25.2.11

Last Exit Volksdorf

Edit 4.4.2011 Inzwischen, sogar schon vor längerer Zeit habe ich das Buch ausgelesen, nachdem ich es verschlungen hatte. Unten am Ende darum noch einmal ausführlicher, warum es ein tolles Buch für mich war. Vielleicht sogar das, was mich am meisten von allen Büchern der letzten Jahre in seinen Bann gezogen hat. Und ACHTUNG mit einem klitzekleinen Spoiler am Ende dieses Textes...
Ich bin erst auf Seite 40, dies ist also keine "Rezension" oder so was, sondern drückt nur mein Erstaunen aus und wie ich in das Buch gezogen werde,


Gestern, als ich nach Hause kam, lag ein Exemplar von "Last Exit Volksdorf" von Tina Uebel auf dem Tisch. DDR-Feeling: Ein verbotenes Buch (ein Volksdorfer hat erreicht, dass es nicht weiter ausgeliefert werden darf, wenn ich es richtig verstanden habe), das unter Freunden heimlich (hier: in einer unauffälligen Plastiktüte, wir leben schließlich nur 50m von Volksdorf entfernt) weiter gegeben wird.

Es ist schon irre. Ich habe auf den Mäuerchen gesessen, bei Simon und Jänisch eingekauft, viel Zeit in der Koralle verbracht, als ich ein Jugendlicher war. Jede Szene, sogar irgendwie tatsächlich jeder Mensch, der in diesem Buch vorkommt, ist mir vertraut, so prinzipisch. Jeder Ort, jeder Typ. Ich habe Straßen vor Augen, durch die Finn mit dem Fahrrad fährt. Ich sehe, in welchem Haus Natalie und Juliette wohnen könnten. La Venezia gibt es schon lange nicht mehr, aber da habe ich ebenfalls Pistazieneis gegessen (denn Pistazieneis war das, was dort besonders war). Auch wir haben Knobibrot im Block House in der Weißen Rose geholt und im Park gegessen. Und das, obwohl ich nie Popper war, sondern immer Außenseiter. Das eigentlich Ulkige an diesem Buch ist, dass es in einer Zwischenzeit spielt. Die Orte und die Personen sind sehr 80er, die iPods und Cayennes stammen von heute. Tina Uebel ist fast genau so alt wie ich und zur gleichen Zeit wie ich in Volksdorf aufgewachsen.

Ich gehörte nie dazu in Volksdorf, denn ich lebte damals im Nachbarstadtteil Meiendorf, der armen Schwester auf der anderen Seite des Waldes. Ich kannte kaum Leute vom WDG (Walddörfer Gymnasium), das im Buch eine große Rolle spielt, nur einige, mit denen ich politisch arbeitete. Aber trotzdem war Volksdorf immer mein Dorf und ist es geblieben. Heute sind wir mehr als je zuvor dorthin orientiert, bald zwei unserer Kinder gehen dort zur Schule, eines spielt dort Fußball, einkaufen, Rastaurants, de Fries, alles mein Leben.

Selten hat mich ein Buch auf den ersten Seiten schon so in seinen Bann gezogen. Zumal ich Tina Uebels Stil sehr mag. Ob es auch Menschen so geht, die Volksdorf nicht so gut kennen?

Edit 4.4.2011
Der erste Eindruck nach 40 Seiten täuschte nicht. Es ist und es blieb ein tolles Buch in all seiner Trostlosigkeit, Ausweglosigkeit, Komik, Tragik, seinem Irrwitz. Relativ klar ist auch, wer wohl die Einstweilige erwirkt haben muss, eigentlich kommt nur der Arzt aus dem Krankenhaus in Großhansdorf in Frage, der auch wirklich nicht gut wegkommt (und dessen Sohn sich mutwillig mit AIDS ansteckt).

In den Rezensionen ist immer die Rede davon, dass alles in der Katastrophe endet - da bin ich mir nicht so sicher. Für mich ist es eher ein trostlos-realistisches Bild der wohlstandsverwahrlosten Kinder und ihrer Eltern, in großen Teilen bis heute gültig (es spielt ja auch in der Gegenwart), obwohl es die 80er Jahre abbildet. Der Mutter jener hochbegabten und verhätschelten Musikerin, die an der Erwartungen ihrer Familie zerbricht und in Magersucht und Irrsinn abgleitet, bin ich zigfach begegnet in meiner Zeit, in der ich in der Kirche dort aktiv war. Diese Einsamkeit in diesem großen Haus mit dem Mann, der nur das perfekte Weibchen haben will, und der Tochter, die sie nicht versteht, spüre ich geradezu. Und deren Mutter wiederum, die bei 16 Grad Raumtemperatur in ihrem Bett erfriert, stammt eigentlich aus Horn, wie meine Großeltern. Drogen, Mobbingvideos rund um eine Art Vergewaltigung, Außenseiter - alles deprimierend, alles realistisch in gewisser Weise, alles literarisch überhöht.

Ich konnte das Buch tatsächlich nicht weglegen, habe es der Freundin zurück gegeben, die es mir geliehen hat, so dass ich erstmal nicht noch weiter drin blättern und es querlesen kann. Und ja, ich kenne auch Leute, die nicht in oder um Volksdorf oder vergleichbare Gegenden aufgewachsen sind, denen es ähnlich ging mit diesem Buch.

Ist es gehypet? Nein, finde ich nicht. Jede euphorische Beschreibung stimmt. Und schade, dass ich nicht zur Lesung in der Koralle gehen kann, es wäre sicher sehr spaßig, lauter Volksdorfer zu beobachten, wie sie die Autorin beobachten, die ihr Leben beobachtet hat. Wer immer an das Buch kommt: Lest es!

21.2.11

or·dent·lich, Adjektiv

Das also meinen unsere grünen Führungsleute, wenn sie an das Abschneiden der GAL bei den Wahlen gestern in Hamburg denken. Interessant. Ich finde ja eher, dass es eine ordentliche Niederlage ist. Haben die sie noch alle, die Schönrednerinnen?

Silbentrennung: or·dent·lich, Komparativ: or·dent·li·cher, Superlativ: am or·dent·lichs·ten
Aussprache: IPA: [ˈɔʁdn̩tlɪç], Komparativ: [ˈɔʁdn̩tˌlɪçɐ]

Bedeutungen:
[1] aufgeräumt; geordnet
[2] umgangssprachlich: anständig; löblich
[3] umgangssprachlich: sehr viel
[4] auf Person bezogen: ordnungsliebend

Herkunft: abgeleitet von Orden + Fugenelement t + -lich

Synonyme:
[1] genau, systematisch, strukturiert
[2] anständig; löblich
[3] reichlich, gehörig, großzügig

Gegenwörter:
[1] unordentlich
[3] wenig, dürftig, geizig
[4] unordentlich

Beispiele:
[1] Dein Zimmer ist ja heute so ordentlich.
[2] Er hat eine ordentliche Leistung gezeigt.
[3] Mach ordentlich Ketchup drauf!
[3] Der hat eine ordentliche Tracht Prügel verdient!
[4] An ihrer Schultasche sieht man schon, dass sie sehr ordentlich ist.

18.2.11

Alle Kreter sind Lügner

Immer. Sagt Epimenides der Kreter.

Guttenberg hat also offenbar bei seiner Doktorarbeit betrogen*. Er wurde promoviert, obwohl er die Arbeit, nach allem, was bis heute an nicht belegten Zitaten aufgetaucht ist, nicht der Promotionsordnung entsprechend angefertigt hat, also nicht hätte promoviert werden dürfen.

Ob das ein Rücktrittsgrund ist, ist mir im Grunde egal, auch wenn ich persönlich, aufgrund meiner persönlichen Vorlieben, dieses für schwerwiegender halte als beispielsweise ein Empfehlungsschreiben auf Ministerpapier, also als den Rücktrittsgrund von Möllemann damals.

Was mir ganz und gar nicht egal ist sondern mich - auf deutsch gesagt - tatsächlich und massiv ankotzt, ist der Versuch mancher seiner Verteidiger oder so genannter "Neutraler", sein akadamisch unfragwürdiges Verhalten als Regelfall hinzustellen. Denen, die glauben, das machten doch alle Leute so, die sich promovieren lassen wollen, sei der ruhige und abgewogene Blogeintrag von Anatol Stefanowitsch im Wissenslog empfohlen.

Ich finde es ein Unding, dass hier alle oder zumindest viele Akademiker in Sippenhaft genommen werden sollen für ein individuelles Fehlverhalten. Dafür, dass ein offenbar schwacher Mensch so schludrig eine "wissenschaftliche" Arbeit anfertigt, dass er ganze Passagen - und hey, dabei handelt es sich nicht um marginale Einzelsätze, das kann einem nachlässigen und flusigen Menschen sicher mal passieren - abschreibt, vor allem solche, die er als seine Meinung und Schlussfolgerung verkauft, dafür also gibt es keine akademisch vertretbare Entschuldigung. Das ist einfach nur frech oder schlecht oder Betrug. Egal welche dieser drei Möglichkeiten am dichtesten an der Realität ist: Es ist nicht das akademische System an sich. Es ist das Fehlverhalten eines möglicherweise Überehrgeizigen.

Guttenberg allein beschädigt das wissenschaftliche System nicht damit. So was kommt vor, die Arbeit wird zurück gezogen werden, der Titel wird als nicht gegeben gelten, Ende. Aber weil er der einzige ist, der Frau von der Leyen als künftige Führungsfigur der Union verhindern kann, springen ihm - ich hoffe wider besseres Wissen - nun viele bei, die damit, dass sie ihn verteidigen, dass sie sein Vergehen vielleicht sogar als (aus akademischer Sicht, und nur um die geht es hier) nicht so schlimm oder gar üblich beschreiben (werden), den Wert akademischer Arbeit an sich verächtlich machen.

Was ich daran besonders pervers finde (und was mich wirklich zornig macht): Wer immer jetzt die Nicht-So-Schlimm- oder Das-Machen-Doch-Alle-Karte spielt, bedient die populistischen Vorurteile, alle Akademiker seien faul. Wissenschaft sei Humbug, Forschung und Forschungsarbeit (die beispielsweise mit Promotionen belohnt wird) eigentlich dämlich oder irrelevant. Und die Akademiker kupferten doch eh alle nur voneinander ab.

In der ganzen Plagiatsdingens gibt es nur einen Sieger: Guttenberg, der populärer sein wird als vorher. Und zwei Verliererinnen: Bildung und Wissenschaft. Und damit schadet Guttenberg mit seiner Leugnung und schaden seine Verteidiger und die, die seine Verfehlung kleinreden, unserem Land, das Bildung und Wissenschaft braucht.

Ich glaub, ich kotz noch ne Runde.


* Ja, ich bleibe bei meiner Formulierung, denn ich halte es für einen wissenschaftlichen Betrug, in einer wissenschaftlichen Arbeit (die hier der Promotion zugrunde liegen soll) Zitate nicht als solche sichtbar zu machen. Außerdem verstößt dieser Betrug gegen die guten Sitten und führt dazu, dass unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein (materieller, gesellschaftlicher) Vorteil erlangt wird, den eine Promotion in diesem Land immer noch darstellt.

11.2.11

Die Angst der SPD vor ihren Wählern

Ich bin ja ein sehr, sehr großer Freund des neuen Hamburger Wahlrechts, von dem ich immer wieder höre, dass so viele Hamburger es nicht mögen, weil es ihnen zu kompliziert sei. Meine eigenen Schlüsse aus dem Wahlrecht für mein Wahlverhalten habe ich neulich ja schon mal aufgeschrieben. Dass das Wahlrecht, bei dem wir Wählende einen sehr großen Einfluss darauf haben, wie die Reihenfolge der Parteikandidatinnen aussieht, die dann wirklich ins Parlament kommen (weil wir jeden einzelnen wählen können, auch mit fünf Stimmen, oder die Stimmen auch auf verschiedene Parteien verteilen und so weiter), dass dieses Wahlrecht vor allem für die beiden "großen" ein Problem ist, finde ich logisch. Denn das ausgeklüngelte ausgeklügelte System, nach dem in so komplexen Organisationen wie - sagen wir mal - der SPD Listen zusammengestellt werden, ist eben dieses: komplex. Und es tariert Befindlichkeiten und Abhängigkeiten gut aus. Das meine ich nicht mal zynisch.

Das Tolle ist ja nun aber, dass dieses Austarieren für uns Wählende egal ist. Und so könnte es beispielsweise passieren, dass Isabella Vértes-Schütter, die traditionell auf dem letzten Landeslistenplatz, sozusagen symbolisch, kandidiert, gewählt wird, weil die Rentner-Stammwähler der SPD sie auf Seite 2 am Ende, also leicht erkennbar, entdecken und ihr ihre fünf Stimmen geben. Huch.

Oder dass Leute, die auf Platz 3 in einem Wahlkreis sind oder auf Platz 50 der Liste, persönlichen Wahlkampf machen und nach vorne rutschen. Oder reiche Freunde haben, die ganzseitige Anzeigen schalten. Oder oder oder.

Darf nicht sein. Abgeordnetenwatch hat auf die Antwort von CDU und SPD hingewiesen: Richtlinien, wie Kandidierende sich zu verhalten haben, damit ja nichts durcheinander kommt. Zumindest bei der SPD mussten alle Kandidierende ein solches Papier unterschreiben, in dem sie erklären, dass sie sich entsprechend verhalten

Und weil der von mir geschätzte Hansjörg Schmidt, der ja selbst in der unglücklichen Lage ist, nicht auf einem privilegierten Platz für die Bürgerschaft zu kandidieren (und dem ich wünsche, dass er gewählt wird, aber das habe ich ja schon gesagt), heute morgen erklärte, der Bericht von Abgeordnetenwatch sei falsch, er kenne kein solches Papier und habe es nicht unterschrieben, hab ich es mir mal besorgt.



Ganz ehrlich: Ich finde einige Passagen in diesem Papier skandalös. Und sie offenbaren eine Angst der SPD, die mich vielleicht nicht überrascht, aber doch befremdet. Dafür erklären sie aber immerhin, warum ich viele, viele CDU-Plakate sehe, auf denen lokale Kandidaten um fünf Stimmen bitten, aber keine von der SPD (außer für die Plätze 1 und 2 in den Wahlkreisen). Und warum dann die anderen auf kreative Maßnahmen zurück greifen müssen, wie bei mir mein alter Widersacher aus Jusozeiten (er war der erste "rechte" Jusokreisvorsitzende bei uns in Wandsbek und löste uns als letzten linken Kreisvorstand ab, damals, Mitte der 80er) Ekkehard Wysocki, für den Mitbürger auf DIN-A-5-Zetteln bei uns in der Siedlung werben, weil er "einer von uns" sei.

Das Verhalten der SPD finde ich sehr unsympathisch. Und die widersprüchlichen Aussagen zur Verbindlichkeit jenes Papiers oben sehr dubios.

8.2.11

Unsere beste Entscheidung

Dass Secundus vor fast genau zwei Jahren vom Gymnasium auf die Stadtteilschule (damals noch Gesamtschule) gewechselt ist, war eine der besten Entscheidungen, die wir je getroffen haben. Und weil ja jetzt sowohl bei den Freunden, die Kinder in der vierten Klasse haben, als auch bei einigen, die ihre Kinder in der sechsten Klasse eines Gymnasiums haben, eine ähnliche Entscheidung ansteht, freue ich mich über den ersten guten Abendblattartikel zum Thema Schule seit Jahren. An einem individuellen Fall wird eine Erfahrung geschildert, die wir kennen. Und zu der wir viele, viele andere Familien kennen, die es genau so auch erlebt haben. Vor allem der Schlussfolgerung der Autorin Claudia Eicke-Diekmann kann ich nur vollen Herzens zustimmen:
Ein Indiz ist das Halbjahreszeugnis in Klasse 6, das vor einer guten Woche ausgeteilt wurde. Ein Schulwechsel ist auch während des Schuljahres möglich. Dafür reicht ein formloser Antrag an die Schulbehörde. Die Garantie auf den Platz an der Wunschschule gibt es auch dann nicht, aber der Übergang ist dann freundlicher für die Kinderseele. Abgeschult - und wohin dann?
Ich war jahrelang ein nur theoretischer Anhänger der Gesamtschule. Schon immer. Und immer mit der Einschränkung, dass ich meinte, die Gesamtschule kann neben dem viergliedrigen Schulsystem nicht wirklich bestehen. Der Trend zu einem neuen Schulsystem aus Sonderschulen, Stadtteilschule, die zum Abitur führt, und Gymnasium - der sich ja nicht nur in Hamburg niederschlägt sondern auch in anderen Ländern - hat nun der alten Gesamtschulidee neue Kraft gegeben.

Ich bin ja im Elternrat (Elternmitbestimmung) eines Gymnasiums aktiv, habe ein Kind in der Grundschule und eines auf der Stadtteilschule. Und sehe heute, dass für die allermeisten Kinder die Stadtteilschule die mit Abstand bessere Wahl ist. Eltern, die ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, müssen wissen, was sie ihren Kindern damit antun. Beispielsweise könnte nahezu jede Stadtteilschule in Hamburg im Verlauf von Klasse sechs mindestens eine weitere Klasse aufmachen allein aus männlichen "Gymnasialrückläufern". Das Problem in fast allen mir bekannten Fällen: Die zweite Fremdsprache am Beginn von Klasse sechs.

Aufgrund der (nun noch einmal durch die Hamburger Schulinspektion neutral nachgewiesenen) schlechteren Unterrichtsqualität an Gymnasien, die sich vor allem in unterentwickelter didaktischer Vielfalt und in schwach ausgeprägter Bereitschaft vieler Lehrerinnen äußert, anzuerkennen, dass nicht alle Kinder mit Beginn von Klasse fünf bereits selbstständig lernen können, scheitern zunehmend Kinder daran, dass wie aus dem Nichts in Klasse sechs das Tempo angezogen wird und nur ein Jahr, nachdem die erste Fremdsprache aus einem eher spielerischen Umgang in ein "echtes" Fach umgewandelt wurde, bereits die zweite Fremdsprache dazu kommt. Ich habe bei einer großen Menge von Kindern erlebt, dass sie schon in den ersten Wochen hier den Anschluss verloren haben, ohne dass die Sprachlehrenden das rechtzeitig merkten. Ähnlich berichten mir das Stadtteilschullehrende, die diese Kinder dann auffangen und - glücklicherweise - zu neuer Blüte führen.

Ähnlich wie in dem Fall im Abendblatt war für Secundus der Wechsel - im laufenden sechsten Schuljahr übrigens - ein Segen. Er ist heute so gut wie noch nie in der Schule, hat für sich eine Perspektive entwickelt, hat einen anspruchsvollen Berufswunsch, ist mit seinen Begabungen und seinen Schwächen gut aufgehoben, wechselt jetzt zum Halbjahr sogar in einem seiner traditionellen "Problemfächer" in den starken Kurs. Er selbst wollte diesen Schulwechsel, um mehr Zeit für das Ziel Abitur zu haben. Und um mehr Freiraum für Bewegung, Sport, Hobby zu haben, der durch die Unterrichtsverdichtung am Gymnasium zu kurz zu kommen begann. Und dass sein Klassenkollegium am Gymnasium zum ersten Mal gemeinsam zusammen kam, um über ihn zu sprechen, als wir um ein Gespräch baten und sie uns vom Schulwechsel abhalten wollten, sagt ein Übriges.

Wenn zugleich an Primus' Schule (Gymnasium) der ehemalige Mittelstufenleiter mehr oder weniger offen davon redet, dass durch die aus seiner Sicht offenbar unsägliche Schulreform (hier: kein Sitzenbleiben, kein Abschulen in der Mittelstufe) eben am Ende von Klasse sechs massiv "gesiebt" werden müsse, ist meine Empfehlung klar: Das Gymnasium ist nicht nur die reformbedürftigste Schulform in Hamburg - sondern auch die, die nicht erste Wahl sein sollte, wenn ich ein Kind habe, dass normal- bis leicht höherbegabt ist. Ich erlebe zurzeit kein Gymnasium, das mit dem pubertären Durchhänger in den Klassen neun und zehn angemessen umzugehen in der Lage ist. Keins, das bereits hinreichend mit zeitgemäßen Unterrichtsmethoden vertraut wäre oder gar in Teams arbeitete. Keins, das ich wirklich empfehlen kann. Ja, ich kenne nicht viele Gymnasien, sondern nur die, auf die Kinder von Freunden gehen oder an denen Freunde unterrichten. Aber in dieser Stichprobe ist das Ergebnis verheerend.

Dass es keine weiterführende Schule jenseits der Sonderschulen in Hamburg mehr gibt, die nicht zum Abitur führt, dass also jeder Schulabschluss an jeder Schule möglich ist, finde ich toll. Und das sollte Eltern die Entscheidung erleichtern, ob sie ihren Kinden eine halbwegs gute Schullaufbahn gönnen oder ob sie sie wirklich der Hektik des G8 aussetzen wollen. Ich teste beides. Und obwohl Primus weiterhin gut in der Schule ist und erfolgreich, ist die Entscheidung für die Stadtteilschule bei Secundus die beste unseres Lebens gewesen. Und ich bin sehr unsicher, wie wir es bei Tertius im kommenden Jahr machen werden, obwohl er sich gerade wie ein "Überflieger" zu bewähren scheint.

Warum ich für die schwarz-grüne Regierung der letzten Jahre in diesem Zusammenhang dankbar bin: Sie hat die Gymnasien unter Reformdruck gesetzt, dem sie sich durch die Reform des Schulgesetzes nicht mehr entziehen können. Und sie hat in meinem Umfeld die Stadtteilschule "hoffähig" gemacht. Dieser Mut und dieser Schritt war - davon bin ich überzeugt - nur in einem lagerübergreifenden Regierungsbündnis möglich. Und gut und wichtig, selbst um den Preis, dass nun Olaf Scholz droht.

Update 22.00
Und noch ein Einzelfall, der ähnliche Erfahrungen macht wie wir, noch radikaler fast, in Harburg, heute in der Mopo.

Update 15.2.
Und noch ein kurzes Update, weil mir die Schulleiterin an Primus' Gymnasium etwas leicht missgelaunt vorhielt, die erwarte von ihren Elternvertretern, dass sie auch die positiven Seiten darstellten, und ich ihr flapsig antwortete, dass ich das durchaus getan habe. Mir geht es nicht um die konkrete Schule, auch wenn ich da besonders viel zu kritisieren habe, tatsächlich alles Positive, was mir zum konkreten Zusammenhang dieses Blogposts einfiel, geschrieben habe (nämlich nichts). Beide großen Söhne haben gute und schlechte Lehrer (oder das, was ich jeweils dafür halte). Und selbstverständlich gibt es auch an Gymnasien Lehrerinnen, die sich anstrengen, modernen und zeitgemäßen und auf der Höhe des pädagogischen Wissens angesiedelten Unterricht zu machen. Und auch an Stadtteilschulen solche, die es sich bequem machen und seit zwanzig Jahren nicht weiter entwickelt haben. Was ich aber merke, ist, dass die Organisationsform Stadtteilschule offenbar hilft, diese Schwächen besser auszugleichen. Und dass dort nicht so viel grundsätzlich im Argen liegt wie an Gymnasien.

Dass Primus den jeweils besten und schlechtesten Lehrer aus meiner eigenen (!) Schulzeit an seiner Schule nun aktuell auch im Unterricht hat, ist dabei ebenso ein weiterer Treppenwitz wie die Erkenntnis, dass ich damals mit meiner Bewertung wohl ganz gut lag.

1.2.11

Zwei kurze Anmerkungen zu #jan25

I. Profilneurotiker unter sich

Ich war mir nicht sicher, wie ich die Idee von Richard Gutjahr finde, nach Kairo zu reisen, als ich darüber erstmals las. Aber je länger er da ist und es in seinem Blog dokumentiert, desto mehr sehe ich, warum er es getan hat. Thomas Knüwer hat dazu das Nötige gesagt.

Was aber gar nicht geht, sind die Profilneurotiker, die die Frage diskutieren, ob er ein "richtiger" Journalist sei. Hallo? Das sind die gleichen, die sonst immer sagen, wie toll Blogs und Blogger sind und wie wichtig und wie sehr Journalisten und klassische Medien versagen. Wisst ihr, wie egal mir ist, ob er "richtiger" (was immer das sein mag und wer immer das entscheiden können dürfen soll) Journalist ist oder nicht? Er schreibt eine Livereportage. Und zwar, bisher, eine gute. Besser als das meiste, was ich neben groben Überblicken bisher gelesen habe.

Mein erster Weg, als es in Tunesien losging, war zu meinem tunesichen Reittrainer. Mein erster Blick, wenn mich Israel aktuell interessiert, ist Lilas Blog. Und mein Augenmerk gilt jetzt dieser Livereportage. Neben den dürren Überblicken, ich bin ja nicht doof.

Legt euch mal wieder hin, ihr Bedeutungsdeuter. Pah.

***

II. Es macht mir auch Angst

Ich bin froh, dass Menschen ihr Leben in die Hand nehmen und für Demokratie, Freiheit und eine Reformation (wenn das denn so ist) streiten. Ich bin froh über jeden Despoten, der abtreten muss. Ich denke, dass hier das nordafrikanische 1989 passiert, dazu später bestimmt mal mehr.

Aber so, wie 1989 in Europa zu tollen Dingen führte und zu schrecklichen, so wird es auch "dort" sein. Ich habe Angst vor dem, was da passiert. Nicht zu viel, aber doch auch Angst. Weil die Festung Europa und die Szenarien, über die wir schon in den frühen 80ern, als die Mauern am Mittelmeer errichtet wurden, geredet haben, auf einmal da sind. Weil ich nicht weiß, was das für Israel bedeutet, was da passiert. Weil sich in die Freude die Sorge mischt.

Noch ist es diffus. Darum nur kurz notiert.

Update 3.2., 10:30 Uhr
Noch zwei Bemerkungen nachgeschoben. Zum einen bin ich froh, dass Richard Gutjahr rechtzeitig wieder ausgereist ist aus Kairo und nicht den Helden spielt - und damit all denen, die ihm genau das unterstellten und darauf hinwiesen, dass das der Unterschied zu "klassischen" Journalisten sei, Lügen straft. Darum auch hier seine Bilder vom Mobilgerät der letzten drei Tage:



Und zum anderen bin ich traurig, dass meine Angst begründet war. Das auch noch kurz erläutert: Ich meine nicht nur die Sorge, ob die Machthaber den europäischen oder den chinesischen 1989er Weg gehen, das ist in vielen Ländern noch völlig unklar. Sondern auch die Sorge, dass auch in Europa 1989 ja nicht alles superfriedlich und in die Demokratie führte. Rumänien, Jugoslawien, Belorus, Ungarn, Polen, Tschechien - die Wege waren sehr, sehr unterschiedlich und nicht überall so, wie man sich das in einer idealen Welt vorgestellt hätte. So wird es auch in Nordafrika und im vorderen Orient sein (und das hat nichts mit dem Raunen zu tun, das die öffentlich-rechtlichen TV-Sender so oberpeinlich den ein oder anderen bekannten Spinner gerade verbreiten lassen. Darum hier noch mal der Appell: Stoppt Peter Scholl-Latour und gönnt ihm seinen Ruhestand.)