Gestern, als ich nach Hause kam, lag ein Exemplar von "Last Exit Volksdorf" von Tina Uebel auf dem Tisch. DDR-Feeling: Ein verbotenes Buch (ein Volksdorfer hat erreicht, dass es nicht weiter ausgeliefert werden darf, wenn ich es richtig verstanden habe), das unter Freunden heimlich (hier: in einer unauffälligen Plastiktüte, wir leben schließlich nur 50m von Volksdorf entfernt) weiter gegeben wird.
Es ist schon irre. Ich habe auf den Mäuerchen gesessen, bei Simon und Jänisch eingekauft, viel Zeit in der Koralle verbracht, als ich ein Jugendlicher war. Jede Szene, sogar irgendwie tatsächlich jeder Mensch, der in diesem Buch vorkommt, ist mir vertraut, so prinzipisch. Jeder Ort, jeder Typ. Ich habe Straßen vor Augen, durch die Finn mit dem Fahrrad fährt. Ich sehe, in welchem Haus Natalie und Juliette wohnen könnten. La Venezia gibt es schon lange nicht mehr, aber da habe ich ebenfalls Pistazieneis gegessen (denn Pistazieneis war das, was dort besonders war). Auch wir haben Knobibrot im Block House in der Weißen Rose geholt und im Park gegessen. Und das, obwohl ich nie Popper war, sondern immer Außenseiter. Das eigentlich Ulkige an diesem Buch ist, dass es in einer Zwischenzeit spielt. Die Orte und die Personen sind sehr 80er, die iPods und Cayennes stammen von heute. Tina Uebel ist fast genau so alt wie ich und zur gleichen Zeit wie ich in Volksdorf aufgewachsen.
Ich gehörte nie dazu in Volksdorf, denn ich lebte damals im Nachbarstadtteil Meiendorf, der armen Schwester auf der anderen Seite des Waldes. Ich kannte kaum Leute vom WDG (Walddörfer Gymnasium), das im Buch eine große Rolle spielt, nur einige, mit denen ich politisch arbeitete. Aber trotzdem war Volksdorf immer mein Dorf und ist es geblieben. Heute sind wir mehr als je zuvor dorthin orientiert, bald zwei unserer Kinder gehen dort zur Schule, eines spielt dort Fußball, einkaufen, Rastaurants, de Fries, alles mein Leben.
Selten hat mich ein Buch auf den ersten Seiten schon so in seinen Bann gezogen. Zumal ich Tina Uebels Stil sehr mag. Ob es auch Menschen so geht, die Volksdorf nicht so gut kennen?
Edit 4.4.2011
Der erste Eindruck nach 40 Seiten täuschte nicht. Es ist und es blieb ein tolles Buch in all seiner Trostlosigkeit, Ausweglosigkeit, Komik, Tragik, seinem Irrwitz. Relativ klar ist auch, wer wohl die Einstweilige erwirkt haben muss, eigentlich kommt nur der Arzt aus dem Krankenhaus in Großhansdorf in Frage, der auch wirklich nicht gut wegkommt (und dessen Sohn sich mutwillig mit AIDS ansteckt).
In den Rezensionen ist immer die Rede davon, dass alles in der Katastrophe endet - da bin ich mir nicht so sicher. Für mich ist es eher ein trostlos-realistisches Bild der wohlstandsverwahrlosten Kinder und ihrer Eltern, in großen Teilen bis heute gültig (es spielt ja auch in der Gegenwart), obwohl es die 80er Jahre abbildet. Der Mutter jener hochbegabten und verhätschelten Musikerin, die an der Erwartungen ihrer Familie zerbricht und in Magersucht und Irrsinn abgleitet, bin ich zigfach begegnet in meiner Zeit, in der ich in der Kirche dort aktiv war. Diese Einsamkeit in diesem großen Haus mit dem Mann, der nur das perfekte Weibchen haben will, und der Tochter, die sie nicht versteht, spüre ich geradezu. Und deren Mutter wiederum, die bei 16 Grad Raumtemperatur in ihrem Bett erfriert, stammt eigentlich aus Horn, wie meine Großeltern. Drogen, Mobbingvideos rund um eine Art Vergewaltigung, Außenseiter - alles deprimierend, alles realistisch in gewisser Weise, alles literarisch überhöht.
Ich konnte das Buch tatsächlich nicht weglegen, habe es der Freundin zurück gegeben, die es mir geliehen hat, so dass ich erstmal nicht noch weiter drin blättern und es querlesen kann. Und ja, ich kenne auch Leute, die nicht in oder um Volksdorf oder vergleichbare Gegenden aufgewachsen sind, denen es ähnlich ging mit diesem Buch.
Ist es gehypet? Nein, finde ich nicht. Jede euphorische Beschreibung stimmt. Und schade, dass ich nicht zur Lesung in der Koralle gehen kann, es wäre sicher sehr spaßig, lauter Volksdorfer zu beobachten, wie sie die Autorin beobachten, die ihr Leben beobachtet hat. Wer immer an das Buch kommt: Lest es!