auf unsere Entdeckung wurden wir von der einen oder anderen gefragt, warum uns Reichweite so wichtig sei - es sei für sie kein Wert, an dem sie gemessen werden. Das hat uns überrascht. Denn für Dialoge auf Augenhöhe, das alte Mantra der Social-Media-Gurus, ist Facebook ja eher nicht der Ort der ersten Wahl. Überhaupt ist Facebook für wenig substantielle Kommunikation der ideale Ort - aber hat eine potenziell große Reichweite im Massenmarkt. Zugespitzt würde ich so weit gehen zu sagen, dass Reichweite eigentlich der einzige valide Grund für die meisten Marken und Unternehmen ist, sich mit Facebook näher zu beschäftigen. Denn alles andere kann ich an anderen Orten besser.

(4) Und was ist mit diesem Nebensatz über Apps?
Es ist mein Fehler, dass ich von der eigentlichen Aussage in meinem Artikel - dass wertvoller, kommentierbarer und von den Menschen erwünschter Content wichtiger wird - ablenke mit dem Verweis auf den bevorstehenden Relaunch und meine Prognose, dass das neue Layout der Seiten sich wie in bisher jedem Relaunch an dem neuen Layout der Profile, das wir schon kennen und gesehen haben, orientieren wird. Und dass in dem die Apps und Co sehr viel unauffälliger platziert sein werden.

Dieses Thema spielt aber für die Aussage meines Artikels keine Rolle - weshalb ich auch tatsächlich nicht nachvollziehen kann, wie Johannes Lenz und AKOM360 sich in ihren Anmerkungen vor allem darauf stürzen. Schade, denn über die eigentlichen Aussagen würde ich gerne diskutieren - habe aber außer Hutters unbelegtem Anwurf, unsere Beobachtungen und Interpretationen seien Bockmist, bisher leider keine inhaltliche Kritik gesehen.

Dass Apps weniger wichtig werden, ist schon seit einem Dreivierteljahr etwas, das viele Agenturen beobachten und sehen - und ist auch logisch, denn Kosten und Ertrag stehen dabei meistens in einem nicht sehr günstigen Verhältnis, vor allem verglichen mit Content in Kombination mit Media.

(5) Ende des Kindergartencontents?
Ist das nicht eher Wunschdenken? Vielleicht teilweise. Aber wir beobachten in den letzten Wochen verstärkt, dass die Reichweite gerade bei Kindergartencontent und lustigen Bildern am stärksten zurück geht. Und dass im Gegenteil zu dem, was noch im November Hutter und der Chef von AKOM in ihrer Keynote auf der Konferenz von allfacebook postulierten, Posts mit Bildern sogar anfangen, von der Interaktion hinter vergleichbare Posts ohne Bilder zurückzufallen. Unsere ersten Erklärungsversuche hängen mit der zunehmenden mobilen Nutzung zusammen, aber das müssen wir weiter beobachten.

Seit dem 19. Dezember ist jedenfalls auffällig, dass Infocontent, der beispielsweise über Öffnungszeiten, konkrete Änderungen etc informiert, ungewöhnlich gute Reichweiten erzielt. Das freut uns, das können wir bisher nur beobachten und noch nicht abschließend erklären - aber das zeigt wiederum, dass es hier Änderungen gab, die für alle Seiten sinnvoll sind.

***

Ich danke jedenfalls meinem Team und den Kundinnen, mit denen wir gemeinsam diese Dinge entdeckt haben. Und ich bin froh, dass wir nun schon einige Zeit diesen neuen Weg gehen, die drei wichtigen Fachdisziplinen Community Management, Facebook Media und Data Analysis so eng zu verzahnen, dass wir relativ schnell mit einer sehr hohen Sicherheit solche Änderungen bei Facebook (und anderswo) erkennen können. Ihr seid die besten, ich bin stolz, dass wir zusammen arbeiten dürfen.

9.1.13

Das 'pffft' – warum ich es so oft benutze, wie ich es meine und warum ich Diskussionen damit immer gewinne

Nicht so viele meiner Kolleginnen lesen ja mein Blog regelmäßig. Glaube ich. Auch wenn ich das nicht verstehe. Aber ein Kollege, den ich sehr schätze, was ich jetzt schreiben muss, weil zu seinem allmorgendlichen Fortbildungsprogramm gehört, dass er mich bei Twitter stalkt und mein Blog auswendig lernt, wünschte sich heute in einem drei Kilometer langen internen Mailwechsel, in dem es um so spannende Dinge wie Finanzmarktregulierungen oder so was ging und um generisches Maskulinum und um mobile Markenführung, halt so Kram, mit dem wir hier so zu tun haben jeden Tag, dass ich mal einen Blogpost schreiben möge zu "Das 'pffft' – warum ich es so oft benutze, wie ich es meine und warum ich Diskussionen damit immer gewinne". Warum, weiß ich auch nicht.

Aber dem komme ich gerne nach, ich leite schließlich eine Dienstleistungseinheit bei einem Dienstleister. Lieber Kollege,
  • weil ich es kann
  • genau so
  • weil ich einfach gut bin
tl;dr
pffffffffft

8.1.13

Weg mit der Netzpolitik

Jedes Jahr im Januar, so scheint es, muss ich den Appell wiederholen. Zuletzt im vergangenen Jahr. Als ich diesen alten Beitrag wieder las, wurde ich irgendwie traurig. Weil ich ihn fast wörtlich noch einmal so schreiben könnte. Und das heute. Ein Jahr später.

Oder, um es deutlich zu sagen: So, wie sie jetzt ist, muss die Netzpolitik weg.

Denn es geht nicht um Netzpolitik. Es geht um eine Politik, die den Lebens- und Kommunikationsraum einer neuen Generation ernst nimmt. Es geht also um Ordnungspolitik und um einen (politischen) Modernisierungsschub, ähnlich dem, der durch den politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert ausgelöst wurde - übrigens auch verbunden mit einem neuen Lebens- und Kommunikationsraum einer neuen Generation und Klasse (damals). Und ironischerweise mit einem Medium, dessen zurückgehende Relevanz für die oben genannte neue Generation gerade zu ordnungspolitischen Pirouetten seiner Lobbyistinnen führt: der papierenen Zeitung. Aber das nur am Rande.

Die Obrigkeit reagierte mit Zensur. Damals, im 19. Jahrhundert. Und die Kulturpolitik war der Ort, an dem sie sich auslebte.

Die Parallelen sind sicher nicht zufällig. Zumindest in meiner Partei sind es aktuell auch wieder die Kulturpolitikerinnen, die durch massiv medial verstärkte öffentliche Stellungnahmen die an sich guten und zukunftsorientierten Beschlüsse und Positionen der Gesamtpartei systematisch unterlaufen.

Die Netzpolitikerinnen dagegen haben sich im exotischen Gedönsschutzraum der Medienpolitik verschanzt. Und jede weiß ja, dass Medienpolitik nur ein kleiner Teilbereich der wichtigen Kulturpolitik sei.

Was tun? Nina Galla, die ich sehr schätze, auch wenn ich sie (politisch) immer aufziehe und mit ihr (politisch) in fast keinem Thema, das mir wichtig ist, einer Meinung bin, schrieb dazu (und heute hat carta_ es aufgenommen)
Um Netzpolitik den Bürgern nahe zu bringen, muss die Kommunikation dringend vereinfacht werden: Verzicht auf Fachwörter, Beispiele aus dem Alltag, einfache Vergleiche, sprachliche Bilder, Visualisierungen. Die netzpolitische Kommunikation muss so einfach sein, dass wir sie unseren Eltern und Kindern so erklären können, dass sie sie sofort verstehen.
Netzpolitische Damoklesschwerter
Damit hat sie recht. Und damit mache ich tatsächlich auch im privaten und hin und wieder im politischen Umfeld gute Erfahrungen. Immer mal wieder gelingt es mir, meine Großeltern, meine Kinder oder die Eltern von Freundinnen meiner Kinder so mit den Themen meines Kommunikations- und Lebensraumes zu beschäftigen, dass ich den Eindruck habe, sie verstehen, was mir warum wichtig ist. Denn bereits daran scheitert die Debatte ja in der Praxis bisher.

Aber ich denke, Nina geht nicht weit genug. Es ist nicht (nur) ein Kommunikationsproblem. Was ich letztes Jahr Webfehler nannte, lässt sich wahrscheinlich nur beheben, wenn wir die Netzpolitik als Thema und Disziplin abschaffen. Wenn ich mich ganz auf mein anderes Thema konzentriere, die Bildungspolitik. Wenn Lars sich ganz auf Wirtschaftspolitik konzentriert und Jan Philipp auf Innenpolitik. Nur mal beispielsweise.

Vorschlag: Lasst uns die Themen der Netzpolitik für neun Monate lassen. Und in unseren Parteien dafür arbeiten, dass unsere Themen nach der Bundestagswahl stark in der praktischen Politik werden. Und dafür trommeln, dass die besonders absurden Lobbyistinnen nicht wieder aufgestellt werden für die Bundestagswahl (oups, zu spät, Platz 11 in Bayern ist allzu aussichtsreich, schiet). Und in den anderen Politikbereichen unsere Themen massiv vorantreiben.

Kurzfristig ist es fast egal, aber in der kommenden Legislaturperiode stehen mit den Theman Datenschutz, Urheberinnenrecht und Privatsphäre drei große ordnungspolitische Themen zur Neuregelung an, die unseren Lebensraum massiv gestalten. Lasst uns uns darauf und auf die anderen Infrastrukturthemen, die ab 2014 anstehen, konzentrieren. Und uns dieses Jahr 2013, das ohnehin politisch tot ist, nicht in Schlachten verschleißen, die wir verlieren werden. Wollen wir am Beginn der großen Reformwelle wirklich wie die Verliererinnen dastehen? Oder es so machen, wie wir es auch unseren Kundinnen empfehlen (würden) - jetzt die Pflöcke im Hintergrund einschlagen, jetzt die Quellen und Hintergrundmaterialien und die Verbündeten zusammen suchen, und dann präsent und fertig sein, wenn es drauf ankommt.

4.1.13

Willkommen 2013

Dass ich keine Prognosen für 2013 schreiben werde, habe ich ja letztes Jahr schon gesagt. Aber das heißt ja nicht, dass ein Jahresanfang nicht ein guter Zeitpunkt ist, um einmal darüber nachzudenken, was wir bedenken sollten, wenn wir über Kommunikation und Onlinedingens nachdenken.

Darum war "Lead Digital" so freundlich, schon vor Weihnachten einen kleinen Essay von mir zu den Megatrends und den Onlinetrends zu veröffentlichen, die zwar nicht speziell für 2013 gelten, aber eben aus meiner Sicht da sind und zu denen wir uns verhalten müssen.

Seitdem habe ich die fünf Onlinetrends noch um einen erweitert, den ich im Eifer des Endjahresdings damals, letztes Jahr, nicht mit aufgenommen hatte. Und habe die drei Megatrends und die sechs Onlinetrends in eine schnuckelige zweisprachige Präsentation eingebaut. Hier:



Kann ich auch mal was zu erzählen, gerne.