27.3.14

Wandel

In der letzten Zeit las und hörte ich wieder häufiger euphorisierte Beiträge, dass sich alles ändere. Wahlweise durch das Internet oder durch die Digitalisierung. Und ich gehöre zu den letzten, die kleinreden wollen oder werden, dass wir uns in einer großen Umbruchzeit befinden. Aber dennoch wünsche ich mir manchmal, dass das aufgeregte Geschnatter etwas erwachsener wäre. Und dass die Diskussion um den Wandel etwas stärker auch eine historische Perspektive hat.

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Über die historische Perspektive, in der ich die Digitalisierung sehe (und nicht etwa das Internet, das halte ich tatsächlich für nur eine, vielleicht sogar nicht einmal die wichtigste Folge der Digitalisierung), habe ich ja immer wieder gesprochen und geschrieben. Ich bin je länger desto mehr davon überzeugt, dass eine genaue Betrachtung des Wandels, den der Druck mit beweglichen Lettern nach sich zog, helfen kann, zu verstehen, was gerade passiert. In aller Ambivalenz.


Denn die Frage, ob die Digitalisierung ein größerer Bruch sei als die beweglichen Letter, finde ich müßig. Das werden wir ohnehin erst in ein- bis zweihundert Jahren wissen. Können wir uns einigen, dass es ein vergleichbar großer (Kultur) Bruch ist?



Am letzten Wochenende war ich zur ersten Sitzung des Vorbereitungsausschusses der EKD-Synode eingeladen, in dem ich mitwirken darf. Und war fasziniert, einmal ernsthaft und mit Erwachsenen erwachsen (edit) über Themen zu sprechen, an denen ich arbeite (Schwerpunkt der Synodaltagung wird ja "Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft"). Auf einem Reflexionsniveau, das beachtlich war. Und - trotz all der unterschiedlichen Vorkenntnisse und Meinungen zum Thema "digitale Gesellschaft" - aus einer gemeinsamen Haltung heraus, auf die sich alle am Tisch einigen konnten: der des mehr freudigen als ängstlichen Akzeptierens der Veränderungen samt einem Blick auf die Chancen.

Leben kam in die Bude, als ich meiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass durch den digitalen Wandel recht eigentlich keine neuen ethischen Fragestellungen entstanden seien. Dass zwar vieles heute schneller und weiter gehe, aber gegenüber dem Buch- und Flugblattdruck eigentlich keine real neuen Fragen entstanden seien.  Aber dazu werde ich im Laufe des Jahres noch einmal ausführlicher schreiben und arbeiten.



Ohnehin ist der eigentliche Wandel, der unsere (digitale) Gesellschaft bestimmt, ja doch ein anderer. Und ein sehr kohlenstofflicher. Und hier mache ich mir sehr viel mehr Sorgen um unser Land als bei der Behauptung, es würde den digitalen Wandel verschlafen (was ja ohnehin nicht stimmt, aber das ist noch einmal eine andere Geschichte).

13.3.14

Fortpflanzungsgemurkse

Ich habe lange, wirklich lange überlegt, ob ich doch noch etwas schreibe oder nicht über Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Rede vom 2. März. Interessanterweise habe auch ich erst von dieser Rede erfahren, als ich über die Kritik an ihr etwas hörte. Vielleicht hatte ich dabei Glück, denn es war in "Kultur heute" im Deutschlandfunk - und offenbar eine der wenigen Erwähnungen der Diskussion, die nicht durch massive Zitatverkürzungen einen Skandal herbeiredete. Sondern im Gegenteil angesichts der Diskussion und des offenen Briefs der Dredner Dramaturgen Koall längere Ausschnitte aus der Rede dokumentierte. Das war am 6. März. Und ich twitterte daraufhin:
Was mir viel Kritik einbrachte, mich um die 50 Follower kostete, und dazu führe, dass ich einige wenige weitere Leute blockte.  Und es brachte mich in eine recht fruchtbare, weil zwar kontrovers und hart aber kultiviert geführte Twitter-Diskussion mit dem SpOn-Redakteur Konrad Lischka.

Danach habe ich die Rede noch einige Male im Audiostream gehört, den das Staatsschauspiel auf seiner Seite anbietet. Und je häufiger ich die Rede hörte, desto mehr ärgerte ich mich über die Reaktionen darauf. Ja, ich teile auch nicht alle Punkte. Ja, ich finde es gräßlich, dass Lewitscharoff zustimmend den Rechtsdenker Peter Sloterdijk erwähnt, zumal sie nicht mal Recht damit hat, dass er "der einzige" sei, der dieses Thema bearbeitet habe. Ja, ich finde den rechtspopulistischen Duktus des Man-wird-ja-wohl-noch-mal-sagen-Dürfen in ihrer Selbstverteidigung gegenüber der FAZ eklig, um in ihren Worten zu bleiben. Wer Sloterdijk gut findet und solchen Fuß-Aufstampf-Kram sagt, verortet sich selbst so weit rechts außen im politischen Spektrum, dass sie eigentlich beschwiegen werden müsste.

Eigentlich, wäre da nicht die Dresdner Rede. Die zu 2/3 aus der Ich-Perspektive und äußerst subjektiv - aber nicht minder spannend und dicht und nachdenklich-machend - über Leiden und die Grenzen des Lebens redet. Und zu knapp 1/3 dann auf den Beginn des Lebens zu sprechen kommt. Lewitscharoff spricht Themen an, mit denen ich mich theologisch, praktisch und ethisch seit fast fünfundzwanzig (in Worten: 25) Jahren beschäftige. Denen der Medizinethik und der ethischen und theologischen, anthropologischen Fragen der Pränatalmedizin. Inhaltlich stimme ich ihr zu etwa 90% oder etwas mehr zu. Was es vielleicht auch leichter macht, nicht bewusst zu versuchen, sie misszuverstehen. Und was, das merkte ich in den Diskussionen auf Twitter und in der Kohlenstoffwelt, eine Position ist, die zurzeit unpopulär ist.

Extrem interessant finde ich, dass ich bei denen, die Lewitscharoff (inhaltlich) kritisierten und denen, die in Ansätzen mit mir diskutierten, den Eindruck habe, dass sie die Rede nicht gehört oder gelesen haben. Denn beispielsweise wendet sie sich (und wende ich mich) nicht gegen die, die als Paar einen (insbesondere und auch mit medizinischer Indikation) unerfüllten Kinderwunsch haben und zu Methoden der künstlichen Befruchtung greifen. Finde ich für mich keine Option (brauchte ich aber auch nicht), finde ich aber ethisch und anthropologisch vertretbar. Ebenso argumentiert, mit etwas anderen Worten, auch Lewitscharoff. Aber genau diese Menschen und ihr Leid wurden als Kronzeugen gegen sie angeführt - was nicht nur falsch ist sondern auch mehr als nur unfair. Es ist üble Nachrede.

Die Fragen des Beginns und des Endes des Lebens, über die diese Rede spricht, sind alles andere als einfach und eindeutig. Ich denke, dass es absolut angemessen ist (obwohl ihr auch das ja vorgeworfen wurde), hier zunächst sehr personal zu argumentieren, sehr auf Empfindungen und Gefühle zu hören und sie zu beschreiben, Dankbarkeit und Ekel zu benennen. So lange ich nicht den Fehler mache, aus dieser personalen Sicht Regeln für alle zu machen. Was - anders als die Kritik an ihr suggeriert - Lewitscharoff mit nicht einem Wort tut.

Und so oder so - dieser ganz kurze theologische Exkurs sei mir gestattet - ist die reformatorische Unterscheidung von "Sünde" und "Sünder" hier ja sehr relevant. Aus christlich-lutherischer Sicht ist es nie angemessen, Menschen zu verurteilen, die etwas tun, was ich für falsch halte. So wenig übrigens, wie es angemessen wäre, ihr Verhalten in diesem Fall kritiklos zu akzeptieren. Dies macht es aus christlicher Sicht auch etwas einfacher, die Diskussion über den Beginn und das Ende des Lebens zu führen. Denn auch diejenigen, die hier anderer Meinung sind als man selbst oder als das, worauf sich "die Kirche" geeinigt hat (mal etwas verkürzt ausgedrückt), werde ich nicht verurteilen oder ihnen den guten Willen absprechen, selbst wenn ich ihre Position oder Handlung scharf kritisiere.

Halbwesen
Die eigentliche Aufregung aber hat sich ja aus der - ja - etwas kruden Wortwahl ergeben, die Lewitscharoff gewählt hat. Und bei der ihr die eine oder andere auch gleich unterstellte, es ginge ihr nur um ihr Buch und die Promotion. Als ob da nicht der Büchnerpreis schon ganz gut geholfen hätte. Naja.

Das eine oder andere, was sie sagt, finde ich auch nicht richtig. Aber auch die fiesesten Worte hat sie schon bevor sie fielen, eingebettet. Sie spricht direkt vorher davon, dass sie jetzt übertreibt, weil sie so besonders wütend ist und sich so besonders ekelt. Und sie nimmt das Wort "Halbwesen" schon im nächsten Halbsatz wieder zurück, indem sie darauf hinweist, wie unfair und falsch es sei. Wer noch einmal nur diese Passage hören will - ab Minute 42 beginnt sie, ich habe die Rede hier unten eingebettet (direkt von der Staatsschauspiel-Seite her).

Die Dresdner rede von Sibylle Lewitscharoff ist sperrig und eigenwillig und in der Art, wie sie "ich" sagt, auch nicht allgemeingültig oder im klassischen Sinne philosophisch. Wohl aber im Buber'schen Sinne dialogisch, scheint mir. Aber das ist eine andere Geschichte. Es lohnt sich, über diese Themen zu streiten. Und wenn ich der Rednerin etwas vorwerfen will, dann dies: Dass sie es den Denkfaulen und denen, die explizit und begründet anderer Meinung sind als sie (und ich), allzu leicht macht, indem sie ihnen einen Brocken hinwirft, auf den sie sich reflexhaft stürzen. Und so die Diskussion vermeiden über Leid und Wohl am Lebensanfang und am Lebensende. Über die ethischen und anthropologischen Grenzen und Chancen der "frankenstein'schen Medizin".

So oder so lohnt es sich, die Rede noch einmal am Stück zu hören. Darum hier direkt das Audio.

 

Und für die, die es woanders hören wollen, hier die  Audiodatei als MP3 zum Herunterladen. Beides direkt von der Seite des Staatsschauspiels, so dass es hier weg ist, wenn es dort verschwinden sollte.

4.3.14

Zugereist

Mir geht es seit Tagen nicht aus dem Kopf. Weil es allem widerspricht, von dem ich dachte, dass es wahr wäre. Also nicht allem jetzt. Aber sehr vielem in der Frage, um die es ging. Allerdings muss ich dazu ein bisschen ausholen.

Eine sehr gute Freundin, ziemlich erfolgreich im Beruf und darum umgezogen von Stuttgart nach Hamburg vor einiger Zeit, ist eigentlich auf der Schwäbischen Alb geboren und aufgewachsen. (Sagt man "auf der Alb"?) Nun lebt sie mit ihrem Mann seit einigen Jahren in Hamburg und hat beruflich überwiegend in Norddeutschland zu tun. Oder im Ausland, viel in den USA und in der Karibik (fragt nicht, ich erzähle es euch eh nicht).

Vor einiger Zeit hatte sie einmal versucht, in Mecklenburg Urlaub zu machen, das war noch vor dem Umzug nach Hamburg. Ein Freund hat da ein Ferienhaus. Nach drei Tagen musste sie wieder abreisen. Es war keine offene Feindschaft, es war dieses Verstummen und Umdrehen, wenn sie einen Raum betrat, Laden oder Lokal.

Auch beruflich war sie schon mehr als einmal im Osten Deutschlands. Und weiß aus eigener Erfahrung, dass es faktisch no go areas für sie sind. Nicht, dass sie bedroht würde. Das nicht. Aber im besten Fall ignoriert und übersehen, im normalen Fall angestarrt und abschätzig begutachtet, in vielen sogar mit abfälligen Sprüchen bedacht.

Dann zog sie nach Hamburg. Bewegt sich, privat und beruflich, viel in Schleswig-Holstein und im nördlichen Niedersachsen. Und überlegt, wieder zurück in den Südwesten zu gehen.

Zwar ist es auch da nicht so einfach überall sofort akzeptiert zu werden und Anschluss zu finden, wo jedes Dorf auf der Alb seine eigenen Wörter hat, die es erstmal zu lernen gilt, bevor sie dazugehört. Aber diese merkwürdigen Formen von Alltagsrassismus hat sie dort noch nie erlebt. Sondern im alltäglichen Leben erstmals hier. Das war für sie überraschend und für mich, wenn ich ehrlich bin, bestürzend. Wenn sie erzählt, wie sie auf dem Markt am Obststand regelmäßig übersehen und von der Verkäuferin übergangen wird. Wie sich die eine oder andere nur sehr mühsam an ihren Anblick und ihre Sprache (dieses wunderbare lupenreine Schwäbisch mit diesen Wortverbindungen, die auch im Hochdeutschen noch durchkommen) gewöhnen konnte und ihr das deutlich zeigte.

Als jemand mit norddeutschem Tonfall und blonden Kindern habe ich das selbst nie erlebt (und mein Sohn, der zurzeit den Punk gibt, fährt seitdem logischerweise ohnehin nicht mehr in die Dörfer östlich von Lübeck, dafür ist seinen Freundinnen da schon zu oft was passiert, aber das ist eine andere Geschichte). Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Vor allem nicht, dass es hier bei uns im Norden so viel krasser ist als im Südwesten, der doch als so konservativ gilt. Das bringt schon ein Weltbild ins Wanken und macht mich mehr als nur nachdenklich.

Vor allem macht mich nachdenklich, wieso ich das nicht gedacht hätte und nicht sah. Obwohl wir schon lange eng befreundet sind. Ich weiß nicht mal, ob ihr dieser Alltagsrassismus begegnet, wenn ich dabei bin. Und ich ihn nur nicht sehe. Wahrscheinlich ist es so - denn ihr Mann war es, der es neulich erstmals beiläufig erzählte. Eher mit Erstaunen und leichter Resignation als mit Zorn. Er schwäbelt zwar, sieht aber so aus wie ich. Also so ungefähr.

Die Hälfte ihrer Vorfahren lebt in der zentralafrikanischen Republik übrigens.