1967 regierte eine große Koalition. Schon einige Zeit rumorte es unter jungen Leuten und einigen etwas älteren. Die groteske Mischung aus Ignoranz gegenüber der Verstrickung ihrer Generation in den Nationalsozialismus (mit dem Symbol eines Ex-Nazis als Bundeskanzler der großen Koalition) und Ignoranz gegenüber der Lebenswirklichkeit der nächsten Generation hat die herrschende Elite an die Grenze ihrer Möglichkeiten gebracht. Und während die Entideologisierung die SPD zwar in die Regierung geführt hat, bildete sie doch nicht mehr die Hoffnung der sich radikalisierenden Teile der Jüngeren.
Was fehlte, was das Fanal. Und das geschah am 2. Juni 1967. Mit der Ermordung von Benno Ohnesorg.
An diesem Datum, an diesem Fanal, spaltete sich die Opposition, im Grunde mit ihrer eigentlichen Gründung schon. Ich finde es faszinierend zu sehen, wie die Menschen in der Generation meiner Eltern unterschiedliche Erinnerungen an diese Zeit haben - so unterschiedlich wie ihre Wege, die sie damals gingen. Von denen, die den Demokratieaufbruch Willy Brandts mitgingen (und 1972 begeisterte Juso-Wahlkämpferinnen wurden), über die, die sich der DKP oder den K-Gruppen anschlossen, um ihre bürgerliche Existenz ertragen zu können, bis hin zu denen, die eine zeitweise sogar offene Sympathie für diejenigen hegten, die den Weg in den Untergrund gingen. Persönlich kenne ich in meinem Umfeld keine, die den Weg in den Untergrund selbst gingen, nur vom Hörensagen und aus der Entfernung.
In einer Situation, die sie als totalitär empfinden - und die damals, wenn wir es recht bedenken, auch tatsächlich totalitär war -, einen anderen Weg zu gehen als den durch die Institutionen, ist folgerichtig. Und ist historisch auch wohl der richtigere Weg gewesen, denn der demokratische Aufbruch nach 1969 war überwiegend doch nur Kosmetik.
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Angesichts der Unfähigkeit und Unwilligkeit der jetzt begonnenen großen Koalition, elementarste Rechte der Bürgerinnen auch nur zu beachten oder gar zu verteidigen, angesichts der postdemokratisch-technokratischen Haltung der Kanzlerin und ihrer Verbündeten ("alternativlos", "die Märkte" etc), und angesichts einer Bevölkerung, die in ihrer breiten, ganz überwiegenden Mehrheit diese Postdemokratie und ihre Vertreterinnen richtig und gut findet und das Problem nicht einmal sieht, das wir damit haben - angesichts dieser Entwicklung kann ich auf einmal nicht nur die Sympathie meiner Eltern für den Untergrund verstehen. Sondern fühle mich auch sonst an 1967 erinnert. Mit allem Mehltau, mit einer zwar nicht revolutionären Situation aber einer, die eigentlich einer Revolution bedürfte.
Ich bin mir sicher, dass ich nicht 30 Jahre warten will, bis diejenigen, die diesen Mehltau so spüren und kaum ertragen mögen, selbst in die Regierung kommen - wie es die Generation meiner Eltern tat, die später erst die Bewegungen gründeten und dann die "bunten Listen" und so weiter, die in den Grünen aufgingen.
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Die Frage ist, was wir aus 1967 lernen können. Wie wir nicht die gleichen Fehler machen, wenn wir uns engagieren und das System ändern wollen. Wie wir vermeiden, so isoliert zu werden, wie es der militante Teil des Widerstandes war. Wie wir widerständig und damit in einem postdemokratischen System wie dem unseren notwendig auch immer wieder legitim illegal sein werden, ohne die Anschlussfähigkeit zu denen zu verlieren, die ein Unbehagen gegenüber dem Totalitarismus der Technokraten empfinden, ohne schon widerständig sein zu wollen oder zu können. Vielleicht sollten wir noch einmal gründlich Gramsci lesen.
Das einzige, mit dem ich mir sicher bin in dieser vorrevolutionären Situation, ist, dass es nur eines Funkens, eine Fanals bedarf, um den Widerstand manifest werden zu lassen. So wie 1967 den Mord an Ohnesorg. Ein Fanal, mit dem Regime, Regierung und Gesellschaft nicht umgehen können. Und das den Widerstand formiert. Was immer das sein mag und sein wird.
Auffällig ist nur: Die Eliten des Regimes, die Technokraten und Postdemokratinnen leben gefährlich nah am Pulverfass, ohne die Zündschnur zu sehen.
30.12.13
18.12.13
Netzwerk-Reset
Vielleicht liegt es ja doch am Jahresende. Oder daran, dass ich dabei bin, die Ausblicke auf 2014 zu schreiben. Oder den Jahresbrief der Familie. Dass ich also gerade gucke, was mir gefallen hat, was mich nervte, was sich änderte. Und gestern schrieb Nico etwas, das mir zwar anders geht, aber vom Prinzip her ähnlich. Wo Nicos Twitterblase kaputt ist, ist es meine bei Facebook, merke ich immer wieder und immer mehr. Dauernd schreiben Vollspacken irgendwelchen merkbefreiten Kram, auf den dann andere Schwachköpfe antworten. Sorry for being so rude. Ist doch aber so.
Zeit, sich das einmal genauer anzusehen und erste Konsequenzen zu ziehen. Zumal ich es auch zukunftsfähig halten will und die massiven Veränderungen in Nutzung und bei den Nutzerinnen der letzten Monate in allen Netzwerken mich ohnehin zu Veränderungen zwingen. Privat und beruflich. Zu letzterem mehr, wenn die Ausblicke oder Trends für 2014 kommen, die ich sehe.
Das, was private und berufliche (professionell-kommunikative) Nutzung speziell von Facebook aber gemeinsam haben, hängt damit zusammen, dass das Netzwerk zunehmend dysfuktional geworden ist - wenn wir es als Ort für Gespräche betrachten wollen.
Naja.
Meine These, dass das Silo Facebook von einer Vielzahl von sinnvollen Netzwerken und Plattformen abgelöst wird, ist ja auch nicht nur so daher gesagt. Wo immer ich mit anderen Menschen spreche, erzählen sie es auch: dass sich die Nutzung verändert (hat).
Für mich ist im ablaufenden Jahr beispielsweise Instagram immer wichtiger geworden und ein Ort, an dem ich Kontakte und Inspiration finde. Und Twitter hat wieder an Bedeutung zugenommen. Facebook war nett, um Geburtstagsgrüße zu bekommen. Und treibt einigen Traffic hier ins Blog. Aber das war es auch schon.
Mein "Netzwerk-Setup" ändert sich darum:
Zeit, sich das einmal genauer anzusehen und erste Konsequenzen zu ziehen. Zumal ich es auch zukunftsfähig halten will und die massiven Veränderungen in Nutzung und bei den Nutzerinnen der letzten Monate in allen Netzwerken mich ohnehin zu Veränderungen zwingen. Privat und beruflich. Zu letzterem mehr, wenn die Ausblicke oder Trends für 2014 kommen, die ich sehe.
Das, was private und berufliche (professionell-kommunikative) Nutzung speziell von Facebook aber gemeinsam haben, hängt damit zusammen, dass das Netzwerk zunehmend dysfuktional geworden ist - wenn wir es als Ort für Gespräche betrachten wollen.
Ich glaube ja, Leute, die Facebook für Social Media halten oder damit Cluetrain umsetzen wollen, sind ein bisschen dumm.
— Wolfgang Lünenbürger (@luebue) December 18, 2013
Naja.
Meine These, dass das Silo Facebook von einer Vielzahl von sinnvollen Netzwerken und Plattformen abgelöst wird, ist ja auch nicht nur so daher gesagt. Wo immer ich mit anderen Menschen spreche, erzählen sie es auch: dass sich die Nutzung verändert (hat).
Für mich ist im ablaufenden Jahr beispielsweise Instagram immer wichtiger geworden und ein Ort, an dem ich Kontakte und Inspiration finde. Und Twitter hat wieder an Bedeutung zugenommen. Facebook war nett, um Geburtstagsgrüße zu bekommen. Und treibt einigen Traffic hier ins Blog. Aber das war es auch schon.
Mein "Netzwerk-Setup" ändert sich darum:
- Wichtigster Ort für Gespräche, Blödeleien, Links und Inspiration bleibt Twitter. Es ist und bleibt mein wichtigster digitaler Raum, in dem ich mich wohlfühle, in dem ich die für mich richtigen Leute kenne, die mir helfen, das Wichtige und Relevante zu finden.
- Instagram ist mein wichtigster privater Raum. Privat im Sinne von "Wolfgang die Privatperson", nicht im Sinne von "nicht öffentlich". Immer häufiger ist der erste Griff morgens der zur Instagram-App.
- Für berufliche Kontakte werde ich ab sofort nur noch LinkedIn nutzen. Ich merke, dass ich einfach keine Lust habe auf die völlig unbrauchbare und dazu auch noch völlig an der Struktur meiner Kontakte vorbei ausgerichteten "Weiterentwicklung" von Xing. Erster Schritt war die Kündigung meiner Premiummitgliedschaft, im Laufe der nächsten Monate werde ich meinen Account dort löschen.
- Ich werde Facebook anders nutzen als bisher. Abmelden kann und will ich mich nicht, weil ich dort einige interessante Gruppen habe und es beruflich brauche. Aber ich werde bei den Kontakten aufräumen (sprich: massiv reduzieren), ich habe die Inhalte unsichtbarer gemacht, ich werde dort nur noch posten, um Traffic zu holen und meine Ideen unters Volk zu bringen. Facebook ist aus meiner Sicht kein Raum für Gespräche und kein Social Media.
- Weiterhin werde ich hin und wieder auf Medium schreiben. Nur auf Englisch. Und nur sporadisch, wenn es um Nachdenken geht. Aber ich liebe dieses Netzwerk sehr und finde es extrem gut und spannend. Einer der Entwürfe, wie ich mir das Internet vorstelle.
Anderes wird sich ändern, wird weiter gehen, wird aufhören. Auf meiner Homepage werde ich weiterhin das zusammenführen, was ich teilenswert finde. Aber grob gesagt scheint mir dies ein sinnvolles Reset meiner Netzwerknutzung zu sein. Ich bin gespannt, ob damit der Nervfaktor zurückgeht und die Inspiration bleibt. Mitsamt den Gesprächen.
12.12.13
Medienerziehung
Früher hätten wir einen Brief oder eine Postkarte an die Plattenfirma geschrieben und einige Wochen später wäre etwa die gleiche Antwort mitsamt drei Autogrammkarten gekommen, wenn wir Glück hatten. Heute fragen wir mal eben nach.
Und so kommt es, dass Chris de Burgh mit Tertius einen netten Dialog hatte. Denn dessen Musiklehrer hatte die (wie ich finde: sehr gute) Idee, dass die Kinder Referate über die Lieblingssängerin oder die Lieblingsband ihrer Eltern halten. Und weil Sigur Rós ihm zu schräg und anstrengend war (dabei, hey, wäre er damit echt voll cool gewesen), nahm er meinen Lieblingssänger seit ewigen Zeiten (seit ich zur Konfirmation meine erste Platte von ihm geschenkt bekam). Positiver Nebeneffekt: Ich höre seit Tagen wieder diese Musik, die mir gute Laune und mich vor allem, wie ich immer wieder verwundert feststelle, glücklich macht.
Verwundert rieb ich mir erst die Augen heute früh. Und auch Tertius freute sich sehr. Und erst später wurde mir bewusst, dass dies ja recht eigentlich Medienerziehung für mein Kind war. Embedded sozusagen.
Mich fasziniert, wie einfach das Einüben neuer Kommunikation im Alltag sein kann. Und wie bereitwillig die Kinder etwas mit mir ausprobieren. Da muss ich ihnen gar nichts überstülpen.
Und ich merke, wie anders ich sie begleiten kann in ihre Wissenswelt, wenn ich selbst ihre Netzwerke nutze. Denn auf Twitter war Tertius ja schon etwas länger...
Und so kommt es, dass Chris de Burgh mit Tertius einen netten Dialog hatte. Denn dessen Musiklehrer hatte die (wie ich finde: sehr gute) Idee, dass die Kinder Referate über die Lieblingssängerin oder die Lieblingsband ihrer Eltern halten. Und weil Sigur Rós ihm zu schräg und anstrengend war (dabei, hey, wäre er damit echt voll cool gewesen), nahm er meinen Lieblingssänger seit ewigen Zeiten (seit ich zur Konfirmation meine erste Platte von ihm geschenkt bekam). Positiver Nebeneffekt: Ich höre seit Tagen wieder diese Musik, die mir gute Laune und mich vor allem, wie ich immer wieder verwundert feststelle, glücklich macht.
My son has to do a presentation at school about his dad's favorite singer. So I'm listening to the last 20 yrs of my @CdeBOfficial songs. :)
— Wolfgang Lünenbürger (@luebue) December 11, 2013
Vor allem aber dachten wir irgendwann, dass er ja mal neben Wikipedia, YouTube und dem Plattenschrank noch weitere Quellen konsultieren könnte. Und Chris hat auch zügig geantwortet.Verwundert rieb ich mir erst die Augen heute früh. Und auch Tertius freute sich sehr. Und erst später wurde mir bewusst, dass dies ja recht eigentlich Medienerziehung für mein Kind war. Embedded sozusagen.
Mich fasziniert, wie einfach das Einüben neuer Kommunikation im Alltag sein kann. Und wie bereitwillig die Kinder etwas mit mir ausprobieren. Da muss ich ihnen gar nichts überstülpen.
Und ich merke, wie anders ich sie begleiten kann in ihre Wissenswelt, wenn ich selbst ihre Netzwerke nutze. Denn auf Twitter war Tertius ja schon etwas länger...
10.12.13
Das Schweinesystem
Die einzige mögliche Antwort auf die absolut richtige Analyse von Sascha Lobo ist der Widerstand.
Wacht auf, Verdammte dieser Erde
die stets man noch zum Hungern zwingt!
Das Recht, wie Glut im Kraterherde
nun mit Macht zum Durchbruch dringt.
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger
alles zu werden, strömt zuhauf.
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!
Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.
Es rettet uns kein hö´hres Wesen,
kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen,
können wir nur selber tun!
Leeres Wort: des Armen Rechte!
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und Knechte,
duldet die Schmach nun länger nicht!
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.
29.11.13
Demut
Kinder und Pferde machen demütig. Mich jedenfalls. Anderen wird es vielleicht mit anderem so gehen. Aber Kinder und Pferde erinnern mich immer wieder daran, wie zufällig so vieles ist, wie wenig binär, eindeutig, plan- und beherrschbar.
Manchmal frage ich mich dann, ob all die Leute, die beispielsweise technikpositivistisch sind oder technokratisch, keine Kinder haben oder keine Zeit mit ihnen verbringen. Oder woher sonst die Vorstellung kommen mag, das Leben, die Gesellschaft, das Netz, die Politik oder was auch immer durchplanen zu können. Ob es wirklich und ernsthaft Menschen geben kann, die sich nicht nur einzureden versuchen (ob aus Schwäche und Unsicherheit oder aus Kalkül), sie könnten die Zukunft vertraglich regeln oder die Funktionsweise von irgendwas mit Menschen oder der Natur mithilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären und vorhersagen.
Witzigerweise habe ich noch nie eine Naturwissenschaftlerin getroffen, die das Konzept "Naturgesetz" für ihren Expertisebereich für existent gehalten hätte. Sondern allenfalls für eine Näherung, die so lange plausibel ist, bis sie widerlegt wird. Nur die Vulgärvariante von Wissenschaft in der Schule scheint dieses immer noch zu vertreten, wenn ich das richtig mitbekomme bei meinen Kindern.
Wildes, unbändiges Leben ist das, was wir jeden Tag erleben, erdulden, uns daran erfreuen, wenn wir mit Kindern unser Leben verbringen. Oder mit Pferden. Nur Wesen, die wir gebrochen haben, ergeben sich in die Beherrschbarkeit, auch das aber immer sozusagen auf Abruf. Denn irgendwann werden sie aufgrund ihrer seelischen oder emotionalen Deformation und eben der Tatsache, dass wir sie zerstört haben, doch wieder ausbrechen.
Menschen, die von Gesetzmäßigkeiten reden oder die Zukunft für planbar halten, sind mir suspekt. Und solche, die von "Alternativlosigkeit" faseln, machen mir Angst. Denn beide sind gefährliche Technokratinnen. Und beide können nicht mit der Gegenwart und der Zukunft umgehen. Oder haben es noch nie versucht. Und werden scheitern, wenn sie mit dem Leben konfrontiert werden.
Denn wenn du dann mit dem wilden, unbändigen Leben zu tun hast, wirst du leise und demütig. Mir geht das immer wieder so. Und wenn es gut läuft, ist es eine Demut, die mich frei zum Handeln macht. Im Sinne Luthers großem Satz aus seiner größten Schrift (de servo arbitrio) pecca fortiter sed fortius crede. Oder Karl Barths wunderbarer Übersetzung dieses Gedankens, die über meinem häuslichen Schreibtisch hängt: Die einzig mögliche Antwort auf die wirklich gewonnene Einsicht in die Vergeblichkeit alles menschlichen Werkes ist, sich frisch an die Arbeit zu machen.
Manchmal frage ich mich dann, ob all die Leute, die beispielsweise technikpositivistisch sind oder technokratisch, keine Kinder haben oder keine Zeit mit ihnen verbringen. Oder woher sonst die Vorstellung kommen mag, das Leben, die Gesellschaft, das Netz, die Politik oder was auch immer durchplanen zu können. Ob es wirklich und ernsthaft Menschen geben kann, die sich nicht nur einzureden versuchen (ob aus Schwäche und Unsicherheit oder aus Kalkül), sie könnten die Zukunft vertraglich regeln oder die Funktionsweise von irgendwas mit Menschen oder der Natur mithilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären und vorhersagen.
Witzigerweise habe ich noch nie eine Naturwissenschaftlerin getroffen, die das Konzept "Naturgesetz" für ihren Expertisebereich für existent gehalten hätte. Sondern allenfalls für eine Näherung, die so lange plausibel ist, bis sie widerlegt wird. Nur die Vulgärvariante von Wissenschaft in der Schule scheint dieses immer noch zu vertreten, wenn ich das richtig mitbekomme bei meinen Kindern.
Wildes, unbändiges Leben ist das, was wir jeden Tag erleben, erdulden, uns daran erfreuen, wenn wir mit Kindern unser Leben verbringen. Oder mit Pferden. Nur Wesen, die wir gebrochen haben, ergeben sich in die Beherrschbarkeit, auch das aber immer sozusagen auf Abruf. Denn irgendwann werden sie aufgrund ihrer seelischen oder emotionalen Deformation und eben der Tatsache, dass wir sie zerstört haben, doch wieder ausbrechen.
Menschen, die von Gesetzmäßigkeiten reden oder die Zukunft für planbar halten, sind mir suspekt. Und solche, die von "Alternativlosigkeit" faseln, machen mir Angst. Denn beide sind gefährliche Technokratinnen. Und beide können nicht mit der Gegenwart und der Zukunft umgehen. Oder haben es noch nie versucht. Und werden scheitern, wenn sie mit dem Leben konfrontiert werden.
Denn wenn du dann mit dem wilden, unbändigen Leben zu tun hast, wirst du leise und demütig. Mir geht das immer wieder so. Und wenn es gut läuft, ist es eine Demut, die mich frei zum Handeln macht. Im Sinne Luthers großem Satz aus seiner größten Schrift (de servo arbitrio) pecca fortiter sed fortius crede. Oder Karl Barths wunderbarer Übersetzung dieses Gedankens, die über meinem häuslichen Schreibtisch hängt: Die einzig mögliche Antwort auf die wirklich gewonnene Einsicht in die Vergeblichkeit alles menschlichen Werkes ist, sich frisch an die Arbeit zu machen.
8.11.13
Sehr allein
Die Frage der Vereinsamung in Gesellschaft ist nicht neu. Schon in meiner Jugend in den 80ern sind Menschen mitten in Großwohnsiedlungen einsam gewesen. Auch die Frage der maximalen Größe menschlicher Gruppen ist nicht neu. Beispielsweise habe ich mich in den 90ern viel mit "emerging church"-Projekten beschäftigt und der Frage, wieso und wann beispielsweise freikirchliche Gemeinden sich teilen. In der Regel, wenn mehr als fünfzig Familien oder rund 150 Menschen zusammen kamen.
Für jede Generation hat dieses Thema eine neue Relevanz und einen neuen Ort. Für diese hat Sherry Turkle dazu gearbeitet und mit Alone together auch das Buch geschrieben (das ich bisher nicht gelesen habe). Und dieser kurze Film fasst es wunderbar zusammen. Insbesondere, weil ich denke, dass es weitgehend stimmt. Womit wir im Kern wieder bei meinem Lieblingsthema rund um die so genannte Generation Y sein könnten, aber das ist dann doch irgendwie auch wieder eine andere Geschichte.
Für jede Generation hat dieses Thema eine neue Relevanz und einen neuen Ort. Für diese hat Sherry Turkle dazu gearbeitet und mit Alone together auch das Buch geschrieben (das ich bisher nicht gelesen habe). Und dieser kurze Film fasst es wunderbar zusammen. Insbesondere, weil ich denke, dass es weitgehend stimmt. Womit wir im Kern wieder bei meinem Lieblingsthema rund um die so genannte Generation Y sein könnten, aber das ist dann doch irgendwie auch wieder eine andere Geschichte.
31.10.13
Von beweglichen Lettern und der Reformation
Reformationstag. Zum 496-sten Mal sozusagen. Als Tag ein Symbol für eine der größten gesellschaftlichen Veränderungen in Europa überhaupt. Denn die Reformation war in dieser Form nur möglich, weil es kurz vorher eine Medien(technik)revolution gegeben hatte. Luther war keineswegs der erste, der den Papismus in seiner spätmittelalterlichen Ausprägung kritisierte. Er war nicht mal der erste, der den Menschen die Bibel geben wollte, die die Kirche ihnen vorenthielt. Er - und nicht nur er sondern seine Generation der Kritiker - war nur der erste, der mit Hilfe der beweglichen Lettern für den Druck die Chance hatte, seine Ideen, Fragen und Übersetzungen zu skalieren. Also zu kopieren und verfügbar zu machen.
Damit begann eine Revolution. Denn einher ging mit dieser Chance die Notwendigkeit, Menschen das Lesen beizubringen. Was hätten sie sonst mit den Büchern anfangen sollen.
Was wir lernen können, wenn wir solche Punkte wie die Reformation (und die Aufklärung, die aus den gleichen Gründen zur gleichen Zeit zusammen mit der Reformation die Neuzeit einleitete) ansehen: Dass ein Mehr an Informationen, dass die Überprüfbarkeit der Aussagen der Obrigkeit, dass die leichtere Kopierbarkeit von Inhalten zu einem Mehr an Freiheit führen kann. Auch wenn die papistische Reaktion und vierhundert Jahre später die Terrorregime in Europa die Funktionen der Medien(technik)revolution auch zur Versklavung nutzen konnten.
Aber wer in der Tradition der Reformation steht oder der Aufklärung, wird nicht anders können, als die zurzeit stattfindende Revolution zu umarmen.
Bis aus einer Revolution der Medien(technik) allerdings eine Veränderung der Gesellschaft, eine Revolution wird, dauert es. Damals mehr als zweihundert Jahre. Heute sicher auch nicht viel kürzer. Aber die Vorboten sind schon zu sehen. Mich fasziniert die Definition von Revolution, die Clay Shirky verwendet (hat) -
Gerade Am Anfang, wenn eine Medien(technik)revolution in eine gesellschaftliche Revolution übergeht, tritt ihre Janusköpfigkeit besonders hervor. Ähnlich wie bei den beweglichen Lettern ist auch die Digitalisierung von Information und Kommunikation (und damit ihre einfachere Verfügbarkeit und Kopierbarkeit) zwar etwas, das in sich strukturell zu mehr Freiheit führt. Aber so wie das gedruckte Pamphlet einfacher gegen Luther verwendet werden konnte als nur das Hörensagen, bietet die Digitalisierung der Kommunikation einen einfacheren Zugang zu ihrer Überwachung.
Das Pamphlet kam trotzdem nicht wieder aus der Welt. Und die Freiheit der Rede kann nicht einmal China vollständig unterdrücken. Noch viel weniger werden es ein vordemokratisches Regime wie Großbritannien (wo es nicht mal echte Verfassungsrechte gibt), ein Geheimdienstregime wie in den USA oder eine Regierung, deren Innenminister ein bekennender Verfassungsfeind ist, wie in Deutschland schaffen. Das macht mich optimistisch.
Der Reformationstag ist ein guter Tag, daran zu erinnern, wie Medien und Technik Freiheit bringen können und eine Revolution auslösen. Und es ist ein guter Tag, um vor Zorn über die Feinde der Freiheit aufzuschreien. Damals die Papisten. Heute die Vertreterinnen und Vertreter eines "Supergrundrechts Sicherheit". Und drittens ein guter Tag, um schrill und hysterisch zu lachen, in aller Verzweiflung, wenn diejenigen, die noch vor einem Jahr beklagten, das Internet sei ein rechtsfreier Raum, es heute zu ebendiesem zu machen versuchen. Und meine elementaren Bürgerrechte und Menschenrechte nicht einmal verteidigen wollen, unabhängig von der Frage, ob sie es können.
Die Feinde der Freiheit haben unruhige, revolutionäre Zeiten immer schon genutzt, um ihr Unterdrückungswerk unter dem Deckmantel von Ruhe und Sicherheit zu befördern. Hundert Jahre nach dem Thesenanschlag in Wittenberg führte das in einen großen europäischen Krieg. Vor fünfzig Jahren verwandelte sich zornige Ohnmacht in gewaltsame Proteste und einen Untergrund.
Jan Hus konnten sie noch verbrennen, Luthers Bibelübersetzung nicht mehr. Rudi Dutschke konnten sie noch ermorden, die Menschen auf den Plätzen der nordafrikanischen Städte nicht mehr. Chelsea (Bradley) Manning konnten sie noch internieren. Uns alle aber nicht mehr.
Wir befinden wir uns an einem Scheideweg. Und die Reformation kann dabei Ermutigung sein. Auch und gerade heute.
Damit begann eine Revolution. Denn einher ging mit dieser Chance die Notwendigkeit, Menschen das Lesen beizubringen. Was hätten sie sonst mit den Büchern anfangen sollen.
Was wir lernen können, wenn wir solche Punkte wie die Reformation (und die Aufklärung, die aus den gleichen Gründen zur gleichen Zeit zusammen mit der Reformation die Neuzeit einleitete) ansehen: Dass ein Mehr an Informationen, dass die Überprüfbarkeit der Aussagen der Obrigkeit, dass die leichtere Kopierbarkeit von Inhalten zu einem Mehr an Freiheit führen kann. Auch wenn die papistische Reaktion und vierhundert Jahre später die Terrorregime in Europa die Funktionen der Medien(technik)revolution auch zur Versklavung nutzen konnten.
Aber wer in der Tradition der Reformation steht oder der Aufklärung, wird nicht anders können, als die zurzeit stattfindende Revolution zu umarmen.
Bis aus einer Revolution der Medien(technik) allerdings eine Veränderung der Gesellschaft, eine Revolution wird, dauert es. Damals mehr als zweihundert Jahre. Heute sicher auch nicht viel kürzer. Aber die Vorboten sind schon zu sehen. Mich fasziniert die Definition von Revolution, die Clay Shirky verwendet (hat) -
Gerade Am Anfang, wenn eine Medien(technik)revolution in eine gesellschaftliche Revolution übergeht, tritt ihre Janusköpfigkeit besonders hervor. Ähnlich wie bei den beweglichen Lettern ist auch die Digitalisierung von Information und Kommunikation (und damit ihre einfachere Verfügbarkeit und Kopierbarkeit) zwar etwas, das in sich strukturell zu mehr Freiheit führt. Aber so wie das gedruckte Pamphlet einfacher gegen Luther verwendet werden konnte als nur das Hörensagen, bietet die Digitalisierung der Kommunikation einen einfacheren Zugang zu ihrer Überwachung.
Das Pamphlet kam trotzdem nicht wieder aus der Welt. Und die Freiheit der Rede kann nicht einmal China vollständig unterdrücken. Noch viel weniger werden es ein vordemokratisches Regime wie Großbritannien (wo es nicht mal echte Verfassungsrechte gibt), ein Geheimdienstregime wie in den USA oder eine Regierung, deren Innenminister ein bekennender Verfassungsfeind ist, wie in Deutschland schaffen. Das macht mich optimistisch.
Der Reformationstag ist ein guter Tag, daran zu erinnern, wie Medien und Technik Freiheit bringen können und eine Revolution auslösen. Und es ist ein guter Tag, um vor Zorn über die Feinde der Freiheit aufzuschreien. Damals die Papisten. Heute die Vertreterinnen und Vertreter eines "Supergrundrechts Sicherheit". Und drittens ein guter Tag, um schrill und hysterisch zu lachen, in aller Verzweiflung, wenn diejenigen, die noch vor einem Jahr beklagten, das Internet sei ein rechtsfreier Raum, es heute zu ebendiesem zu machen versuchen. Und meine elementaren Bürgerrechte und Menschenrechte nicht einmal verteidigen wollen, unabhängig von der Frage, ob sie es können.
Die Feinde der Freiheit haben unruhige, revolutionäre Zeiten immer schon genutzt, um ihr Unterdrückungswerk unter dem Deckmantel von Ruhe und Sicherheit zu befördern. Hundert Jahre nach dem Thesenanschlag in Wittenberg führte das in einen großen europäischen Krieg. Vor fünfzig Jahren verwandelte sich zornige Ohnmacht in gewaltsame Proteste und einen Untergrund.
Jan Hus konnten sie noch verbrennen, Luthers Bibelübersetzung nicht mehr. Rudi Dutschke konnten sie noch ermorden, die Menschen auf den Plätzen der nordafrikanischen Städte nicht mehr. Chelsea (Bradley) Manning konnten sie noch internieren. Uns alle aber nicht mehr.
Wir befinden wir uns an einem Scheideweg. Und die Reformation kann dabei Ermutigung sein. Auch und gerade heute.
22.10.13
Summum ius summa iniuria
Mich erschüttert tatsächlich, wie sehr (nicht dass, sondern der Umfang) offenbar vielen Sozialdemokratinnen in meinem Umfeld und in meiner Stadt der Kompass abhanden gekommen ist. Und wie schnell die SPD, nur zwei Jahre nach ihrer Wiederauferstehung, in die Muster zurück fällt, die (meines Erachtens zu Recht) zu ihrer Abwahl in Hamburg führten. Und wie sehr der Versuch, zur Empathie fähige Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, zu kriminalisieren und für randalierende scheinpolitische Jugendliche verantwortlich zu machen, auch bei Sozis ohne Funktion in Partei und Regierung verfängt, denen ich das nicht zugetraut hätte.
Wie verzweifelt und einsam aber muss es um Sozis geworden sein, wenn mehrere ausgerechnet eine aus Klitterungen, Beschimpfungen und Vorurteilen bestehende Kolumne des Abendblatt-Autors Matthias Iken kommentarlos oder zustimmend verlinken, dessen Positionen ich schon häufiger als "neu-rechts" (die intellektuelle Variante des Rechtsaußen) empfunden habe.
Der Versuch, mithilfe technokratischer (und damit im Kern antidemokratischer, weil als "alternativlos" behaupteter) "Argumente" große Teile der Stadt zu kriminalisieren, bestürzt mich. Insbesondere da, wo ich die handelnden Menschen kenne - wie meinen Studienfreund Sieghard Wilm, Pfarrer an St. Pauli, oder den Propst Karl-Heinz Melzer, der innerhalb der evangelischen Kirche in Hamburg nun weiß Gott alles andere als links ist, im Gegenteil - ist mir unerträglich, wie Innensenator, Bürgermeister und Teile der Medien agieren.
Menschen auf St. Pauli, die so gar nicht in das von Rechten als Gutmenschentum diffamierte linksintellektuelle Milieu passen, das Iken und viele Traditionssozis so zu verabscheuen scheinen, evangelische Christinnen überall in der Stadt und politische Gruppen, die sich schon lange für eine andere Politik gegenüber Einwanderinnen einsetzen, haben schon seit Wochen das Thema der Lampedusa-Flüchtlinge getrieben. Das wird nicht falsch dadurch, dass anlässlich eines rassistischen Polizeieinsatzes (gegen den es ja offenbar auch innerhalb der Polizei Proteste gab) andere Gruppen sich an Gewalt delektieren. Diese Gewalt, die ich ablehne und für falsch halte, zu nutzen, um Menschen zu diffamieren und zu kriminalisieren, die seit langer Zeit mit hohem persönlichem Einsatz mit Flüchtlingen arbeiten, ist miese Propaganda. Das mag zu Iken passen, vielleicht auch zu Boulevardmedien wie Bild und Abendblatt, aber eigentlich nicht zu Sozialdemokratinnen.
(Überschrift aus einer Kommentarschlacht bei Facebook gezogen, dort von Johannes Pausch eingebracht. Cicero hat dieses Zitat in seinem Werk De Officiis popularisiert)
@luebue weil einem ultimatum randalierender chaoten nicht nachgegeben wurde?(Mit Nico bin ich schon lange befreundet und streite ich mich sonst eher scherzhaft. Das als disclosure.)
— Nico Lumma (@Nico) October 16, 2013
Wie verzweifelt und einsam aber muss es um Sozis geworden sein, wenn mehrere ausgerechnet eine aus Klitterungen, Beschimpfungen und Vorurteilen bestehende Kolumne des Abendblatt-Autors Matthias Iken kommentarlos oder zustimmend verlinken, dessen Positionen ich schon häufiger als "neu-rechts" (die intellektuelle Variante des Rechtsaußen) empfunden habe.
Der Versuch, mithilfe technokratischer (und damit im Kern antidemokratischer, weil als "alternativlos" behaupteter) "Argumente" große Teile der Stadt zu kriminalisieren, bestürzt mich. Insbesondere da, wo ich die handelnden Menschen kenne - wie meinen Studienfreund Sieghard Wilm, Pfarrer an St. Pauli, oder den Propst Karl-Heinz Melzer, der innerhalb der evangelischen Kirche in Hamburg nun weiß Gott alles andere als links ist, im Gegenteil - ist mir unerträglich, wie Innensenator, Bürgermeister und Teile der Medien agieren.
Menschen auf St. Pauli, die so gar nicht in das von Rechten als Gutmenschentum diffamierte linksintellektuelle Milieu passen, das Iken und viele Traditionssozis so zu verabscheuen scheinen, evangelische Christinnen überall in der Stadt und politische Gruppen, die sich schon lange für eine andere Politik gegenüber Einwanderinnen einsetzen, haben schon seit Wochen das Thema der Lampedusa-Flüchtlinge getrieben. Das wird nicht falsch dadurch, dass anlässlich eines rassistischen Polizeieinsatzes (gegen den es ja offenbar auch innerhalb der Polizei Proteste gab) andere Gruppen sich an Gewalt delektieren. Diese Gewalt, die ich ablehne und für falsch halte, zu nutzen, um Menschen zu diffamieren und zu kriminalisieren, die seit langer Zeit mit hohem persönlichem Einsatz mit Flüchtlingen arbeiten, ist miese Propaganda. Das mag zu Iken passen, vielleicht auch zu Boulevardmedien wie Bild und Abendblatt, aber eigentlich nicht zu Sozialdemokratinnen.
(Überschrift aus einer Kommentarschlacht bei Facebook gezogen, dort von Johannes Pausch eingebracht. Cicero hat dieses Zitat in seinem Werk De Officiis popularisiert)
26.9.13
Wir leben gern. Überlegungen für neue Grüne.
Was ich mich immer noch frage, ist, wie es eigentlich passieren konnte, dass die politischen Gegnerinnen die Geschichte erzählen konnten (und ihnen das jemand aus gutem Grund glaubte), dass die Grünen die Dagegen-Partei seien und immer mehr Verbote und Gesetze fordern. Lange habe ich das nicht Ernst genommen, denn ich fand es absurd. Es entsprach so gar nicht meinem Erleben von Grün.
Obwohl ich in einem grünen Milieu aufgewachsen bin, habe ich die Grünen zuerst aus der Entfernung betrachtet. Denn ich war als Marxist in die SPD eingetreten. Während wir über die Verstaatlichung der Banken sprachen, haben die Grünen gefeiert und Sonnenblumen in den Bundestag getragen. Wir wollten die Welt mit Gewalt und Gesetzen verändern. Die Grünen mit Lebensfreude und einem anderen Leben. Theologisch gesprochen standen sie immer für die Fülle des Lebens, für ein neues Leben im alten.
Dann kam Bündnis 90 dazu. Ganz anders sozialisiert. Mit nur einer Klammer, die beide Gruppen hatten: ihren jeweiligen Kirchenflügel. Fast alle meine Freundinnen aus der kirchlichen Friedens- und Eine-Welt-Bewegung waren Grüne. Oder wählten sie und ihre Vorläufer seit Ende der 70er. Und das Bündnis 90 brachte ein weiteres Erbe mit ein in die gesamtdeutsche Partei: den unbedingten Wunsch nach Freiheit. Die große Skepsis gegenüber allen, die uns vorschreiben wollen, wie wir leben sollen. Das zog mich an. Das ließ mich grün wählen, als ich noch in der SPD war. So ging es vielen Weggefährtinnen damals, bis heute kenne ich Leute, die sogar Funktionen in Kreisverbänden der SPD haben, die häufiger grün als rot wählen. Als niemand von den Linken in der SPD gegen Schröder um den Bundesvorsitz der Partei kandidierte, bin ich zum zweiten Mal ausgetreten. Und nach dem Himmelfahrtsparteitag und dem Jugoslawienbeschluss bei den Grünen eingetreten. Obwohl ich gegen diesen Beschluss war. Weil ich die BDK im Fernsehen verfolgte und beeindruckt war von Niveau und Ernst der Diskussion. Von der Freiheit, die diese Partei atmete.
Nur was ist dann passiert? Und warum haben wir es nicht gemerkt? Wie konnte aus einer Partei der Lebensfreude, des Feierns, des Strickens, einer Partei, zu deren Veranstaltungen Eltern ihre Kinder mitbrachten, auf denen sie Tipps für gutes Leben austauschten – wie konnte aus so einer Partei eine werden, die hinter einem sauertöpfischen, ungeduldigen Intellektuellen herlief und es duldete, dass er die Steuerpolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellte?
Oder anders gesagt: Der Unterschied zwischen Robert Habeck und Jürgen Trittin ist ja schon deutlich, oder? Hier in Hamburg zwischen Anna Gallina und Katja Husen einerseits und Christa Goetsch andererseits. Im zurückgetretenen Bundesvorstand zwischen Malte Spitz und Cem Özdemir.
Mir geht es nicht um Personen, aber Personen machen den Narrativ, die Geschichte, die wir und andere erzählen (können). Die Grünen standen in den Zeiten, in denen sie junge Leute erreichten und sehr weit ins sogenannte bürgerliche Milieu ausstrahlten, eher für ein Lebensgefühl als für eine konkrete Politik. Das ging, solange sie keine Politik gestalten mussten oder durften. Und führte die Generation vor meiner in die realpolitische Sackgasse, aus der herauszufinden sie nicht die Kraft oder Weitsicht hatte. Und das unabhängig von dem, was früher einmal die Flügel waren.
(Kleine Randnotiz: Darum ist auch die Flügeldebatte nach der Wahlniederlage so absurd. Außer dem ehemaligen „Realoflügel“ der Grünen würde wohl niemand ernsthaft auf die Idee kommen, Trittin als „Linken“ zu bezeichnen.)
Genug Rückblick. Wie kann es weiter gehen?
Die Grünen sind in einer einmaligen Situation. Wir haben erkannt, dass tatsächlich irre viel schief gelaufen ist. Wir haben bei einem Teil der Generation, die uns in die Regierungsverantwortung in den Ländern und im Bund geführt hatte, die Einsicht, dass der Neuaufbau und die neue Erzählung andere als sie braucht. Sie haben unser Land zum besseren verändert. Sie haben ihre Mission erfüllt und sie werden mir immer in Erinnerung bleiben als die, die das gesellschaftliche Klima und vieles an realer, politisch gestalteter Lebenswirklichkeit geschaffen haben, was heute besser ist als in den 80er Jahren. Dafür sage ich danke. Und meine das auch so.
Und wir sind in der einmaligen Situation, dass sich die Partei, die mit uns am schärfsten um gut situierte Menschen mit Lebensfreude konkurrierte, über die letzten zehn Jahre so demontiert hat, dass selbst ein sympathischer und brillanter Intellektueller wie Christian Lindner sie nicht so schnell wird wiederbeleben können. Erinnert ihr euch noch, dass für die meisten von uns seit etwa 2000 die FDP der eigentliche „Gegner“ war? Und das stimmte ja auch. Anders als unsere Mitglieder kamen sehr viele unserer Wählerinnen aus den Milieus und Schichten, die in den 70ern FDP gewählt hätten und hatten. Und es ist auch kein Zufall, dass wir besonders stark wurden in dem Bundesland, in dem die FDP ihre besten Wurzeln hat. Baden war seit Mitte des 19. Jahrhunderts die deutsche Hochburg des weltoffenen, bürgerlichen Liberalismus. Und nicht umsonst wurde der liberale Aufbruch in Freiburg beschlossen.
Menschen mit Lebensfreude haben sich lange zwischen uns und der FDP entschieden. Während die FDP mehr und mehr die Hedonistinnen anzog, waren wir für Menschen attraktiv, die Lebensfreue damit verbanden, ein gutes Leben auch für andere zu wollen. Der Unterschied zwischen Egoismus und Freiheit. Zwischen der angelsächsischen (heute oft als neoliberal bezeichneten) „Freiheit von“ und der deutschen „Freiheit zu“. Zwischen Utilitarimus und Werteethik.
Ob Grüne links sind oder zum „linken Lager“ gehören – wohin uns alle Spitzenleute und alle BDK-Delegierten für den Wahlkampf geführt haben – war eigentlich nie wichtig. Wenn Freiheit und Lebensfreude mit Verantwortungsübernahme links sind, dann sind wir links, ja. Aber wenn autoritäre Beglückungsphantasien oder eine Politik des Mitleids, wie Jakob Augstein jüngst in der „Zeit“ links definiert hat, links sind, dann sind wir nicht links.
Aufbruch wagen.
Ironischerweise verkörpert ausgerechnet Claudia Roth, die als erste Verantwortung für die Niederlage übernahm und Konsequenzen zog, obwohl sie mit Abstand am wenigsten damit zu tun hatte, in der Generation, die jetzt in die zweite Reihe treten wird, den Aufbruch und das Lebensgefühl noch am besten. Mit ihrer Biografie, mit ihrer – äh – kontroversen Wahrnehmung im Land, mit ihrem Lachen und ihrem unbändigen Freiheitswunsch.
Aus der realpolitischen (links wie nichtlinks) Sackgasse kann uns aus meiner Sicht vor allem führen, dass wir uns auf zwei Kernbereiche besinnen, auf eine Haltung und auf eine Zuversicht:
Eine Haltung. Ja ich weiß, mein Lieblingsthema. Aber wichtiger als alles andere ist es aus meiner Sicht, dass wir aus einer gemeinsamen Haltung heraus Politik machen. Sozialromantikerinnen und Ökoterroristen (wie es ein Freund und grüner Lokalpolitiker neulich formulierte) können wir aushalten – wenn sie sich mit uns auf eine gemeinsame Haltung einigen.
Aus meiner Sicht muss dieses eine Haltung des Optimismus in Bezug auf Menschen sein. Grüne Politik wird sich von einer Politik der Linken (und auch der SPD und der CDU) immer mindestens daran unterscheiden, dass wir kein autoritäres Politikverständnis haben. Also unsere Ziele nicht mit Gesetzen durchsetzen wollen – sondern überzeugen. Etwas holzschnittartig formuliert.
Ja, wir werden auch Gesetze machen (wollen und müssen). Aber die erste Frage, die Faustregel muss sein: Geht es ohne ein Gesetz? Welches Gesetz können wir abschaffen? Was bringt mehr Freiheit?
Ich kann nachvollziehen, wie das Image der Verbots- und Regelwut entstand: Aus Ungeduld. Weil eine Generation ihre letzte Chance sah, jetzt noch mal schnell durchzusetzen, was sie als richtig empfand. Nur: das wollen die Leute nicht. Vielleicht ist das eine gute Faustregel für künftige Führungswechsel bei uns – sobald jemand ungeduldig wird, ist es Zeit, den Platz frei zu machen für jemanden, die noch einen langen Atem hat. Ihr habt es ja selbst vorgemacht mit der Atomkraft.
Und damit sind wir bei der Zuversicht. Wir sind, und das unterscheidet uns von der klassischen Linken, nicht verzagt und nicht verzweifelt. Ja, der Zustand der Freiheit und auch der Zustand des Planeten sind zum Verzweifeln, wenn wir es genau ansehen. Aber wenn wir das als Haltung kultivieren, erreichen wir die Emos. Und nur die. Wir sollten schon der Tatsache ins Auge sehen, dass es unseren Wählerinnen gut geht. Dass sie optimistisch sind. Dass ihnen aber nicht egal ist, wie es anderen, wie es der Freiheit, wie es dem Planeten geht. Das unterscheidet sie von denen, die CDU oder links wählen. Mit Jammern und dagegen-Sein erreichen wir die nicht. Mit Zuversicht und Optimismus schon. Vor allem mit dem Optimismus, dass Menschen nicht doof sind. Was wir in dem, wie wir Politik formulieren, noch allzu oft unterstellen. Oder es zumindest so aussehen lassen, als dächten wir es.
Vielleicht bin ich blauäugig, weil es mir gut geht und ich optimistisch bin. Aber wenn ich mich umgucke, sind fast alle, denen ich begegne (und die bereit sind zu wählen und dann auch uns zu wählen) auch so. Optimismus und Freiheit führen zu einem Politikansatz der Ermächtigung und der Teilhabe. Und nicht zu einem des Paternalismus und des Mitleids. Denn Mitleid ist immer peinlich. Und das Gegenteil von Solidarität (die auch immer asymmetrisch ist, aber das ist eine andere Geschichte).
Obwohl ich in einem grünen Milieu aufgewachsen bin, habe ich die Grünen zuerst aus der Entfernung betrachtet. Denn ich war als Marxist in die SPD eingetreten. Während wir über die Verstaatlichung der Banken sprachen, haben die Grünen gefeiert und Sonnenblumen in den Bundestag getragen. Wir wollten die Welt mit Gewalt und Gesetzen verändern. Die Grünen mit Lebensfreude und einem anderen Leben. Theologisch gesprochen standen sie immer für die Fülle des Lebens, für ein neues Leben im alten.
Dann kam Bündnis 90 dazu. Ganz anders sozialisiert. Mit nur einer Klammer, die beide Gruppen hatten: ihren jeweiligen Kirchenflügel. Fast alle meine Freundinnen aus der kirchlichen Friedens- und Eine-Welt-Bewegung waren Grüne. Oder wählten sie und ihre Vorläufer seit Ende der 70er. Und das Bündnis 90 brachte ein weiteres Erbe mit ein in die gesamtdeutsche Partei: den unbedingten Wunsch nach Freiheit. Die große Skepsis gegenüber allen, die uns vorschreiben wollen, wie wir leben sollen. Das zog mich an. Das ließ mich grün wählen, als ich noch in der SPD war. So ging es vielen Weggefährtinnen damals, bis heute kenne ich Leute, die sogar Funktionen in Kreisverbänden der SPD haben, die häufiger grün als rot wählen. Als niemand von den Linken in der SPD gegen Schröder um den Bundesvorsitz der Partei kandidierte, bin ich zum zweiten Mal ausgetreten. Und nach dem Himmelfahrtsparteitag und dem Jugoslawienbeschluss bei den Grünen eingetreten. Obwohl ich gegen diesen Beschluss war. Weil ich die BDK im Fernsehen verfolgte und beeindruckt war von Niveau und Ernst der Diskussion. Von der Freiheit, die diese Partei atmete.
Nur was ist dann passiert? Und warum haben wir es nicht gemerkt? Wie konnte aus einer Partei der Lebensfreude, des Feierns, des Strickens, einer Partei, zu deren Veranstaltungen Eltern ihre Kinder mitbrachten, auf denen sie Tipps für gutes Leben austauschten – wie konnte aus so einer Partei eine werden, die hinter einem sauertöpfischen, ungeduldigen Intellektuellen herlief und es duldete, dass er die Steuerpolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellte?
Oder anders gesagt: Der Unterschied zwischen Robert Habeck und Jürgen Trittin ist ja schon deutlich, oder? Hier in Hamburg zwischen Anna Gallina und Katja Husen einerseits und Christa Goetsch andererseits. Im zurückgetretenen Bundesvorstand zwischen Malte Spitz und Cem Özdemir.
Mir geht es nicht um Personen, aber Personen machen den Narrativ, die Geschichte, die wir und andere erzählen (können). Die Grünen standen in den Zeiten, in denen sie junge Leute erreichten und sehr weit ins sogenannte bürgerliche Milieu ausstrahlten, eher für ein Lebensgefühl als für eine konkrete Politik. Das ging, solange sie keine Politik gestalten mussten oder durften. Und führte die Generation vor meiner in die realpolitische Sackgasse, aus der herauszufinden sie nicht die Kraft oder Weitsicht hatte. Und das unabhängig von dem, was früher einmal die Flügel waren.
(Kleine Randnotiz: Darum ist auch die Flügeldebatte nach der Wahlniederlage so absurd. Außer dem ehemaligen „Realoflügel“ der Grünen würde wohl niemand ernsthaft auf die Idee kommen, Trittin als „Linken“ zu bezeichnen.)
Genug Rückblick. Wie kann es weiter gehen?
Die Grünen sind in einer einmaligen Situation. Wir haben erkannt, dass tatsächlich irre viel schief gelaufen ist. Wir haben bei einem Teil der Generation, die uns in die Regierungsverantwortung in den Ländern und im Bund geführt hatte, die Einsicht, dass der Neuaufbau und die neue Erzählung andere als sie braucht. Sie haben unser Land zum besseren verändert. Sie haben ihre Mission erfüllt und sie werden mir immer in Erinnerung bleiben als die, die das gesellschaftliche Klima und vieles an realer, politisch gestalteter Lebenswirklichkeit geschaffen haben, was heute besser ist als in den 80er Jahren. Dafür sage ich danke. Und meine das auch so.
Und wir sind in der einmaligen Situation, dass sich die Partei, die mit uns am schärfsten um gut situierte Menschen mit Lebensfreude konkurrierte, über die letzten zehn Jahre so demontiert hat, dass selbst ein sympathischer und brillanter Intellektueller wie Christian Lindner sie nicht so schnell wird wiederbeleben können. Erinnert ihr euch noch, dass für die meisten von uns seit etwa 2000 die FDP der eigentliche „Gegner“ war? Und das stimmte ja auch. Anders als unsere Mitglieder kamen sehr viele unserer Wählerinnen aus den Milieus und Schichten, die in den 70ern FDP gewählt hätten und hatten. Und es ist auch kein Zufall, dass wir besonders stark wurden in dem Bundesland, in dem die FDP ihre besten Wurzeln hat. Baden war seit Mitte des 19. Jahrhunderts die deutsche Hochburg des weltoffenen, bürgerlichen Liberalismus. Und nicht umsonst wurde der liberale Aufbruch in Freiburg beschlossen.
Menschen mit Lebensfreude haben sich lange zwischen uns und der FDP entschieden. Während die FDP mehr und mehr die Hedonistinnen anzog, waren wir für Menschen attraktiv, die Lebensfreue damit verbanden, ein gutes Leben auch für andere zu wollen. Der Unterschied zwischen Egoismus und Freiheit. Zwischen der angelsächsischen (heute oft als neoliberal bezeichneten) „Freiheit von“ und der deutschen „Freiheit zu“. Zwischen Utilitarimus und Werteethik.
Ob Grüne links sind oder zum „linken Lager“ gehören – wohin uns alle Spitzenleute und alle BDK-Delegierten für den Wahlkampf geführt haben – war eigentlich nie wichtig. Wenn Freiheit und Lebensfreude mit Verantwortungsübernahme links sind, dann sind wir links, ja. Aber wenn autoritäre Beglückungsphantasien oder eine Politik des Mitleids, wie Jakob Augstein jüngst in der „Zeit“ links definiert hat, links sind, dann sind wir nicht links.
Aufbruch wagen.
Ironischerweise verkörpert ausgerechnet Claudia Roth, die als erste Verantwortung für die Niederlage übernahm und Konsequenzen zog, obwohl sie mit Abstand am wenigsten damit zu tun hatte, in der Generation, die jetzt in die zweite Reihe treten wird, den Aufbruch und das Lebensgefühl noch am besten. Mit ihrer Biografie, mit ihrer – äh – kontroversen Wahrnehmung im Land, mit ihrem Lachen und ihrem unbändigen Freiheitswunsch.
Aus der realpolitischen (links wie nichtlinks) Sackgasse kann uns aus meiner Sicht vor allem führen, dass wir uns auf zwei Kernbereiche besinnen, auf eine Haltung und auf eine Zuversicht:
- Umwelt und Zukunft der Kohlenstoffwelt
Da kommen wir her, das ist das Kernthema und der Grund unseres Engagements. Das ist die Basis unserer Lebensfreude und unserer Sorge für morgen. Dabei geht es weniger um das EEG oder die Mineralölsteuer, sondern um ein besseres Leben. Vegetarische Rezepte vor Veggieday. - Freiheit und Bürgerinnenrechte
Die FDP hat ihr bürgerrechtliches Erbe verschleudert. Wir haben es nicht aufgehoben, weil es vielen der letzten Generation so fremd war. Freiheit und Bürgerinnenrechte sind für meine Generation und die meiner jugendlichen Kinder das, was für euch der Umweltschutz war. So wie der saure Regen und die Atomkraftwerke eure Lebenswelt zu zerstören drohten (und so wie ihr auszogt, eure Lebenswelt zu retten), so bedroht die Totalisierung von Sicherheit unsere Lebenswelt. Bürgerinnenrechte sind der Umweltschutz für unseren Heimat- und Lebensraum.
Eine Haltung. Ja ich weiß, mein Lieblingsthema. Aber wichtiger als alles andere ist es aus meiner Sicht, dass wir aus einer gemeinsamen Haltung heraus Politik machen. Sozialromantikerinnen und Ökoterroristen (wie es ein Freund und grüner Lokalpolitiker neulich formulierte) können wir aushalten – wenn sie sich mit uns auf eine gemeinsame Haltung einigen.
Aus meiner Sicht muss dieses eine Haltung des Optimismus in Bezug auf Menschen sein. Grüne Politik wird sich von einer Politik der Linken (und auch der SPD und der CDU) immer mindestens daran unterscheiden, dass wir kein autoritäres Politikverständnis haben. Also unsere Ziele nicht mit Gesetzen durchsetzen wollen – sondern überzeugen. Etwas holzschnittartig formuliert.
Ja, wir werden auch Gesetze machen (wollen und müssen). Aber die erste Frage, die Faustregel muss sein: Geht es ohne ein Gesetz? Welches Gesetz können wir abschaffen? Was bringt mehr Freiheit?
Ich kann nachvollziehen, wie das Image der Verbots- und Regelwut entstand: Aus Ungeduld. Weil eine Generation ihre letzte Chance sah, jetzt noch mal schnell durchzusetzen, was sie als richtig empfand. Nur: das wollen die Leute nicht. Vielleicht ist das eine gute Faustregel für künftige Führungswechsel bei uns – sobald jemand ungeduldig wird, ist es Zeit, den Platz frei zu machen für jemanden, die noch einen langen Atem hat. Ihr habt es ja selbst vorgemacht mit der Atomkraft.
Und damit sind wir bei der Zuversicht. Wir sind, und das unterscheidet uns von der klassischen Linken, nicht verzagt und nicht verzweifelt. Ja, der Zustand der Freiheit und auch der Zustand des Planeten sind zum Verzweifeln, wenn wir es genau ansehen. Aber wenn wir das als Haltung kultivieren, erreichen wir die Emos. Und nur die. Wir sollten schon der Tatsache ins Auge sehen, dass es unseren Wählerinnen gut geht. Dass sie optimistisch sind. Dass ihnen aber nicht egal ist, wie es anderen, wie es der Freiheit, wie es dem Planeten geht. Das unterscheidet sie von denen, die CDU oder links wählen. Mit Jammern und dagegen-Sein erreichen wir die nicht. Mit Zuversicht und Optimismus schon. Vor allem mit dem Optimismus, dass Menschen nicht doof sind. Was wir in dem, wie wir Politik formulieren, noch allzu oft unterstellen. Oder es zumindest so aussehen lassen, als dächten wir es.
Vielleicht bin ich blauäugig, weil es mir gut geht und ich optimistisch bin. Aber wenn ich mich umgucke, sind fast alle, denen ich begegne (und die bereit sind zu wählen und dann auch uns zu wählen) auch so. Optimismus und Freiheit führen zu einem Politikansatz der Ermächtigung und der Teilhabe. Und nicht zu einem des Paternalismus und des Mitleids. Denn Mitleid ist immer peinlich. Und das Gegenteil von Solidarität (die auch immer asymmetrisch ist, aber das ist eine andere Geschichte).
23.9.13
Oh Captain My Captain
Ich habe, was sich merkwürdig anhört, nie den Werther gelesen. Und die Reifeprüfung fand ich sehr weit aus der Zeit gefallen. Für mich und für viele, mit denen in damals zu tun hatte und befreundet war, war Dead Poets Society (Der Club der toten Dichter) so etwas. Der Film zum Erwachsenwerden. Er kam in die Kinos in dem Jahr, in dem ich Abitur machte und zu studieren begann. Und er hat mich und viele andere sehr berührt und aufgewühlt. Und in einer Mischung aus Erinnerung an die Gefühlswelt damals und aus einer immer noch großartigen Geschichte und Schlussszene (die viel kürzer ist, als ich in Erinnerung hatte) wühlt mich dieser Film immer noch auf.
Es ist sicher auch kein Zufall, dass Ethan Hawke die Hauptfigur Todd spielt. Wie kaum ein anderer verkörperte er ja unsere Coupland'sche Generation X im Kino. "Meine" Figur war zwar immer mehr Overstreet, aber ich schätze, jede von uns in dieser Generation kennt alle die, die da vorkommen. Inklusive einem Cameron. Wenn ich heute den Film sehe, habe ich sie alle vor mir, mit denen ich zur Schule ging und auf den Sommerakademien war.
Überhaupt waren die der Ort, an dem diese Schule irgendwie lebendig wurde für einige von uns. Wahrscheinlich weil sie das gleiche Elitegehabe hatten. Und weil es Zeiten der Fülle und der Inspiration waren. Zeiten, in denen wir uns intellektuell angeregt wussten. Ein Ort, an dem wir, also die Unangepassten unter den Stipendiatinnen der Studienstiftung des deutschen Volkes, mit anderen Überfliegerinnen den Widerstand gegen die Spießer übten. In meinem Fall vor allem in der Sommerakademie, in der ich "In welchen Städten wollen wir leben" bei drei linken Architektur- und Städtebauprofs belegt hatte.
Auch wenn Der Club der toten Dichter in einer anderen Zeit spielte als der Gegenwart - das ist mir übrigens erst sehr viel später bewusst geworden -, war er für uns irgendwie jetzt. Die Emotionalität, das Aufgehen in der Romantik der großen Lyrik, das Ausprobieren. Es war, wie es in der späten Pubertät wahrscheinlich sein muss, eben auch eine Zeit, in der ich viel Musik schrieb (in meinem Fall moderne E-Musik, was damals was anderes hieß als heute, nämlich das, was mit klassischen Instrumenten in Konzertsälen lief. Ligeti war mein Held), Gedichte, auch ein Theaterstück. So wie die Jungs im Club der toten Dichter.
Keating verkörperte alles, was mir an Lehrerinnen wichtig war. Und auch viel von dem, wie ich bis heute Erziehen und auch Führen verstehe. Das hat mich so in seinen Bann gezogen, weil ich auf der Suche war nach eben diesem. Dem eigene Weg. Dem eigenen Denken. Dem tiefen Fühlen. Meine bis heute andauernde Liebe für Mahler und für Thomas Manns Doktor Faustus stammt aus dieser Zeit. Und meine bis heute andauernde Liebe für meine Frau.
Bis heute ist es für mich die vielleicht aufwühlendste Szene in einem Film überhaupt, wenn Todd, Ethan Hawke, auf sein Pult steigt und "Captain my Captain" sagt. Voller Angst, Zweifel, mit Tränen und trotzdem mutig.
@luebue But only in their dreams can men be truly free.
— Thomas Pfeiffer (@codeispoetry) September 22, 2013
Es ist sicher auch kein Zufall, dass Ethan Hawke die Hauptfigur Todd spielt. Wie kaum ein anderer verkörperte er ja unsere Coupland'sche Generation X im Kino. "Meine" Figur war zwar immer mehr Overstreet, aber ich schätze, jede von uns in dieser Generation kennt alle die, die da vorkommen. Inklusive einem Cameron. Wenn ich heute den Film sehe, habe ich sie alle vor mir, mit denen ich zur Schule ging und auf den Sommerakademien war.
Überhaupt waren die der Ort, an dem diese Schule irgendwie lebendig wurde für einige von uns. Wahrscheinlich weil sie das gleiche Elitegehabe hatten. Und weil es Zeiten der Fülle und der Inspiration waren. Zeiten, in denen wir uns intellektuell angeregt wussten. Ein Ort, an dem wir, also die Unangepassten unter den Stipendiatinnen der Studienstiftung des deutschen Volkes, mit anderen Überfliegerinnen den Widerstand gegen die Spießer übten. In meinem Fall vor allem in der Sommerakademie, in der ich "In welchen Städten wollen wir leben" bei drei linken Architektur- und Städtebauprofs belegt hatte.
Auch wenn Der Club der toten Dichter in einer anderen Zeit spielte als der Gegenwart - das ist mir übrigens erst sehr viel später bewusst geworden -, war er für uns irgendwie jetzt. Die Emotionalität, das Aufgehen in der Romantik der großen Lyrik, das Ausprobieren. Es war, wie es in der späten Pubertät wahrscheinlich sein muss, eben auch eine Zeit, in der ich viel Musik schrieb (in meinem Fall moderne E-Musik, was damals was anderes hieß als heute, nämlich das, was mit klassischen Instrumenten in Konzertsälen lief. Ligeti war mein Held), Gedichte, auch ein Theaterstück. So wie die Jungs im Club der toten Dichter.
Keating verkörperte alles, was mir an Lehrerinnen wichtig war. Und auch viel von dem, wie ich bis heute Erziehen und auch Führen verstehe. Das hat mich so in seinen Bann gezogen, weil ich auf der Suche war nach eben diesem. Dem eigene Weg. Dem eigenen Denken. Dem tiefen Fühlen. Meine bis heute andauernde Liebe für Mahler und für Thomas Manns Doktor Faustus stammt aus dieser Zeit. Und meine bis heute andauernde Liebe für meine Frau.
Bis heute ist es für mich die vielleicht aufwühlendste Szene in einem Film überhaupt, wenn Todd, Ethan Hawke, auf sein Pult steigt und "Captain my Captain" sagt. Voller Angst, Zweifel, mit Tränen und trotzdem mutig.
9.9.13
Autorität und Vertrauen
Seit rund fünfzehn Jahren trage ich nun beruflich Verantwortung für andere Menschen. Und dafür, was die so tun. Was man Führungskraft nennt im allgemeinen Sprachgebrauch. Darauf wurde ich nicht vorbereitet, das meiste, was ich heute weiß und was mir hin und wieder gelingt, habe ich mir selbst erarbeiten müssen. Der Vorteil daran ist allerdings, dass ich viel ausprobieren konnte und es nach und nach dann reflektieren. Der Stil und die Haltung, die ich zu Führung entwickelt habe, liegt auch nicht jeder. Was irgendwie klar ist. Und dass ich autoritäre Führung weder für hilfreich halte noch bereit bin, regelmäßig einzusetzen, hat mir auch durchaus schon einmal den Vorwurf eingebracht, ich würde führen ohne zu führen. Mir ist wichtig, zwischen autoritär und Autorität zu unterscheiden.
Manchmal geht es dann trotzdem, dass ich einfach nur darauf hinweise, dass "oben unten sticht". Denn manchmal ist es eben so. Dann sticht oben unten. Sozusagen autoritär. Was aber nicht das gleiche ist wie Autorität. Im Gegenteil: wer zu oft autoritär ist, wird Autorität verlieren, mindestens mittelfristig. Und damit sind wir beim Thema Reiten.
Denn bei kaum etwas ist Autorität ohne autoritäres Verhalten so wichtig wie beim Reiten. Und kaum etwas hilft uns so, dies einzuüben. Weshalb ich ja auch immer wieder (und auch immer wieder ungefragt) denen empfehle, reiten zu lernen, die Menschen führen wollen.
Dabei kommt es nicht darauf an, eine gute Reiterin zu werden. Ich selbst bin auch in den vielen Jahren, die ich inzwischen reite, kein guter Reiter geworden. Sondern ein ok-er Reiter, der nicht mehr runterfällt, auch wenn das Pferd mal durchgeht oder wegspringt, der meistens schafft, dass das Pferd ihm vertraut und erkennt, wo er es hinhaben will.
Darauf kommt es ja auch bei Führung an: Dass ich nicht aus der Bahn falle, wenn mal was daneben geht. Und dass ich meinem Teams, meinen Leuten die Sicherheit gebe, dass sie wissen, was ich von ihnen erwarte. Und dass sie mir vertrauen.
Interessanterweise gelingt es mir, wenn ich das Vertrauen meines Pferdes habe, auch hin und wieder autoritär etwas durchzusetzen, es zu zwingen, etwas zu tun, was es so gar nicht will. Aber das Vertrauen, das es in mich hat, ist dabei eine conditio sine qua non. Und wird leicht erschüttert. Es passiert also das, was wir in der Krisenkommunikation "Vertrauen kapitalisieren" nennen:
Das aufgebaute Vertrauen in die Waagschale werfend, zwinge ich dem mächtigen, übermächtigen Wesen meinen Willen auf. Aber nur, wenn ich es hinterher lobe, streichele, schmuse, ihm Sicherheit gebe, es sich bei mir anlehnen lasse, gewinne ich das Vertrauen meines Pferdes zurück.
Was Reiterinnen und Reiter wissen, ist, dass sie eigentlich keine Chance hätten. Jetzt mal ganz realistisch betrachtet. Und darum gehen wir mit so viel Ernsthaftigkeit, Respekt und Liebe mit unseren Tieren um, behandeln sie als Partner. Und bieten ihnen etwas an, das sie selbst nicht
haben: Selbstsicherheit und einen Plan, wo es hingehen soll. Von selbst, das wissen wir, würden sie nur fressen und weglaufen. Jetzt mal etwas holzschnittartig.
Mein Pferd aber läuft auf mich zu, wenn ich auf die Weide komme. Es legt seinen Kopf in meine Hand und lässt sich das Halfter anlegen. Weil es mir vertraut und sich mir anvertraut. Und weil es auch dann, wenn ich Zwang ausübe, am Ende nicht reingefallen ist. Das Gespenst hinter dem Busch, das es vermutet hatte, war doch nicht da, als es schließlich daran vorbei ging.
Starke Führung setzt auf Autorität und Vertrauen.
Manchmal geht es dann trotzdem, dass ich einfach nur darauf hinweise, dass "oben unten sticht". Denn manchmal ist es eben so. Dann sticht oben unten. Sozusagen autoritär. Was aber nicht das gleiche ist wie Autorität. Im Gegenteil: wer zu oft autoritär ist, wird Autorität verlieren, mindestens mittelfristig. Und damit sind wir beim Thema Reiten.
Denn bei kaum etwas ist Autorität ohne autoritäres Verhalten so wichtig wie beim Reiten. Und kaum etwas hilft uns so, dies einzuüben. Weshalb ich ja auch immer wieder (und auch immer wieder ungefragt) denen empfehle, reiten zu lernen, die Menschen führen wollen.
Dabei kommt es nicht darauf an, eine gute Reiterin zu werden. Ich selbst bin auch in den vielen Jahren, die ich inzwischen reite, kein guter Reiter geworden. Sondern ein ok-er Reiter, der nicht mehr runterfällt, auch wenn das Pferd mal durchgeht oder wegspringt, der meistens schafft, dass das Pferd ihm vertraut und erkennt, wo er es hinhaben will.
Darauf kommt es ja auch bei Führung an: Dass ich nicht aus der Bahn falle, wenn mal was daneben geht. Und dass ich meinem Teams, meinen Leuten die Sicherheit gebe, dass sie wissen, was ich von ihnen erwarte. Und dass sie mir vertrauen.
Interessanterweise gelingt es mir, wenn ich das Vertrauen meines Pferdes habe, auch hin und wieder autoritär etwas durchzusetzen, es zu zwingen, etwas zu tun, was es so gar nicht will. Aber das Vertrauen, das es in mich hat, ist dabei eine conditio sine qua non. Und wird leicht erschüttert. Es passiert also das, was wir in der Krisenkommunikation "Vertrauen kapitalisieren" nennen:
Das aufgebaute Vertrauen in die Waagschale werfend, zwinge ich dem mächtigen, übermächtigen Wesen meinen Willen auf. Aber nur, wenn ich es hinterher lobe, streichele, schmuse, ihm Sicherheit gebe, es sich bei mir anlehnen lasse, gewinne ich das Vertrauen meines Pferdes zurück.
Was Reiterinnen und Reiter wissen, ist, dass sie eigentlich keine Chance hätten. Jetzt mal ganz realistisch betrachtet. Und darum gehen wir mit so viel Ernsthaftigkeit, Respekt und Liebe mit unseren Tieren um, behandeln sie als Partner. Und bieten ihnen etwas an, das sie selbst nicht
haben: Selbstsicherheit und einen Plan, wo es hingehen soll. Von selbst, das wissen wir, würden sie nur fressen und weglaufen. Jetzt mal etwas holzschnittartig.
Mein Pferd aber läuft auf mich zu, wenn ich auf die Weide komme. Es legt seinen Kopf in meine Hand und lässt sich das Halfter anlegen. Weil es mir vertraut und sich mir anvertraut. Und weil es auch dann, wenn ich Zwang ausübe, am Ende nicht reingefallen ist. Das Gespenst hinter dem Busch, das es vermutet hatte, war doch nicht da, als es schließlich daran vorbei ging.
Starke Führung setzt auf Autorität und Vertrauen.
23.8.13
Es war eine schöne Zeit
Das war es wirklich. Wie die eine oder andere nachrechnen kann, war ich in den 70er Jahren Kind und in den 80er Jahren Jugendlicher. Die 70er sind gerade in der merkwürdig verrutschten Pädophilie-Debatte ähnlich verzerrt wie die 80er in der über politische Bewusstwerdung und Frauendings.
Dabei war es eine tolle Zeit, in die ich hineingeboren wurde. Und eine tolle Szene. Und manchmal denke ich wehmütig, dass ich meinen Kindern gönnen würde, einiges davon zu erleben wie ich es erlebt hatte als Kind. Auch wenn ich weiß, dass vieles von heute aus betrachtet (oder auch nur aus dem Blickwinkel von schon nur zehn Jahre Jüngeren) sehr merkwürdig und fremd anmutet.
Jede wird wohl einige besonders starke und nachhaltige Erinnerungen an Kindheit und Jugend haben, nehme ich an. Bei mir sind sie sehr geprägt von den Menschen, mit denen meine Familie befreundet war, und den Bewegungen, in denen ich aufwuchs. Beides hat mich, wie ich heute weiß, sehr geprägt. Interessanterweise kommt dieses immer mehr zu tragen, je älter ich werde.
Da ist zum einen der Feminismus der zweiten Welle der Frauenbewegung. Frauen und Männer, oft die Männer, mit denen die Frauen, die in meiner Umgebung das Thema vorantrugen, verheiratet waren und ein neues Leben ausprobierten. Eine neue Sprache. Meine eigene Familie war da eher am Rande, denn das mit dem Leben ging so nicht. Meine Mutter hasste den Beruf, in den sie ihr Vater in den 60ern gedrängt hatte - und gab den so früh es ging auf. Also als ich geboren wurde. Und während unsere Familie (Vater, Mutter, Sohn Tochter, Vater voll berufstätig, Mutter "zu Hause") äußerlich geradezu klassisch für die frühen 70er war, waren es eben Frauen wie meine Mutter und ihre Freundinnen, die sich mit der "Frauenfrage" massiv auseinandersetzten. Die den unideologischen Teil der Kinderladenbewegung prägten. Die ehrenamtlich aktiv wurden. Diese Zwischengeneration. Etwas zu jung für die 68er, vor allem aber da schon mit Verantwortung für Kinder als andere sich radikalisierten und in den Untergrund gingen. Von solchen war nur immer mal die Rede, kennengelernt habe ich keine (mehr).
Vielleicht ist es nicht ganz typisch für Menschen in meinem Alter, vielleicht, weil meine Eltern so jung waren als ich kam. Aber ich habe tatsächlich in der Familie und im Freundinnenkreis und in den Bewegungen, in die meine Eltern uns Kinder immer mitgenommen haben (Bunte Liste, Dritte-Welt-Arbeit, Anti-AKW- und Anti-Gorleben-, später die Friedensbewegung), einen Umgang und eine Sprache kennen gelernt, die anders waren als das, was ich dann erleben musste, als ich erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche verließ. Ende der 90er. Eine Selbstverständlichkeit von - wie es damals hieß - "geschlechtergerechter Sprache" beispielsweise. Es war eine schöne Zeit, in der ich feministische Lebens- und Gesellschaftsentwürfe als den Normalzustand erlebte und kennen lernte. Die normal waren und darum nicht kämpferisch oder aggressiv. In denen ich unter dem Tisch sitzend und spielend schon früh die Diskussionen verfolgte und aufsaugte. Das ist es wohl auch, was mich heute so ungeduldig macht. Und was in den letzten Jahren zu meiner Reradikalisierung führte in diesen Fragen. Dass meine Kindheit so wirkt, als wäre sie aus der Zukunft. Wenn ich mir die jungen Leute anhöre oder die älteren, die offenbar lange unter einem Stein lebten.
Und dann auch das andere Thema. Ich nenne das ja gerne analog zum Fachbegriff, mit dem bezeichnet wird, wie wir unsere Pferde halten, "Robustkinderhaltung". An Wochenenden mit Freundinnen und Freunden und der weiteren Familie waren wir Kinder auf uns gestellt, butscherten rum, machten Feuer, kenterten mit selbstgebauten Flößen auf den Dorfteichen, waren laut, dreckig und sehr oft nackt.
Heute kommt es mir komisch vor, wenn Kinder oder gar Erwachsene nackt oder fast nackt in der Gegend rumrennen. Damals war das normal. Zumindest in unseren Szenen. Die übrigens nicht links-grün waren. Sondern kirchlich. Mit einer Faszination für Befreiungsbewegungen. Und einer Aversion gegen Uniformen. Von den Parkas wurden die Flaggen abgetrennt. Ich bin mir relativ sicher (so sicher, wie ich mir bei etwas aus der Kindheit sein kann), dass in unseren Szenen undenkbar und unakzeptabel war, was als Exzesse und Verbrechen an Kindern in der Debatte über Pädophilie in linken und liberalen Ecken in den 70ern und 80ern zu Tage kommt. Und ich habe auch kein Verständnis dafür. Zugleich ist für jüngere Menschen und ältere, die den Aufbruch in eine andere Freiheit (und das war der Kontext ja tatsächlich, in dem es dann ebenfalls - wie überall - Perverse und Verbrecher gab) nicht mitmachten, wahrscheinlich schwer zu verstehen, dass es eine Zeit gab, in der Körperlichkeit nicht sofort mit Sexualität einherging. Ein lahmer Abklatsch davon ist vielleicht heute noch, dass es in meiner Umgebung durchaus üblich ist, einander in den Arm zu nehmen. Auch Männer andere Männer und Männer Frauen - ohne dass das sexuelle oder erotische Konnotationen hat.
Natürliche Körperlichkeit ohne Pornochick. Schwer vorzustellen aus heutiger Zeit. Aber nichts, wofür sich jemand entschuldigen muss oder was ich im Nachhinein als unangenehm empfände. Für uns war es beispielsweise auch selbstverständlich, mit Mädchen zu spielen. Was für Jungs heute oft undenkbar ist, sobald sie in die Schule kommen.
Es war eine schöne Zeit, voller Freiheit und Dreck und Lärm und Langeweile und langem Aufbleiben und ohne Eltern, die sich dauernd um uns kümmerten. Und es erschreckt mich, dass es auch in dieser von mir als wunderbar erlebten Kindheit zu den gleichen Exzessen und Verbrechen kam wie in den von Repression geprägten Umgebungen. Das ist nicht zu entschuldigen und wirft einen Schatten. Macht aber die Häme und den Hass von soSpinnern Publizisten wie Christian Füller nicht erträglicher. Vielleicht hatten die einfach keine so schöne Zeit?
Dabei war es eine tolle Zeit, in die ich hineingeboren wurde. Und eine tolle Szene. Und manchmal denke ich wehmütig, dass ich meinen Kindern gönnen würde, einiges davon zu erleben wie ich es erlebt hatte als Kind. Auch wenn ich weiß, dass vieles von heute aus betrachtet (oder auch nur aus dem Blickwinkel von schon nur zehn Jahre Jüngeren) sehr merkwürdig und fremd anmutet.
Jede wird wohl einige besonders starke und nachhaltige Erinnerungen an Kindheit und Jugend haben, nehme ich an. Bei mir sind sie sehr geprägt von den Menschen, mit denen meine Familie befreundet war, und den Bewegungen, in denen ich aufwuchs. Beides hat mich, wie ich heute weiß, sehr geprägt. Interessanterweise kommt dieses immer mehr zu tragen, je älter ich werde.
Da ist zum einen der Feminismus der zweiten Welle der Frauenbewegung. Frauen und Männer, oft die Männer, mit denen die Frauen, die in meiner Umgebung das Thema vorantrugen, verheiratet waren und ein neues Leben ausprobierten. Eine neue Sprache. Meine eigene Familie war da eher am Rande, denn das mit dem Leben ging so nicht. Meine Mutter hasste den Beruf, in den sie ihr Vater in den 60ern gedrängt hatte - und gab den so früh es ging auf. Also als ich geboren wurde. Und während unsere Familie (Vater, Mutter, Sohn Tochter, Vater voll berufstätig, Mutter "zu Hause") äußerlich geradezu klassisch für die frühen 70er war, waren es eben Frauen wie meine Mutter und ihre Freundinnen, die sich mit der "Frauenfrage" massiv auseinandersetzten. Die den unideologischen Teil der Kinderladenbewegung prägten. Die ehrenamtlich aktiv wurden. Diese Zwischengeneration. Etwas zu jung für die 68er, vor allem aber da schon mit Verantwortung für Kinder als andere sich radikalisierten und in den Untergrund gingen. Von solchen war nur immer mal die Rede, kennengelernt habe ich keine (mehr).
Vielleicht ist es nicht ganz typisch für Menschen in meinem Alter, vielleicht, weil meine Eltern so jung waren als ich kam. Aber ich habe tatsächlich in der Familie und im Freundinnenkreis und in den Bewegungen, in die meine Eltern uns Kinder immer mitgenommen haben (Bunte Liste, Dritte-Welt-Arbeit, Anti-AKW- und Anti-Gorleben-, später die Friedensbewegung), einen Umgang und eine Sprache kennen gelernt, die anders waren als das, was ich dann erleben musste, als ich erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche verließ. Ende der 90er. Eine Selbstverständlichkeit von - wie es damals hieß - "geschlechtergerechter Sprache" beispielsweise. Es war eine schöne Zeit, in der ich feministische Lebens- und Gesellschaftsentwürfe als den Normalzustand erlebte und kennen lernte. Die normal waren und darum nicht kämpferisch oder aggressiv. In denen ich unter dem Tisch sitzend und spielend schon früh die Diskussionen verfolgte und aufsaugte. Das ist es wohl auch, was mich heute so ungeduldig macht. Und was in den letzten Jahren zu meiner Reradikalisierung führte in diesen Fragen. Dass meine Kindheit so wirkt, als wäre sie aus der Zukunft. Wenn ich mir die jungen Leute anhöre oder die älteren, die offenbar lange unter einem Stein lebten.
Und dann auch das andere Thema. Ich nenne das ja gerne analog zum Fachbegriff, mit dem bezeichnet wird, wie wir unsere Pferde halten, "Robustkinderhaltung". An Wochenenden mit Freundinnen und Freunden und der weiteren Familie waren wir Kinder auf uns gestellt, butscherten rum, machten Feuer, kenterten mit selbstgebauten Flößen auf den Dorfteichen, waren laut, dreckig und sehr oft nackt.
Heute kommt es mir komisch vor, wenn Kinder oder gar Erwachsene nackt oder fast nackt in der Gegend rumrennen. Damals war das normal. Zumindest in unseren Szenen. Die übrigens nicht links-grün waren. Sondern kirchlich. Mit einer Faszination für Befreiungsbewegungen. Und einer Aversion gegen Uniformen. Von den Parkas wurden die Flaggen abgetrennt. Ich bin mir relativ sicher (so sicher, wie ich mir bei etwas aus der Kindheit sein kann), dass in unseren Szenen undenkbar und unakzeptabel war, was als Exzesse und Verbrechen an Kindern in der Debatte über Pädophilie in linken und liberalen Ecken in den 70ern und 80ern zu Tage kommt. Und ich habe auch kein Verständnis dafür. Zugleich ist für jüngere Menschen und ältere, die den Aufbruch in eine andere Freiheit (und das war der Kontext ja tatsächlich, in dem es dann ebenfalls - wie überall - Perverse und Verbrecher gab) nicht mitmachten, wahrscheinlich schwer zu verstehen, dass es eine Zeit gab, in der Körperlichkeit nicht sofort mit Sexualität einherging. Ein lahmer Abklatsch davon ist vielleicht heute noch, dass es in meiner Umgebung durchaus üblich ist, einander in den Arm zu nehmen. Auch Männer andere Männer und Männer Frauen - ohne dass das sexuelle oder erotische Konnotationen hat.
Natürliche Körperlichkeit ohne Pornochick. Schwer vorzustellen aus heutiger Zeit. Aber nichts, wofür sich jemand entschuldigen muss oder was ich im Nachhinein als unangenehm empfände. Für uns war es beispielsweise auch selbstverständlich, mit Mädchen zu spielen. Was für Jungs heute oft undenkbar ist, sobald sie in die Schule kommen.
Es war eine schöne Zeit, voller Freiheit und Dreck und Lärm und Langeweile und langem Aufbleiben und ohne Eltern, die sich dauernd um uns kümmerten. Und es erschreckt mich, dass es auch in dieser von mir als wunderbar erlebten Kindheit zu den gleichen Exzessen und Verbrechen kam wie in den von Repression geprägten Umgebungen. Das ist nicht zu entschuldigen und wirft einen Schatten. Macht aber die Häme und den Hass von so
7.8.13
Merkels Kinder
Obwohl ich von ihm nur auf einer Sommerakademie der Studienstiftung lernen konnte und er für mich ja sozusagen fachfremd ist, gehört Werner Durth zu meinen wichtigsten Lehrerinnen. Vor allem über Kontinuitäten in Lebensläufen und so weiter habe ich viel von ihm gelernt. Andere Geschichte. Und darüber, warum Diktaturen für Architekten großartig sind. Weil sie Spielräume schaffen. Germania planen zu dürfen, war für viele der späteren Stars der 50er sehr aufregend.
"Entwickler lieben Apple", sagte einer neulich zu mir, der sich mit einer kleinen Anwendung rumschlagen musste, die auf iPhone und Android funktionieren sollte. Alles sei klar geregelt und einheitlich. Das, was ich immer "Cuba" nenne: eine Diktatur, in der die Sonne scheint. In der ich mich wohlfühlen kann, wenn ich mich hinreichend anpasse. Apple ist Cuba.
Und die Technokratie Merkel'scher Prägung hat irgendwie auch was von Cuba. Und bringt merkwürdige Kinder hervor, die sich durch einen irritierenden Technik- oder Wissenschaftspositivismus auszeichnen. Was schließlich doch noch die Kurve kriegt zur "Alternative für Deutschland", über die ich eigentlich gar nicht schreiben wollte. An deren verstörenden Plakaten ich aber vorbei laufe jeden Tag.
Was mich rund um diese Hochschulprofessoren, die eine unscharf profilierte Expertenpartei gegründet haben, die gesamte Zeit umtreibt, ist etwas Ähnliches wie bei den Piraten (ja, wilde Umleitung, löst sich gleich auf, versprochen). Als jemand, dem intellektuelle Demut auch selbst sehr fremd ist, kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, wie jemand auf die Idee kommen kann, man müsse nur mal die richtigen, die schlauen Leute ranlassen, so richtige Expertinnen, und dann würde alles flutschen. Geht mir dauernd so.
Aber im Kern ist dies Technokratie oder Expertokratie. Und das Gegenteil von Demokratie. Ja, man kann sehr unglücklich werden angesichts von Demokratie. Ich auch, wenn ich sehe, dass die Massen mehr Angst vor einem Veggie-Day haben als vor der Abschaffung der Demokratie und Freiheit.
Das, was die "Alternative für Deutschland" mit den "Piraten" gemeinsam auszeichnet, ist doch gerade dieser Anspruch der Technokratie. Die Vorstellung, es gebe eine objektive, geradezu "naturgesetzliche" Wahrheit und einen richtigen Weg, der nur umgesetzt werden müsse. Lasst die Techniker oder die Wirtschaftswissenschaftlerinnen ran - und alles flutscht. Eine geradezu katholische Haltung, obwohl die auch schon ein bisschen von ihren naturrechtlichen Ansätzen abgerückt sind, wenn ich das richtig übersehe.
Das Interessante ist aus meiner Sicht, dass beide im Kern unpolitischen Protestparteien dabei gleichzeitig (1) die Sehnsucht vieler Menschen in meiner Umgebung nach mehr Kompetenz bedienen und (2) voll auf der Linie Merkels sind, die nahezu perfekt die Mischung aus asymmetrischer Demobilisierung und technokratisch-wissenschaftlich begründeter scheinbarer Alternativlosigkeit beherrscht.
So betrachtet sind Piraten und AfD beide "Merkels Kinder". Geprägt und politisiert von der Erfahrung unter ihrer Kanzlerinnenschaft, beide weitgehend ohne Gestaltungsanspruch, beide mit der Vorstellung, es gebe einen objektiv richtigen Weg. Also beide genau so, wie Merkel agiert und regiert. Ja, beide in unterschiedlicher Ausprägung, so unterschiedlich sogar, dass es schwer fällt, sie auch nur gemeinsam zu nennen - aber ich finde die Gemeinsamkeiten verblüffend. Zumal sie noch etwas gemeinsam haben: Ich finde es schwer erträglich, wie sie die Technokratie oder Expertokratie der Demokratie vorziehen. Und ich finde sie gleich unwählbar.
Eine Vorliebe für Cuba ist keine Frage des Alters. Und Pubertät auch nicht.
"Entwickler lieben Apple", sagte einer neulich zu mir, der sich mit einer kleinen Anwendung rumschlagen musste, die auf iPhone und Android funktionieren sollte. Alles sei klar geregelt und einheitlich. Das, was ich immer "Cuba" nenne: eine Diktatur, in der die Sonne scheint. In der ich mich wohlfühlen kann, wenn ich mich hinreichend anpasse. Apple ist Cuba.
Und die Technokratie Merkel'scher Prägung hat irgendwie auch was von Cuba. Und bringt merkwürdige Kinder hervor, die sich durch einen irritierenden Technik- oder Wissenschaftspositivismus auszeichnen. Was schließlich doch noch die Kurve kriegt zur "Alternative für Deutschland", über die ich eigentlich gar nicht schreiben wollte. An deren verstörenden Plakaten ich aber vorbei laufe jeden Tag.
Was mich rund um diese Hochschulprofessoren, die eine unscharf profilierte Expertenpartei gegründet haben, die gesamte Zeit umtreibt, ist etwas Ähnliches wie bei den Piraten (ja, wilde Umleitung, löst sich gleich auf, versprochen). Als jemand, dem intellektuelle Demut auch selbst sehr fremd ist, kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, wie jemand auf die Idee kommen kann, man müsse nur mal die richtigen, die schlauen Leute ranlassen, so richtige Expertinnen, und dann würde alles flutschen. Geht mir dauernd so.
Aber im Kern ist dies Technokratie oder Expertokratie. Und das Gegenteil von Demokratie. Ja, man kann sehr unglücklich werden angesichts von Demokratie. Ich auch, wenn ich sehe, dass die Massen mehr Angst vor einem Veggie-Day haben als vor der Abschaffung der Demokratie und Freiheit.
Das, was die "Alternative für Deutschland" mit den "Piraten" gemeinsam auszeichnet, ist doch gerade dieser Anspruch der Technokratie. Die Vorstellung, es gebe eine objektive, geradezu "naturgesetzliche" Wahrheit und einen richtigen Weg, der nur umgesetzt werden müsse. Lasst die Techniker oder die Wirtschaftswissenschaftlerinnen ran - und alles flutscht. Eine geradezu katholische Haltung, obwohl die auch schon ein bisschen von ihren naturrechtlichen Ansätzen abgerückt sind, wenn ich das richtig übersehe.
Das Interessante ist aus meiner Sicht, dass beide im Kern unpolitischen Protestparteien dabei gleichzeitig (1) die Sehnsucht vieler Menschen in meiner Umgebung nach mehr Kompetenz bedienen und (2) voll auf der Linie Merkels sind, die nahezu perfekt die Mischung aus asymmetrischer Demobilisierung und technokratisch-wissenschaftlich begründeter scheinbarer Alternativlosigkeit beherrscht.
So betrachtet sind Piraten und AfD beide "Merkels Kinder". Geprägt und politisiert von der Erfahrung unter ihrer Kanzlerinnenschaft, beide weitgehend ohne Gestaltungsanspruch, beide mit der Vorstellung, es gebe einen objektiv richtigen Weg. Also beide genau so, wie Merkel agiert und regiert. Ja, beide in unterschiedlicher Ausprägung, so unterschiedlich sogar, dass es schwer fällt, sie auch nur gemeinsam zu nennen - aber ich finde die Gemeinsamkeiten verblüffend. Zumal sie noch etwas gemeinsam haben: Ich finde es schwer erträglich, wie sie die Technokratie oder Expertokratie der Demokratie vorziehen. Und ich finde sie gleich unwählbar.
Eine Vorliebe für Cuba ist keine Frage des Alters. Und Pubertät auch nicht.
6.8.13
Ein neuer Baum
Nachdem einige von uns so langsam wieder aus der Schockstarre aufwachen und zornig werden, ich selbst ja auch neulich mit der Frage, ob das schon der Anlass zum Widerstand sei, finde ich es an der Zeit, einmal nach vorne zu denken.
Und dabei hilft ein Blick zurück. Ich zumindest kann mich noch an Zeiten liberaler Innenminister erinnern. Gerhard Baum beispielsweise. Mit der geistig-moralischen Wende des Helmut K. hörte das auf. Es kam Zimmermann.
Nun lässt sich nicht sagen, dass Liberale (Grüne und FDP) sich in Fragen der Sicherheitshysterie mit Ruhm bekleckert hätten, lest noch mal Nicos Text dazu. Dennoch möchte ich mir nicht ausmalen müssen, was 2002ff passiert wäre, wenn Schily nicht von den alten Parteifreunden hin und wieder ausgebremst worden wäre. Oder wenn jetzt nicht die Justizministerin wäre.
Wenn der Innenminister ("Verfassungsminister") im Gleichschritt mit dem Chef der Polizeigewerkschaft ein bekennender Verfassungsfeind ("Supergrundrecht Sicherheit") ist, nutzt es auch nichts, dass der breiten Mehrheit in diesem Land das Thema Freiheitsrechte am Allerwertesten vorbei geht. Allerdings finde ich es dabei eher niedlich, wenn auf Gestapo und Stasi verwiesen wird, um anzumerken, dass wir doch besonders sensibel sein müssten. Mein Verdacht ist ja eher, dass Gestapo und Stasi aus exakt dem Grund so gut funktionierten, aus dem sich auch jetzt das Desinteresse am Aushöhlen unserer Demokratie speist. Aber das ist vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Die die Frage der Legitimität von Widerstand aufwirft, die ich aber nicht stellen will und werde, weil sich alles in mir dagegen sträubt.
Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Und Parteien, denen die Verfassung wichtig ist, werden jeweils unter 15% bleiben. Aber: es sieht alles danach aus, als ob auch die nächste Regierung von einer dieser Parteien mitgetragen werden wird. Und hier sehe ich eine Chance. Ich wünsche mir, dass sowohl die FDP als auch die Grünen für eine Koalition darauf bestehen, die nächste Innenministerin zu stellen. Dass diese Ministerin wieder vor allem für den Rechtsstaat und die Verfassung zuständig ist und nicht nur für die Polizei. So von der Haltung her.
Wäre das nicht ein Deal? Vielleicht wäre es sogar ein Rettungsprogramm für die FDP (oh Gott und das von mir) - dass sie sich festlegt auf das Innenministerium, ohne das sie in keine Koalition geht. Und bei den Grünen werde ich auch für diese Idee werben.
Was denkt ihr?
Und dabei hilft ein Blick zurück. Ich zumindest kann mich noch an Zeiten liberaler Innenminister erinnern. Gerhard Baum beispielsweise. Mit der geistig-moralischen Wende des Helmut K. hörte das auf. Es kam Zimmermann.
Nun lässt sich nicht sagen, dass Liberale (Grüne und FDP) sich in Fragen der Sicherheitshysterie mit Ruhm bekleckert hätten, lest noch mal Nicos Text dazu. Dennoch möchte ich mir nicht ausmalen müssen, was 2002ff passiert wäre, wenn Schily nicht von den alten Parteifreunden hin und wieder ausgebremst worden wäre. Oder wenn jetzt nicht die Justizministerin wäre.
Wenn der Innenminister ("Verfassungsminister") im Gleichschritt mit dem Chef der Polizeigewerkschaft ein bekennender Verfassungsfeind ("Supergrundrecht Sicherheit") ist, nutzt es auch nichts, dass der breiten Mehrheit in diesem Land das Thema Freiheitsrechte am Allerwertesten vorbei geht. Allerdings finde ich es dabei eher niedlich, wenn auf Gestapo und Stasi verwiesen wird, um anzumerken, dass wir doch besonders sensibel sein müssten. Mein Verdacht ist ja eher, dass Gestapo und Stasi aus exakt dem Grund so gut funktionierten, aus dem sich auch jetzt das Desinteresse am Aushöhlen unserer Demokratie speist. Aber das ist vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Die die Frage der Legitimität von Widerstand aufwirft, die ich aber nicht stellen will und werde, weil sich alles in mir dagegen sträubt.
Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Und Parteien, denen die Verfassung wichtig ist, werden jeweils unter 15% bleiben. Aber: es sieht alles danach aus, als ob auch die nächste Regierung von einer dieser Parteien mitgetragen werden wird. Und hier sehe ich eine Chance. Ich wünsche mir, dass sowohl die FDP als auch die Grünen für eine Koalition darauf bestehen, die nächste Innenministerin zu stellen. Dass diese Ministerin wieder vor allem für den Rechtsstaat und die Verfassung zuständig ist und nicht nur für die Polizei. So von der Haltung her.
Wäre das nicht ein Deal? Vielleicht wäre es sogar ein Rettungsprogramm für die FDP (oh Gott und das von mir) - dass sie sich festlegt auf das Innenministerium, ohne das sie in keine Koalition geht. Und bei den Grünen werde ich auch für diese Idee werben.
Was denkt ihr?
26.7.13
Das Ende der Mangelmedien
Diese Woche wird uns später als die Woche in Erinnerung bleiben, in der das Ende der Medien offensichtlich wurde, deren Modell darauf beruhte, dass Raum oder Zeit knapp und ein Mangel war. Offensichtlich auch für die, die sich bisher nicht so intensiv damit beschäftigt haben.
Erst stellt Google ein USB-Stick-großes Dingens vor. Und dann verkaufte (oder präzise: versucht zu verkaufen) Axel Springer fast alle seine Print-Titel. Letzteres mit enormem Echo in meinem mediennahen Resonanzraum und initialer Schockstarre bei fast allen Journalistinnen oder Ex-Journalistinnen in meinem Umfeld. Ersteres, so scheint mir, noch fast unter dem Radar.
Warum soll dies das Ende der alten Medien sein?
Mehr noch als den Abschied Springers von Print (dazu gleich) stellt meines Erachtens das kleine, billige Gerätchen, das an den HDMI-Anschluss des großen wohnzimmerdominierenden Bildschirms gedongelt werden kann, den größten Schritt zur Veränderung der Mediennutzung dar seit der massenweisen Einführung von Kameras, die dauernd online sind (Smartphones). Denn damit wird nun endlich für viele Menschen dieser große Bildschirm von seiner Abhängigkeit vom Zeitmangel befreit.
Lineares TV (also bewegte Bilder, die an einem vom Sender definierten Zeitpunkt übermittelt werden, we called this früher "Fernsehen". Früher, als man fett noch mit o geschrieben hat*) überlebte die letzten Jahre trotz seiner eigentlich absurden Eigenschaften vor allem deshalb, weil die allermeisten Leute nicht in der Lage waren, die Inhalte auf den zentralen Bildschirm ihrer Wohnung zu bekommen, die sie wirklich interessieren. Einige von uns experimentierten mit Apple-TV, aber eigentlich ist das doof - denn es geht nur mit Apple. Und nur mit iTunes. Und iTunes ist inzwischen doof, weil es nicht mehr wirklich mit Medienservern zusammenarbeitet und so weiter. Technikgedöns. Am Ende hat bisher nur die Bequemlichkeit ein an sich kaputtes Medienkonzept gerettet. Denn logisch ist es schon lange nicht mehr.
Wenn dieses HDMI-Dongel von Google tatsächlich kann, was sie behaupten, wäre dies der Einstieg darein, dass der große Bildschirm nicht mehr von Mangel bestimmt wird (dem herausragenden Merkmal linearen TVs - limitierte Sendezeit, limitierte Sender, limitierte DVD-Sammlung) sondern von der Fülle des prinzipiell unendlich großen Speicherraumes Internet.
Für Deutschland heißt das schon in sehr naher Zukunft (also noch dieses Jahr) aus meiner Sicht, dass die ohnehin schon gigantische Reichweite der neuen Sender, die aus dem Zusammenschluss von Künstlerinnen auf YouTube entstanden sind (Ponk, Magnolia etc), weiter explodieren - und vor allem den zentralen Bildschirm der Wohnung erobern wird. Heute schon haben diese neuen Sender eine höhere Reichweite als die klassischen TV-Sender-Familien. Und das bisher noch ohne den großen Bildschirm.
Die linearen TV-Anbieter haben sich ja darauf schon lange eingestellt, indem sie sich auf die einzige Systemstärke ihres Modells zurück besonnen haben: Dass es auf elegante Weise ermöglicht, "fern" zu "sehen". Event-Fernsehen (Livesport, Liveshows etc) sehe ich als einzige echte Chance und Nische dieser Sender.
Und was ist mit Tee?
Einen Tag später dann verabschiedet sich Springer von Print. Und behält nur die Print-Titel, die sie mehr oder weniger erfolgreich zu multimedialen Marken ausgebaut haben. Der Kaufpreis, der dem zehnfachen Gewinn dieses Bereichs entspricht, legt nahe, dass Springer Print keine zehn Jahre mehr gibt.
Nun ist Print an sich nicht tot. Im Gegenteil. Aber der Teil von Print, der sein Modell auf Mangel (an Zeit, an Papier etc) aufbaute, ist irrelevant geworden. Warum eine Auswahl alter Nachrichten auf Papier? Wofür sollen wir mittelfristig noch Zeitschriften brauchen, die durch lineares TV navigieren (siehe oben)? Was soll eine veraltete Auswahl statischer Abbildungen von Entertrainment-Inhalten, die von den Stars vor mehreren Tagen selbst via Tumblr, Instagram, Facebook und Co veröffentlicht worden sind?
Man muss Springer nicht mögen, um anzuerkennen, dass sie dort nicht dumm sind. Ich bin unsicher, ob sie erfolgreich sein können mit dem, was sie da versuchen - aber sie haben erkannt, dass sie jetzt die Reißleine ziehen müssen. Und allen anderen deutlich gemacht, dass Medien in Zukunft nicht auf dem Modell "Mangel" werden basieren können.
tl;dr
Lineares TV und Print haben weitere Sargnägel verpasst bekommen. Und Springer weiß das.
* komplett ohne einen tieferen Sinn. Ich liebe diesen Spruch, den meine Schwiegermutter von ihrer Großmutter, Pfarrfrau in Hessen, hat.
Erst stellt Google ein USB-Stick-großes Dingens vor. Und dann verkaufte (oder präzise: versucht zu verkaufen) Axel Springer fast alle seine Print-Titel. Letzteres mit enormem Echo in meinem mediennahen Resonanzraum und initialer Schockstarre bei fast allen Journalistinnen oder Ex-Journalistinnen in meinem Umfeld. Ersteres, so scheint mir, noch fast unter dem Radar.
Warum soll dies das Ende der alten Medien sein?
Mehr noch als den Abschied Springers von Print (dazu gleich) stellt meines Erachtens das kleine, billige Gerätchen, das an den HDMI-Anschluss des großen wohnzimmerdominierenden Bildschirms gedongelt werden kann, den größten Schritt zur Veränderung der Mediennutzung dar seit der massenweisen Einführung von Kameras, die dauernd online sind (Smartphones). Denn damit wird nun endlich für viele Menschen dieser große Bildschirm von seiner Abhängigkeit vom Zeitmangel befreit.
Lineares TV (also bewegte Bilder, die an einem vom Sender definierten Zeitpunkt übermittelt werden, we called this früher "Fernsehen". Früher, als man fett noch mit o geschrieben hat*) überlebte die letzten Jahre trotz seiner eigentlich absurden Eigenschaften vor allem deshalb, weil die allermeisten Leute nicht in der Lage waren, die Inhalte auf den zentralen Bildschirm ihrer Wohnung zu bekommen, die sie wirklich interessieren. Einige von uns experimentierten mit Apple-TV, aber eigentlich ist das doof - denn es geht nur mit Apple. Und nur mit iTunes. Und iTunes ist inzwischen doof, weil es nicht mehr wirklich mit Medienservern zusammenarbeitet und so weiter. Technikgedöns. Am Ende hat bisher nur die Bequemlichkeit ein an sich kaputtes Medienkonzept gerettet. Denn logisch ist es schon lange nicht mehr.
Wenn dieses HDMI-Dongel von Google tatsächlich kann, was sie behaupten, wäre dies der Einstieg darein, dass der große Bildschirm nicht mehr von Mangel bestimmt wird (dem herausragenden Merkmal linearen TVs - limitierte Sendezeit, limitierte Sender, limitierte DVD-Sammlung) sondern von der Fülle des prinzipiell unendlich großen Speicherraumes Internet.
Für Deutschland heißt das schon in sehr naher Zukunft (also noch dieses Jahr) aus meiner Sicht, dass die ohnehin schon gigantische Reichweite der neuen Sender, die aus dem Zusammenschluss von Künstlerinnen auf YouTube entstanden sind (Ponk, Magnolia etc), weiter explodieren - und vor allem den zentralen Bildschirm der Wohnung erobern wird. Heute schon haben diese neuen Sender eine höhere Reichweite als die klassischen TV-Sender-Familien. Und das bisher noch ohne den großen Bildschirm.
Die linearen TV-Anbieter haben sich ja darauf schon lange eingestellt, indem sie sich auf die einzige Systemstärke ihres Modells zurück besonnen haben: Dass es auf elegante Weise ermöglicht, "fern" zu "sehen". Event-Fernsehen (Livesport, Liveshows etc) sehe ich als einzige echte Chance und Nische dieser Sender.
Und was ist mit Tee?
Einen Tag später dann verabschiedet sich Springer von Print. Und behält nur die Print-Titel, die sie mehr oder weniger erfolgreich zu multimedialen Marken ausgebaut haben. Der Kaufpreis, der dem zehnfachen Gewinn dieses Bereichs entspricht, legt nahe, dass Springer Print keine zehn Jahre mehr gibt.
Nun ist Print an sich nicht tot. Im Gegenteil. Aber der Teil von Print, der sein Modell auf Mangel (an Zeit, an Papier etc) aufbaute, ist irrelevant geworden. Warum eine Auswahl alter Nachrichten auf Papier? Wofür sollen wir mittelfristig noch Zeitschriften brauchen, die durch lineares TV navigieren (siehe oben)? Was soll eine veraltete Auswahl statischer Abbildungen von Entertrainment-Inhalten, die von den Stars vor mehreren Tagen selbst via Tumblr, Instagram, Facebook und Co veröffentlicht worden sind?
Man muss Springer nicht mögen, um anzuerkennen, dass sie dort nicht dumm sind. Ich bin unsicher, ob sie erfolgreich sein können mit dem, was sie da versuchen - aber sie haben erkannt, dass sie jetzt die Reißleine ziehen müssen. Und allen anderen deutlich gemacht, dass Medien in Zukunft nicht auf dem Modell "Mangel" werden basieren können.
tl;dr
Lineares TV und Print haben weitere Sargnägel verpasst bekommen. Und Springer weiß das.
* komplett ohne einen tieferen Sinn. Ich liebe diesen Spruch, den meine Schwiegermutter von ihrer Großmutter, Pfarrfrau in Hessen, hat.
25.7.13
Freundschaft anders erleben – wie unsere Kinder sich die Onlinewelt erobern
Für die kleine Zeitschrift "Blickpunkt Pflegekinder" habe ich einen kleinen Beitrag geschrieben über Kinder, Eltern und das Internetzdingens. Und weil er, wie ich finde, ganz gut zu meinen Themen hier passt, kommt er hier ins Blog auch rein. Das Heft handelt insgesamt vom Thema Freundschaft. Und es wird herausgegeben von PFIFF, die sich um Pflegeeltern und ihre Pflegekinder kümmern. Eine Arbeit, die ich toll finde, zumal es in meiner Familie Tradition ist, Pflegekinder aufzunehmen. Am Ende des Beitrags habe ich auch den Originalaufsatz eingebunden, er kann auch bei Scribt runtergeladen werden.
***
Ob wir es wollen oder nicht – unsere Kinder sind online, spätestens wenn sie in die Schule kommen. In vielen Fällen nutzen sie auch zu Hause Computer, die im Internet sind. Wir sollten nicht vergessen: Für unsere Kinder sind Computer, die nicht online sind, „kaputt“, sie kennen gar keine Zeit mehr, in der es eine Offline-Nutzung von Programmen und Anwendungen auf PCs gab.
Spätestens wenn sie ihr erstes Smartphone haben (was rein statistisch auf mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen ab 13 Jahren zutrifft), koppelt sich ihre Onlinenutzung von der unseren ab, nutzen sie „das Internet“ anders als Erwachsene. Auch ohne Datenflatrate wird das Smartphone für immer mehr Kinder zum Tor zur Welt. Zuhause, in der Schule, bei Freundinnen und Freunden: wo immer sie Zugang zu einem WLAN haben, gehen sie mit ihren Geräten online. Und sei es zur Not mit der Spielekonsole.
Dadurch ändert sich die Mediennutzung dramatisch. Sie definiert sich für viele unserer Kinder neu und wird als Qualitätszeit empfunden. Parallel zum Fernsehen mit Freundinnen und Freunden zu chatten, ist die Norm. Gespräche, die auf dem Schulhof beginnen, werden per SMS (bei denen, die noch nicht immer online sind und also keine preiswertere Variante wie WhatsApp nutzen können) fortgesetzt und dann zu Hause als Chat in Facebook und Co intensiviert. Grob gesagt ist der Onlinezugang für Kinder und Jugendliche heute das, was für die meisten Erwachsenen der Elterngeneration das Telefon war: Der Zugang zu den anderen. Und so, wie es in den 70ern und 80ern Eltern gab, die das Telefon für ihre Kinder stark reglementiert haben, versuchen es heute auch viele Eltern mit dem Internet.
Grundsätzlich stimme ich dabei zu, dass es zu unserer Erziehungsaufgabe gehört, unsere Kinder in diesen Kommunikationsraum Internet zu begleiten und Grenzen und Leitplanken zu setzen. Ich erlebe nur leider sehr oft, dass genau dieses nicht geschieht – interessanterweise vor allem bei denen, die „dieses Internet“ eher ablehnen und mit ihm wenig bis nichts anfangen können. Das mündet oft in Verbote, die von den Kindern umgangen werden. Oder in eine fappierende Gleichgültigkeit, die ein Zeichen von Resignation ist. Ironischerweise ist der Internetzugang und die Nutzung des Internets als Raum, um mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu sein, in den Familien sehr viel stärker kontrolliert und reglementiert, die Facebook und YouTube offen gegenüber stehen. Wahrscheinlich, weil sie wissen, was zu tun ist – und die Kinder tatsächlich begleiten können.
Wer Kinder hat und sich nicht mit Facebook (bei den etwas älteren Kindern) und YouTube (bei allen Kindern) beschäftigt, nicht mit Minecraft oder Onlinespielen, kann sie nicht begleiten und erziehen und – um es mal sehr hart zu formulieren – versagt als Eltern in der heutigen Zeit. Wer seine Kinder damit vor der Onlinewelt beschützen will, dass sie ihnen verboten und versperrt bleibt, macht seine Kinder (bewusst oder unbewusst) zu Außenseitern. Ähnlich wie in meiner Grundschulzeit in den späten 70ern die Kinder nachmittags außen vor blieben, die noch kein Telefon hatten.
Ein Raum voller Chancen und voller Gefahren
In den Gesprächen unter Eltern dreht es sich beim Internet meistens um die Gefahren. Und diese stehen auch in den klassischen Medien im Mittelpunkt. Dass wir unsere Kinder auf diese Gefahren vorbereiten und sie zu schützen suchen, ist auch richtig und wichtig – schließlich bringen wir ihnen auch bei, nicht einfach auf die Straße zu rennen oder bei irgendwem ins Auto zu steigen. Zugleich aber erklären wir ihnen da auch die Chancen: Dass es gut ist, zur Schule zu laufen oder zu fahren, dass es richtig ist, sich den Straßenraum der Umgebung zu erobern und mit den Freundinnen und Freunden umherzustreifen – das ist unter den meisten Eltern unumstritten. Diesen Konsens auf die Onlinewelt zu übertragen, ist überfällig.
Wir wissen und haben gelernt, dass Kinder und Jugendliche, die sich sicher auf der Straße bewegen, besser vor den Gefahren des Straßenverkehrs geschützt sind. Die gleiche Erfahrung machen Eltern, die ihre Kinder die Onlinewelt erobern lassen, auch dort: Dass ihre Kinder mit den Gefahren je besser umgehen können, desto mehr sie die Chancen kennen und erleben.
Für Jugendliche ist heute Facebook (noch) einer der wichtigsten Orte, um mit ihren Freundinnen und Freunden zu sprechen, um sich selbst darzustellen, um auf Ideen zu kommen. Für Kinder und Jugendliche ist YouTube heute der wichtigste TV-Kanal mit seinen unzähligen Möglichkeiten, mir mein Programm selbst zu gestalten. Wo wir Erwachsenen zu Telefon oder zur E-Mail greifen, nutzen unsere Kinder WhatsApp und Facebook, manche auch die Chatprogramme, die zu ihrem Onlinespiel gehören. Das ist zunächst einfach einmal Fakt und weder gut noch schlecht. Schlecht wird es erst durch unsere Zuschreibung – aber wer sagt denn, dass wir auf alle Zeit Recht haben damit, dass Qualitätszeit bedeuten muss, ein Buch zu lesen? Dass es nicht auch Qualitätszeit sein kann, gemeinsam mit Freundinnen und Freunden zu blödeln (via Facebook und WhatsApp) oder komplizierte Gebäude zu errichten (in Minecraft oder League of Legend).
Nur wenn wir als Eltern die Kommunikations- und Entertainmentbedürfnisse der Kinder ernstnehmen, werden sie uns mit unseren Regeln und Grenzen ernstnehmen. Denn die müssen wir ihnen setzen.
Erlaubnisse und Grenzen
Beispielsweise erlauben wir unseren Kindern YouTube und Facebook. Aber wir setzen die Grenze bei Chatrooms wie Knuddels und Co. Wir erlauben Räume mit hoher sozialer Kontrolle – und setzen Grenzen bei Räumen, die sich der Kontrolle vollständig entziehen. Wir haben eine klare Regel für Gespräche: sie dürfen niemals den Ort verlassen, an dem sie begonnen wurden (also nicht beispielsweise auf Skype oder WhatsApp ausweichen), wenn sie die Menschen, mit denen die Kinder reden, nicht aus der Schule oder aus einem anderen Bezug kennen. Unsere Kinder wissen und lernen jeden Tag mehr darüber, dass die Profile, die sie in sozialen Netzen oder auf Skype und Co sehen, nicht echt sein müssen, dass niemand weiß, wer dahinter steckt, wenn ich die Person nicht selbst kenne.
Hier gibt es also Grenzen, ebenso wie es zeitliche Grenzen gibt. Aber diese Grenzen funktionieren nur, weil sie in ein großes Erlaubnis eingebettet sind – und weil uns interessiert, was unsere Kinder nutzen und wie sie das tun. Weil wir ihnen nicht etwas nur deshalb verbieten, weil wir es doof finden oder nicht kennen. Weil sie erlebt haben, dass wir uns stundenlang über unsere Lieblingsfilme auf YouTube unterhalten können. Wir zeigen ihnen unsere (teilweise aus unserer Kindheit), sie zeigen uns ihre. Ohne dass wir laut sagen, wie schlimm wir das finden, was sie lieben.
Nur so werden wir mitbekommen, wo sie sich ihre Räume für sich und ihre Freundinnen und Freunde suchen. Sei es (aktuell angesagt) SnapChat, sei es neuerdings Twitter, sei es, was immer jetzt kommen mag, wenn sie anfangen, Facebook langweilig zu finden. Nur eine Sache ändert sich nicht seit Generationen: Freundschaft hat mit Menschen zu tun und mit Nähe. Und wo die Onlinenutzung nicht pathologisch wird, hat Freundschaft auch immer damit zu tun, sich in der Kohlenstoffwelt (also dem, was nicht online ist) zu treffen. Alle Erfahrungen der letzten Jahre sprechen dafür, dass Kommunikation in sozialen Netzwerken nichts daran ändert, wie Freundschaft funktioniert. Ja, unsere Kinder nutzen das Wort anders als wir (offener, mehr wie in USA), aber das Phänomen, das wir Freundschaft nennen, kennen sie auch. Nur das Telefon nicht mehr. Und den Brief.
***
Ob wir es wollen oder nicht – unsere Kinder sind online, spätestens wenn sie in die Schule kommen. In vielen Fällen nutzen sie auch zu Hause Computer, die im Internet sind. Wir sollten nicht vergessen: Für unsere Kinder sind Computer, die nicht online sind, „kaputt“, sie kennen gar keine Zeit mehr, in der es eine Offline-Nutzung von Programmen und Anwendungen auf PCs gab.
Spätestens wenn sie ihr erstes Smartphone haben (was rein statistisch auf mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen ab 13 Jahren zutrifft), koppelt sich ihre Onlinenutzung von der unseren ab, nutzen sie „das Internet“ anders als Erwachsene. Auch ohne Datenflatrate wird das Smartphone für immer mehr Kinder zum Tor zur Welt. Zuhause, in der Schule, bei Freundinnen und Freunden: wo immer sie Zugang zu einem WLAN haben, gehen sie mit ihren Geräten online. Und sei es zur Not mit der Spielekonsole.
Dadurch ändert sich die Mediennutzung dramatisch. Sie definiert sich für viele unserer Kinder neu und wird als Qualitätszeit empfunden. Parallel zum Fernsehen mit Freundinnen und Freunden zu chatten, ist die Norm. Gespräche, die auf dem Schulhof beginnen, werden per SMS (bei denen, die noch nicht immer online sind und also keine preiswertere Variante wie WhatsApp nutzen können) fortgesetzt und dann zu Hause als Chat in Facebook und Co intensiviert. Grob gesagt ist der Onlinezugang für Kinder und Jugendliche heute das, was für die meisten Erwachsenen der Elterngeneration das Telefon war: Der Zugang zu den anderen. Und so, wie es in den 70ern und 80ern Eltern gab, die das Telefon für ihre Kinder stark reglementiert haben, versuchen es heute auch viele Eltern mit dem Internet.
Grundsätzlich stimme ich dabei zu, dass es zu unserer Erziehungsaufgabe gehört, unsere Kinder in diesen Kommunikationsraum Internet zu begleiten und Grenzen und Leitplanken zu setzen. Ich erlebe nur leider sehr oft, dass genau dieses nicht geschieht – interessanterweise vor allem bei denen, die „dieses Internet“ eher ablehnen und mit ihm wenig bis nichts anfangen können. Das mündet oft in Verbote, die von den Kindern umgangen werden. Oder in eine fappierende Gleichgültigkeit, die ein Zeichen von Resignation ist. Ironischerweise ist der Internetzugang und die Nutzung des Internets als Raum, um mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu sein, in den Familien sehr viel stärker kontrolliert und reglementiert, die Facebook und YouTube offen gegenüber stehen. Wahrscheinlich, weil sie wissen, was zu tun ist – und die Kinder tatsächlich begleiten können.
Wer Kinder hat und sich nicht mit Facebook (bei den etwas älteren Kindern) und YouTube (bei allen Kindern) beschäftigt, nicht mit Minecraft oder Onlinespielen, kann sie nicht begleiten und erziehen und – um es mal sehr hart zu formulieren – versagt als Eltern in der heutigen Zeit. Wer seine Kinder damit vor der Onlinewelt beschützen will, dass sie ihnen verboten und versperrt bleibt, macht seine Kinder (bewusst oder unbewusst) zu Außenseitern. Ähnlich wie in meiner Grundschulzeit in den späten 70ern die Kinder nachmittags außen vor blieben, die noch kein Telefon hatten.
Ein Raum voller Chancen und voller Gefahren
In den Gesprächen unter Eltern dreht es sich beim Internet meistens um die Gefahren. Und diese stehen auch in den klassischen Medien im Mittelpunkt. Dass wir unsere Kinder auf diese Gefahren vorbereiten und sie zu schützen suchen, ist auch richtig und wichtig – schließlich bringen wir ihnen auch bei, nicht einfach auf die Straße zu rennen oder bei irgendwem ins Auto zu steigen. Zugleich aber erklären wir ihnen da auch die Chancen: Dass es gut ist, zur Schule zu laufen oder zu fahren, dass es richtig ist, sich den Straßenraum der Umgebung zu erobern und mit den Freundinnen und Freunden umherzustreifen – das ist unter den meisten Eltern unumstritten. Diesen Konsens auf die Onlinewelt zu übertragen, ist überfällig.
Wir wissen und haben gelernt, dass Kinder und Jugendliche, die sich sicher auf der Straße bewegen, besser vor den Gefahren des Straßenverkehrs geschützt sind. Die gleiche Erfahrung machen Eltern, die ihre Kinder die Onlinewelt erobern lassen, auch dort: Dass ihre Kinder mit den Gefahren je besser umgehen können, desto mehr sie die Chancen kennen und erleben.
Für Jugendliche ist heute Facebook (noch) einer der wichtigsten Orte, um mit ihren Freundinnen und Freunden zu sprechen, um sich selbst darzustellen, um auf Ideen zu kommen. Für Kinder und Jugendliche ist YouTube heute der wichtigste TV-Kanal mit seinen unzähligen Möglichkeiten, mir mein Programm selbst zu gestalten. Wo wir Erwachsenen zu Telefon oder zur E-Mail greifen, nutzen unsere Kinder WhatsApp und Facebook, manche auch die Chatprogramme, die zu ihrem Onlinespiel gehören. Das ist zunächst einfach einmal Fakt und weder gut noch schlecht. Schlecht wird es erst durch unsere Zuschreibung – aber wer sagt denn, dass wir auf alle Zeit Recht haben damit, dass Qualitätszeit bedeuten muss, ein Buch zu lesen? Dass es nicht auch Qualitätszeit sein kann, gemeinsam mit Freundinnen und Freunden zu blödeln (via Facebook und WhatsApp) oder komplizierte Gebäude zu errichten (in Minecraft oder League of Legend).
Nur wenn wir als Eltern die Kommunikations- und Entertainmentbedürfnisse der Kinder ernstnehmen, werden sie uns mit unseren Regeln und Grenzen ernstnehmen. Denn die müssen wir ihnen setzen.
Erlaubnisse und Grenzen
Beispielsweise erlauben wir unseren Kindern YouTube und Facebook. Aber wir setzen die Grenze bei Chatrooms wie Knuddels und Co. Wir erlauben Räume mit hoher sozialer Kontrolle – und setzen Grenzen bei Räumen, die sich der Kontrolle vollständig entziehen. Wir haben eine klare Regel für Gespräche: sie dürfen niemals den Ort verlassen, an dem sie begonnen wurden (also nicht beispielsweise auf Skype oder WhatsApp ausweichen), wenn sie die Menschen, mit denen die Kinder reden, nicht aus der Schule oder aus einem anderen Bezug kennen. Unsere Kinder wissen und lernen jeden Tag mehr darüber, dass die Profile, die sie in sozialen Netzen oder auf Skype und Co sehen, nicht echt sein müssen, dass niemand weiß, wer dahinter steckt, wenn ich die Person nicht selbst kenne.
Hier gibt es also Grenzen, ebenso wie es zeitliche Grenzen gibt. Aber diese Grenzen funktionieren nur, weil sie in ein großes Erlaubnis eingebettet sind – und weil uns interessiert, was unsere Kinder nutzen und wie sie das tun. Weil wir ihnen nicht etwas nur deshalb verbieten, weil wir es doof finden oder nicht kennen. Weil sie erlebt haben, dass wir uns stundenlang über unsere Lieblingsfilme auf YouTube unterhalten können. Wir zeigen ihnen unsere (teilweise aus unserer Kindheit), sie zeigen uns ihre. Ohne dass wir laut sagen, wie schlimm wir das finden, was sie lieben.
Nur so werden wir mitbekommen, wo sie sich ihre Räume für sich und ihre Freundinnen und Freunde suchen. Sei es (aktuell angesagt) SnapChat, sei es neuerdings Twitter, sei es, was immer jetzt kommen mag, wenn sie anfangen, Facebook langweilig zu finden. Nur eine Sache ändert sich nicht seit Generationen: Freundschaft hat mit Menschen zu tun und mit Nähe. Und wo die Onlinenutzung nicht pathologisch wird, hat Freundschaft auch immer damit zu tun, sich in der Kohlenstoffwelt (also dem, was nicht online ist) zu treffen. Alle Erfahrungen der letzten Jahre sprechen dafür, dass Kommunikation in sozialen Netzwerken nichts daran ändert, wie Freundschaft funktioniert. Ja, unsere Kinder nutzen das Wort anders als wir (offener, mehr wie in USA), aber das Phänomen, das wir Freundschaft nennen, kennen sie auch. Nur das Telefon nicht mehr. Und den Brief.
3.7.13
Ich bin ein romantischer Idealist
Ich weiß. Nennt mich naiv. Aber ich glaube an Demokratie. So richtig. Ich glaube auch heute noch, dass es richtig war von der SPD, den Frauen in Deutschland das Wahlrecht zu geben - obwohl die dann mehrheitlich konservativ wählten. Ist das Idealismus? Vielleicht. Ist es richtig? Ja.
Dabei war es schon damals so, dass die Welt nicht so einfach war. Viele fanden beispielsweise den Putsch in Chile richtig, als Hilfe gegen den fortschreitenden Kommunismus. So wie heute wieder viele begeistert klatschen, wenn in Ägypten das Militär gegen einen anderen -ismus einschreitet, der durch demokratische Wahlen einen seiner Vertreter in das Präsidialamt gebracht hat. Ob es Islamismus ist? Ob Allende den Kommunismus eingeführt hat? Hängt wahrscheinlich wesentlich vom eigenen Standpunkt ab.
Wenn ich etwas in meinen Kämpfen der 80er und 90er gelernt habe, in denen ich mich unter anderem an einem Anführer einer von uns damals so empfundenen rechtsradikalen "Menschenrechts"gruppe abarbeitete, der heute sehr einflussreich ist und dauernd zwischen führenden Jobs im Journalismus und der PR hin und her wechselt (aber das ist eine andere Geschichte), dann dies: Während wir uns streiten können, ob etwas gut oder böse sei, ist eines unverhandelbar. Selbst wenn ich weiß, dass ich selbst niemals (jedenfalls kann ich mir beim besten Willen ein Szenario vorstellen, in dem es anders wäre) zu denen gehören werde, die davon tatsächlich politisch profitieren: In einer Demokratie herrscht Demokratie. Und wenn die Falschen von der Mehrheit gewählt werden, dann werde ich, wie bisher, protestieren. Und ich werde mich an der einen oder anderen Stelle verweigern. Aber - anders als ich persönlich noch in den frühen 90ern*: Ich werde nicht nach dem Militär rufen, dass sie mich in einer Revolution unterstützen.
Tatsächlich bin ich sehr unsicher, was die Situation in Ägypten oder der Türkei heute angeht (heute, am Tag des Militärputsches in Ägypten gegen den gewählten islamistischen Präsidenten). Ich fühle mich inhaltlich und politisch und menschlich und intellektuell den urbanen Prostestgruppen verbunden. Aber ich weiß auch, dass sie nicht die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern darstellen. Herrschaft der Volkes oder Herrschaft einer urbanen, gebildeten Elite? Das antik-griechische Modell der Demokratie? Oder das neuzeitliche?
Kann es da wirklich eine Frage geben? Ist das wirklich romantisch? Oder idealistisch? Oder fehlt denen, die jetzt über einen Militärputsch jubeln, ihr Gedächtnis oder ihr (ethischer? politischer?) Kompass?
__
* kleine, lustige Anekdote aus den frühen 90ern: Beim Vorbereitungstreffen zum Kirchentag habe ich als damaliger Bundesvorsitzender einer sozialistischen christlichen Vereinigung genau damit dafür argumentiert, in unserem Bereich auf dem Markt der Möglichkeiten auch Nicht-Pazifistinnen zuzulassen. Schließlich würden wir ggf. die Armee während der Revolution brauchen.
Ein Militärputsch ist nie gut. Das wisst ihr trotzdem noch, oder?Vielleicht liegt es daran, dass ich in einer Zeit aufwuchs, in der die Welt noch einfach schien und es gut und böse gab in meiner Filterblase. In der klar war, dass ein Militärputsch, sei es in Chile, in Argentinien, in Griechenland, in der Türkei und überall sonst schlecht sei. Zumal es in fast allen Fällen ja die Guten traf, die aus dem Amt geputscht wurden.
— Wolfgang Lünenbürger (@luebue) July 3, 2013
Dabei war es schon damals so, dass die Welt nicht so einfach war. Viele fanden beispielsweise den Putsch in Chile richtig, als Hilfe gegen den fortschreitenden Kommunismus. So wie heute wieder viele begeistert klatschen, wenn in Ägypten das Militär gegen einen anderen -ismus einschreitet, der durch demokratische Wahlen einen seiner Vertreter in das Präsidialamt gebracht hat. Ob es Islamismus ist? Ob Allende den Kommunismus eingeführt hat? Hängt wahrscheinlich wesentlich vom eigenen Standpunkt ab.
Wenn ich etwas in meinen Kämpfen der 80er und 90er gelernt habe, in denen ich mich unter anderem an einem Anführer einer von uns damals so empfundenen rechtsradikalen "Menschenrechts"gruppe abarbeitete, der heute sehr einflussreich ist und dauernd zwischen führenden Jobs im Journalismus und der PR hin und her wechselt (aber das ist eine andere Geschichte), dann dies: Während wir uns streiten können, ob etwas gut oder böse sei, ist eines unverhandelbar. Selbst wenn ich weiß, dass ich selbst niemals (jedenfalls kann ich mir beim besten Willen ein Szenario vorstellen, in dem es anders wäre) zu denen gehören werde, die davon tatsächlich politisch profitieren: In einer Demokratie herrscht Demokratie. Und wenn die Falschen von der Mehrheit gewählt werden, dann werde ich, wie bisher, protestieren. Und ich werde mich an der einen oder anderen Stelle verweigern. Aber - anders als ich persönlich noch in den frühen 90ern*: Ich werde nicht nach dem Militär rufen, dass sie mich in einer Revolution unterstützen.
Tatsächlich bin ich sehr unsicher, was die Situation in Ägypten oder der Türkei heute angeht (heute, am Tag des Militärputsches in Ägypten gegen den gewählten islamistischen Präsidenten). Ich fühle mich inhaltlich und politisch und menschlich und intellektuell den urbanen Prostestgruppen verbunden. Aber ich weiß auch, dass sie nicht die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern darstellen. Herrschaft der Volkes oder Herrschaft einer urbanen, gebildeten Elite? Das antik-griechische Modell der Demokratie? Oder das neuzeitliche?
Kann es da wirklich eine Frage geben? Ist das wirklich romantisch? Oder idealistisch? Oder fehlt denen, die jetzt über einen Militärputsch jubeln, ihr Gedächtnis oder ihr (ethischer? politischer?) Kompass?
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* kleine, lustige Anekdote aus den frühen 90ern: Beim Vorbereitungstreffen zum Kirchentag habe ich als damaliger Bundesvorsitzender einer sozialistischen christlichen Vereinigung genau damit dafür argumentiert, in unserem Bereich auf dem Markt der Möglichkeiten auch Nicht-Pazifistinnen zuzulassen. Schließlich würden wir ggf. die Armee während der Revolution brauchen.
25.6.13
Terrorsprache
Seit ich das erste Mal in Victor Klemperers großartiges Büchlein LTI (Lingua Tertii Imperii) hineingelesen habe, ist mir die Ideologiekritik durch Sprache wichtig. Ich kann nicht mehr sprechen oder schreiben, ohne mir über die Konnotationen von Wörtern Gedanken zu machen. Vor etwa zwei Jahren hatte ich dazu schon mal geschrieben, damals anhand des Beispiels der neurechten Kampfbegriffe Gutmensch und Wutbürger.
Etwas, das mich immer sehr ärgert, weil es meiner Meinung nach intellektuell unredlich ist, sind Behauptungen wie "das habe ich nicht so gemeint" oder "also das ist nicht die Ecke in die ich damit gestellt werden will", wenn jemand Worte oder auch nur Wörter verwendet, die als Argumentationsersatz dienen. Weil in ihnen ein Wertesystem mitschwingt, das eine Autorin nicht "abstellen" kann, wenn sie diese Wörter verwendet. Dieses zu bestreiten, halte ich entweder für naiv. Oder für ideologisch. Perfiderweise, so meine Erfahrung, findet dieses Bestreiten (oder das Verwenden von ideologischen Argumentationsersatzwörtern) dann oft in Kontexten statt, die von sich selbst behaupten, Ideologie überwinden zu wollen.
Perfiderweise - aber nicht überraschenderweise. Denn so wie es zur klassischen deutschen Festrede rhetorisch dazu gehört, zu betonen, keine klassische deutsche Festrede zu halten, so schrillen bei mir alle Alarmglocken, wenn jemand die Behauptung aufstellt, sie wolle jetzt einmal versuchen, eine ideologische Debatte zu versachlichen o.ä. Denn das Problem an diesem - auch wieder - Argumentationsersatz ist, dass zunächst einmal bei anderen eine Ideologie behauptet wird, sie aber nicht benannt oder mit den Methoden der Ideologiekritik entlarvt wird. Was oft daran liegt, dass bei den Gegnerinnen zwar eine Ideologie behauptet wird, es aber zweifelhaft ist, ob es die wirklich gibt.
Mein Eindruck ist eher, dass - ähnlich wie bei Kristina Schröder oder bei radikalen Christinnen - anstelle einer intellektuell anspruchsvollen Auseinandersetzung eine Gegnerin zu einem Popanz aufgebaut werden muss, um sich davon abheben zu können. Allerschönstes "Bild"-Niveau: "Klartext", "man wird ja wohl noch mal sagen dürfen" etc.
Wichtigste Kennzeichen einer solchen ideologisierten Scheinargumentation sind nach meiner Erfahrung vor allem Formulierungen wie eben dieses "man wird ja wohl noch mal sagen dürfen" oder "wer dagegen spricht, wird sofort mundtot gemacht" oder die Erwähnung von "politischer Korrektheit". Ich kann nachvollziehen, wenn jemand so in einer (mündlichen) politischen Auseinandersetzung spricht - denn es funktioniert und appelliert erfolgreich an die niederen Instinkte einer Menge rechts von der Mitte. Aber damit endet auch schon der Sinn solcher Formulierungen: mit der Selbstvergewisserung und Selbstverortung im "rechten Mainstream".
"Rechts" hier in Ermangelung eines besseren Wortes verwendet als veralteter Gattungsbegriff neoliberaler, konservativer, reaktionärer und neurechter Ansätze, die sich untereinander selbstverständlich sehr unterscheiden. Durch das Wort "Mainstream" versuche ich die Abgrenzung dieser Gattung vom Rechtsextremismus.
Wofür sie nicht taugen, ist der Diskurs. Gerade weil mir Ideologiekritik so wichtig ist, habe ich keine Lust mehr, mich mit ideologischem Argumentationsersatz zu beschäftigen. Das mag arrogant sein und dazu führen, dass ich mich aus einem Teil der Diskursversuche unserer Zeit verabschieden muss. Aber ich bin es einfach müde, seit rund 30 Jahren immer und immer wieder die gleichen Diskussionen zu führen (na, kommt das irgendwem bekannt vor? Ja, das ist das gleiche Argument, mit dem ich mich aus der Auseinandersetzung um Feminismus und Sexismus verabschiedet habe).
Vielleicht muss jede Generation erneut ihre Kämpfe führen. Aber ich bin dafür zurzeit zu müde. Und ich kenne und schätze genügend Menschen, mit denen ich leben und sprechen und (politisch) arbeiten kann, mit denen ich das nicht jedes Mal neu auskämpfen muss. Es ist für einen Christen vielleicht allzu resignativ. Aber so ist es nun mal. Ich habe genug damit zu tun, meine Kinder und die Menschen, die mir wichtig sind, zu begleiten und mit ihnen gemeinsam ein lebenswerte Welt zu gestalten.
Vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass ich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts so viele glückliche Menschen kennen lernen durfte, die irgendwann aus den ideologischen Kämpfen ausgestiegen sind und praktisch gezeigt haben, dass sie eine lebenswerte Welt gestalten können. Dass sie die Welt verändern durch Handeln und Reden. Oft sogar mehr, als es den Anschein hat. Von denen werde ich mehr erzählen. Von denen werde ich mich mehr inspirieren lassen.
Und aus jedes Diskussion mit Argumentationsersatz aussteigen. Und die Lektüre von Texten abbrechen, wenn sie in sprachlichen Anschluss an die Ideologie des rechten Mainstream suchen. Dadurch wird mir etwas entgehen, mit Sicherheit. Und ich gebe vielleicht ein bisschen auf, zumindest gebe ich einige Menschen auf. Das schmerzt mich. Aber ich kann nicht die ganze Welt bauen.
Etwas, das mich immer sehr ärgert, weil es meiner Meinung nach intellektuell unredlich ist, sind Behauptungen wie "das habe ich nicht so gemeint" oder "also das ist nicht die Ecke in die ich damit gestellt werden will", wenn jemand Worte oder auch nur Wörter verwendet, die als Argumentationsersatz dienen. Weil in ihnen ein Wertesystem mitschwingt, das eine Autorin nicht "abstellen" kann, wenn sie diese Wörter verwendet. Dieses zu bestreiten, halte ich entweder für naiv. Oder für ideologisch. Perfiderweise, so meine Erfahrung, findet dieses Bestreiten (oder das Verwenden von ideologischen Argumentationsersatzwörtern) dann oft in Kontexten statt, die von sich selbst behaupten, Ideologie überwinden zu wollen.
Perfiderweise - aber nicht überraschenderweise. Denn so wie es zur klassischen deutschen Festrede rhetorisch dazu gehört, zu betonen, keine klassische deutsche Festrede zu halten, so schrillen bei mir alle Alarmglocken, wenn jemand die Behauptung aufstellt, sie wolle jetzt einmal versuchen, eine ideologische Debatte zu versachlichen o.ä. Denn das Problem an diesem - auch wieder - Argumentationsersatz ist, dass zunächst einmal bei anderen eine Ideologie behauptet wird, sie aber nicht benannt oder mit den Methoden der Ideologiekritik entlarvt wird. Was oft daran liegt, dass bei den Gegnerinnen zwar eine Ideologie behauptet wird, es aber zweifelhaft ist, ob es die wirklich gibt.
Mein Eindruck ist eher, dass - ähnlich wie bei Kristina Schröder oder bei radikalen Christinnen - anstelle einer intellektuell anspruchsvollen Auseinandersetzung eine Gegnerin zu einem Popanz aufgebaut werden muss, um sich davon abheben zu können. Allerschönstes "Bild"-Niveau: "Klartext", "man wird ja wohl noch mal sagen dürfen" etc.
Wichtigste Kennzeichen einer solchen ideologisierten Scheinargumentation sind nach meiner Erfahrung vor allem Formulierungen wie eben dieses "man wird ja wohl noch mal sagen dürfen" oder "wer dagegen spricht, wird sofort mundtot gemacht" oder die Erwähnung von "politischer Korrektheit". Ich kann nachvollziehen, wenn jemand so in einer (mündlichen) politischen Auseinandersetzung spricht - denn es funktioniert und appelliert erfolgreich an die niederen Instinkte einer Menge rechts von der Mitte. Aber damit endet auch schon der Sinn solcher Formulierungen: mit der Selbstvergewisserung und Selbstverortung im "rechten Mainstream".
"Rechts" hier in Ermangelung eines besseren Wortes verwendet als veralteter Gattungsbegriff neoliberaler, konservativer, reaktionärer und neurechter Ansätze, die sich untereinander selbstverständlich sehr unterscheiden. Durch das Wort "Mainstream" versuche ich die Abgrenzung dieser Gattung vom Rechtsextremismus.
Wofür sie nicht taugen, ist der Diskurs. Gerade weil mir Ideologiekritik so wichtig ist, habe ich keine Lust mehr, mich mit ideologischem Argumentationsersatz zu beschäftigen. Das mag arrogant sein und dazu führen, dass ich mich aus einem Teil der Diskursversuche unserer Zeit verabschieden muss. Aber ich bin es einfach müde, seit rund 30 Jahren immer und immer wieder die gleichen Diskussionen zu führen (na, kommt das irgendwem bekannt vor? Ja, das ist das gleiche Argument, mit dem ich mich aus der Auseinandersetzung um Feminismus und Sexismus verabschiedet habe).
Vielleicht muss jede Generation erneut ihre Kämpfe führen. Aber ich bin dafür zurzeit zu müde. Und ich kenne und schätze genügend Menschen, mit denen ich leben und sprechen und (politisch) arbeiten kann, mit denen ich das nicht jedes Mal neu auskämpfen muss. Es ist für einen Christen vielleicht allzu resignativ. Aber so ist es nun mal. Ich habe genug damit zu tun, meine Kinder und die Menschen, die mir wichtig sind, zu begleiten und mit ihnen gemeinsam ein lebenswerte Welt zu gestalten.
Vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass ich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts so viele glückliche Menschen kennen lernen durfte, die irgendwann aus den ideologischen Kämpfen ausgestiegen sind und praktisch gezeigt haben, dass sie eine lebenswerte Welt gestalten können. Dass sie die Welt verändern durch Handeln und Reden. Oft sogar mehr, als es den Anschein hat. Von denen werde ich mehr erzählen. Von denen werde ich mich mehr inspirieren lassen.
Und aus jedes Diskussion mit Argumentationsersatz aussteigen. Und die Lektüre von Texten abbrechen, wenn sie in sprachlichen Anschluss an die Ideologie des rechten Mainstream suchen. Dadurch wird mir etwas entgehen, mit Sicherheit. Und ich gebe vielleicht ein bisschen auf, zumindest gebe ich einige Menschen auf. Das schmerzt mich. Aber ich kann nicht die ganze Welt bauen.
18.6.13
Haltungsturnen
Steinbrück ist als Kanzler nicht geeignet. Das ist ein Dilemma, weil meine Partei (die Grünen) damit zwischen Pest und Cholera entscheiden müsste. Andererseits ist ja die "Strategie 2017" von Sigmar Gabriel genial (also die Strategie, in diesem Jahr einen populären Kandidaten zu verbrennen, so dass er ihm 2017 nicht im Weg steht, wenn er selbst Kanzler werden kann) und ist dabei aufzugehen. Dass sie zynisch ist, weil sie dem Land vier weitere Jahre eine falsche Regierung bescheren wird, ist halt Gabriel. Aber genug an der Herzenspartei SPD abgearbeitet.
Neben den Screenshots von Rolf Kleines Facebook-Profil, die ihn als Alltagsrassisten outen, ist es vor allem seine Rolle als Kampagnenmacher und Hetzer in der Anti-Griechenlandkampagne der "Bild", die zeigen, was für ein Mensch er ist. Dazu hat unter großen Schmerzen der Ex-Sozi Michalis Pantelouris etwas beeindruckendes geschrieben.
Mir kann niemand erzählen, dass Steinbrück das nicht gewusst hat (was im Übrigen seine Kanzlerqualifikation noch nachhaltiger ruinierte). Dass er ohne Not und unter im Vergleich zu einer Kanzlerschaft nur minimalem Druck die Entscheidung trifft, so einen als Berater zu wählen, offenbart bestenfalls seine Haltungslosigkeit, schlimmstenfalls seine Haltung. Egal was - weder ein Kanzler mit einer menschenverachtenden Haltung noch einer, der in einer wirklichen Krise gar keine Haltung, gar keinen Kompass hat, an dem er sich orientieren kann, ist dem Amt gewachsen. Das war ja schon das Problem bei Schröder. Und das hebt Merkel trotz all ihrer schlechten Politik aus der Masse heraus.
Ich habe kein Problem mit Alphatieren. Ich habe nicht einmal ein Problem mit Zynikern. Aber mir wird Angst und Bange vor einem Mann, der in der ersten kleinen Bewährungsprobe dafür, ob er von einem Wertekompass geleitet ist oder angstvoll rumschlingert, nur Zeichen von letzterem zeigt.
Das ist mir nicht egal.
Hier geht es eigentlich um Haltung.
Und das ist seit über zehn Jahren das bleibende Thema dieses Blogs. Und sein Geburtshelfer. Denn schon bevor ich dieses Blog 2003 startete, hatte ich den Gedanken vom "Haltungsturnen" entwickelt, sogar ein "Haltungsturner-Manifest" geschrieben. Und überlegt, ob das etwas sein könnte, wohin ich mich auch beruflich entwickeln will (was ja immer noch kommen kann).
In den 90ern des letzten Jahrhunderts habe ich vor allem zu Ethik gearbeitet, während des Studiums und in meiner Zeit in der evangelischen Publizistik. Haltung ist in diesem Zusammenhang für mich der alltagstaugliche Begriff eines operationalisierbaren Wertekanons. Ich komme aus einer Ethikecke, die werteorientiert ist (im Gegensatz zur liberalen und zur utilitaristischen angelsächsischen Tradition, die eher zielorientiert ist, um es einmal etwas holzschnittartig zu formulieren). Die genaue Verortung und genaue Definition würde jetzt hier zu weit führen, aber eine Anekdote, die mich, als ich sie 2002 erstmal hörte, sehr beeindruckt hat, hat dazu geführt, das, was mir wichtig ist, als "Haltungsturnen" zu bezeichnen: das Einüben von Haltung, also das Treffen von Entscheidungen aufgrund von Werten und Werturteilen. Was wichtig ist, damit ich diese Werte und diese Haltung kenne, wenn es hart auf hart kommt. Diese Geschichte ging so:
Dieter Gorny war Vorstandsvorsitzender der Viva Media AG, die u.a. den Musikender "Viva" betrieb, als am 11.9.2001 jener grauenvolle Anschlag in New York verübt wurde. Fast alle TV-Sender haben ab mittags den live gesendeten Flug in den zweiten Turm in Endlosschleife gespielt. Falls ihr alt genug seid, werdet ihr euch daran erinnern. Gorny soll, so geht die Geschichte, die selbstverständlich auch eine Legende sein kann, das kann ich nicht beurteilen, gegen viele Widerstände persönlich entschieden haben (und die Konsequenzen auf seine Kappe zu nehmen bereit gewesen sein), da nicht mitzumachen - und stattdessen einen schwarzen Bildschirm zu senden. Er war unter Druck und in einer Extremsituation in der Lage, eine starke und (wie sich herausstellte) richtige Entscheidung zu treffen. Das war, so hieß es damals, nur möglich, weil er sich immer wieder seiner Werte versichert habe, weil er wusste, wo er steht.
Zurück zu Steinbrück. Und dazu, dass er Rolf Kleine zum Sprecher und Berater gemacht hat.
Und das ist seit über zehn Jahren das bleibende Thema dieses Blogs. Und sein Geburtshelfer. Denn schon bevor ich dieses Blog 2003 startete, hatte ich den Gedanken vom "Haltungsturnen" entwickelt, sogar ein "Haltungsturner-Manifest" geschrieben. Und überlegt, ob das etwas sein könnte, wohin ich mich auch beruflich entwickeln will (was ja immer noch kommen kann).
In den 90ern des letzten Jahrhunderts habe ich vor allem zu Ethik gearbeitet, während des Studiums und in meiner Zeit in der evangelischen Publizistik. Haltung ist in diesem Zusammenhang für mich der alltagstaugliche Begriff eines operationalisierbaren Wertekanons. Ich komme aus einer Ethikecke, die werteorientiert ist (im Gegensatz zur liberalen und zur utilitaristischen angelsächsischen Tradition, die eher zielorientiert ist, um es einmal etwas holzschnittartig zu formulieren). Die genaue Verortung und genaue Definition würde jetzt hier zu weit führen, aber eine Anekdote, die mich, als ich sie 2002 erstmal hörte, sehr beeindruckt hat, hat dazu geführt, das, was mir wichtig ist, als "Haltungsturnen" zu bezeichnen: das Einüben von Haltung, also das Treffen von Entscheidungen aufgrund von Werten und Werturteilen. Was wichtig ist, damit ich diese Werte und diese Haltung kenne, wenn es hart auf hart kommt. Diese Geschichte ging so:
Dieter Gorny war Vorstandsvorsitzender der Viva Media AG, die u.a. den Musikender "Viva" betrieb, als am 11.9.2001 jener grauenvolle Anschlag in New York verübt wurde. Fast alle TV-Sender haben ab mittags den live gesendeten Flug in den zweiten Turm in Endlosschleife gespielt. Falls ihr alt genug seid, werdet ihr euch daran erinnern. Gorny soll, so geht die Geschichte, die selbstverständlich auch eine Legende sein kann, das kann ich nicht beurteilen, gegen viele Widerstände persönlich entschieden haben (und die Konsequenzen auf seine Kappe zu nehmen bereit gewesen sein), da nicht mitzumachen - und stattdessen einen schwarzen Bildschirm zu senden. Er war unter Druck und in einer Extremsituation in der Lage, eine starke und (wie sich herausstellte) richtige Entscheidung zu treffen. Das war, so hieß es damals, nur möglich, weil er sich immer wieder seiner Werte versichert habe, weil er wusste, wo er steht.
Zurück zu Steinbrück. Und dazu, dass er Rolf Kleine zum Sprecher und Berater gemacht hat.
. @luebue Berater beraten, Kanzler entscheiden. Die Kleine-Diskussion ist für mich der Prototyp einer missratenen Diskussion.
— Christoph Kappes (@ChristophKappes) June 18, 2013
Neben den Screenshots von Rolf Kleines Facebook-Profil, die ihn als Alltagsrassisten outen, ist es vor allem seine Rolle als Kampagnenmacher und Hetzer in der Anti-Griechenlandkampagne der "Bild", die zeigen, was für ein Mensch er ist. Dazu hat unter großen Schmerzen der Ex-Sozi Michalis Pantelouris etwas beeindruckendes geschrieben.
Mir kann niemand erzählen, dass Steinbrück das nicht gewusst hat (was im Übrigen seine Kanzlerqualifikation noch nachhaltiger ruinierte). Dass er ohne Not und unter im Vergleich zu einer Kanzlerschaft nur minimalem Druck die Entscheidung trifft, so einen als Berater zu wählen, offenbart bestenfalls seine Haltungslosigkeit, schlimmstenfalls seine Haltung. Egal was - weder ein Kanzler mit einer menschenverachtenden Haltung noch einer, der in einer wirklichen Krise gar keine Haltung, gar keinen Kompass hat, an dem er sich orientieren kann, ist dem Amt gewachsen. Das war ja schon das Problem bei Schröder. Und das hebt Merkel trotz all ihrer schlechten Politik aus der Masse heraus.
Ich habe kein Problem mit Alphatieren. Ich habe nicht einmal ein Problem mit Zynikern. Aber mir wird Angst und Bange vor einem Mann, der in der ersten kleinen Bewährungsprobe dafür, ob er von einem Wertekompass geleitet ist oder angstvoll rumschlingert, nur Zeichen von letzterem zeigt.
Das ist mir nicht egal.
Das nächste große Ding
Das, was nach Facebook kommt, wisst ihr, das kenne ich auch nicht. Aber das macht nichts. Denn ich bin überzeugt, dass es gar nicht "das nächste große Ding" geben wird. Jedenfalls nicht so bald. Sondern dass sich Menschen in ihrer Nutzung der Onlinedingsens ausdifferenzieren werden.
Was ich aber weiß, ist, wie sich das Onlineleben bei Jugendlichen zurzeit verändert. Daraus lassen sich schon einige Rückschlüsse ziehen. Einige erste Gedanken hatte ich letzten Monat schon einmal auf englisch aufgeschrieben und zur Diskussion gestellt. Und letzte Woche spontan daraus einen Vortrag auf der Fachtagung Social Media der depak gehalten. Lustigerweise als Ersatz für einen Facebook-Vortrag. Aber abgesehen davon waren dieses hier die Folien, die ich dafür zusammengestöpselt habe:
Mit Jugendlichen beschäftige ich mich ja sowohl beruflich als auch privat intensiv. Habe selbst drei sehr unterschiedliche zu Hause (plus ein Kind). Und bin in einigen Projekten involviert, bei denen wir Jugendliche kommunikativ erreichen und in einen Dialog, in eine Aktivierung bringen wollen.
Auch wenn ich weiß, dass aus dem Verhalten von Jugendlichen heute nicht auf ihre Verhalten in fünf oder zehn Jahren geschlossen werden kann, sind doch die Dinge, denen sie sich entziehen, die sie nicht machen ,spannend. Ebenso wie die Dinge, die sie für sich anders nutzen oder entdecken.
Twitter beispielsweise. Seit Beginn dieses Jahres mit enormen Zuwachsraten unter Jugendlichen, aber mit einer von meiner Nutzung sehr deutlich abweichenden Verwendung. Die nahbaren Stars dieser Generation, beispielsweise von YouTube, haben Followerzahlen, die "uns" Erwachsene mit den Ohren schlackern lassen. 50.000 junge Leute unter 16 Jahren sind da keine seltene Followschaft.
Oder dass sie vor den Vollhonks und vor dem Mobbing aus Facebook fliehen. Also Facebook anders nutzen als wir. Und sich in Räume zurück ziehen, in denen die Codes gleich sind unter denen, die da sind. In denen sie sich verstehen, ohne jedes Mal erklären zu müssen, was gemeint ist und wie es gemeint ist.
Oder dass sie mit verschiedenen ihrer Gruppen unterschiedliche Chat-Apps nutzen. Oder ganz WhatsApp lassen, weil sie auch gemerkt haben, dass ihre Eltern das schon kennen und sehen, wann sie zuletzt online waren. Beispielsweise Dienstag um 2.34 Uhr, direkt vor dieser wichtigen Matheklausur.
Das nächste große Ding ist aus meiner Sicht dieses Ende des Silos. Und das Zerfallen der Kommunikationsräume. Mehr Text bei Medium. Das ich ohnehin für eines der spannendsten Dings zurzeit halte. Mehr Bilder bei Instagram. Das weiterhin sehr wächst unter Jugendlichen und unter Erwachsenen. Starkes Ausdifferenzieren von Verhaltenweisen auf Twitter. Das damit mehr und mehr wirklich zur Infrastruktur wird und sich wegentwickelt von allem, was daran mal communityartig gewesen wäre.
Meine Drohung: Ich bleibe an diesem Thema dran. Denn ich merke, wie sehr es für viele andere noch neu ist. So wie für den Teilnehmer an der Tagung letzte Woche, der verzweifelt auf mich zu kam, weil einige Tage vorher gerade seine große Jugendkampagne gestartet war. Auf Facebook. Und mit SMS.
Ceterum censeo: Wer glaubt, mit Facebook Jugendliche zu erreichen, schreibt denen wohl auch noch SMS
Was ich aber weiß, ist, wie sich das Onlineleben bei Jugendlichen zurzeit verändert. Daraus lassen sich schon einige Rückschlüsse ziehen. Einige erste Gedanken hatte ich letzten Monat schon einmal auf englisch aufgeschrieben und zur Diskussion gestellt. Und letzte Woche spontan daraus einen Vortrag auf der Fachtagung Social Media der depak gehalten. Lustigerweise als Ersatz für einen Facebook-Vortrag. Aber abgesehen davon waren dieses hier die Folien, die ich dafür zusammengestöpselt habe:
Mit Jugendlichen beschäftige ich mich ja sowohl beruflich als auch privat intensiv. Habe selbst drei sehr unterschiedliche zu Hause (plus ein Kind). Und bin in einigen Projekten involviert, bei denen wir Jugendliche kommunikativ erreichen und in einen Dialog, in eine Aktivierung bringen wollen.
Auch wenn ich weiß, dass aus dem Verhalten von Jugendlichen heute nicht auf ihre Verhalten in fünf oder zehn Jahren geschlossen werden kann, sind doch die Dinge, denen sie sich entziehen, die sie nicht machen ,spannend. Ebenso wie die Dinge, die sie für sich anders nutzen oder entdecken.
Twitter beispielsweise. Seit Beginn dieses Jahres mit enormen Zuwachsraten unter Jugendlichen, aber mit einer von meiner Nutzung sehr deutlich abweichenden Verwendung. Die nahbaren Stars dieser Generation, beispielsweise von YouTube, haben Followerzahlen, die "uns" Erwachsene mit den Ohren schlackern lassen. 50.000 junge Leute unter 16 Jahren sind da keine seltene Followschaft.
Oder dass sie vor den Vollhonks und vor dem Mobbing aus Facebook fliehen. Also Facebook anders nutzen als wir. Und sich in Räume zurück ziehen, in denen die Codes gleich sind unter denen, die da sind. In denen sie sich verstehen, ohne jedes Mal erklären zu müssen, was gemeint ist und wie es gemeint ist.
Oder dass sie mit verschiedenen ihrer Gruppen unterschiedliche Chat-Apps nutzen. Oder ganz WhatsApp lassen, weil sie auch gemerkt haben, dass ihre Eltern das schon kennen und sehen, wann sie zuletzt online waren. Beispielsweise Dienstag um 2.34 Uhr, direkt vor dieser wichtigen Matheklausur.
Das nächste große Ding ist aus meiner Sicht dieses Ende des Silos. Und das Zerfallen der Kommunikationsräume. Mehr Text bei Medium. Das ich ohnehin für eines der spannendsten Dings zurzeit halte. Mehr Bilder bei Instagram. Das weiterhin sehr wächst unter Jugendlichen und unter Erwachsenen. Starkes Ausdifferenzieren von Verhaltenweisen auf Twitter. Das damit mehr und mehr wirklich zur Infrastruktur wird und sich wegentwickelt von allem, was daran mal communityartig gewesen wäre.
Meine Drohung: Ich bleibe an diesem Thema dran. Denn ich merke, wie sehr es für viele andere noch neu ist. So wie für den Teilnehmer an der Tagung letzte Woche, der verzweifelt auf mich zu kam, weil einige Tage vorher gerade seine große Jugendkampagne gestartet war. Auf Facebook. Und mit SMS.
Ceterum censeo: Wer glaubt, mit Facebook Jugendliche zu erreichen, schreibt denen wohl auch noch SMS
7.6.13
Das Arschloch ist die arme Sau
Es gibt zwei Arten von Arschlöchern. Die, die arrogante Einzelgängerinnen sind. Und die, die sich als mainstreaminges Mobbing-Arschloch gefallen. Gegen letztere wettert Thomas Gigold.
Warum ich Thomas dankbar bin für seinen Artikel: Weil er genauer hingelesen hat als ich. Weil ihm auffiel, dass es zwar launig klang und harmlos, dass es das aber nicht ist. Und weil es eben nicht um eine raue Schale mit einem weichen Kern geht - sondern weil die beiden zwar mehr oder weniger sagen, dass sie so nicht mehr sind (so verstehe ich Felix' Kommentar in Thomas' Blog), aber eben weitgehend unkritisch davon berichten, dass sie als junge Leute echt arme Säue waren mit sehr wenig Selbstwertgefühl.
Denn zum Mobbing wird Arschlochsein ja erst, wenn sich die Arschlöcher in der Gruppe verstecken. Wenn sie nicht arrogant-einsam sind sondern armselig-angepasst. Und genau da setzt das ein, was meine Großmutter "Herzensbildung" nennt. Was nach meiner Erfahrung aber weniger mit Bildung als mit Charakter zu tun hat. Und sich schon früh ausbildet. Zumal ein arme-Sau-Sein keine Entschuldigung ist für irgendwas.
Ich weiß, dass es ein schmaler Grat ist. Sozusagen auch aus eigener Erfahrung. Vielleicht hat mich vor der arme-Sau-Variante des Arschlochs nur geschützt, dass ich immer Außenseiter war, wer weiß. Vielleicht aber auch, dass ich meine Arschlochanfälle eher auf die Mainstreamanführerinnen gerichtet habe. Und richte.
Kritik, auch harte Kritik, auch unsachliche Kritik, auch Kritik, die persönlich wird, ist das eine. Ein lapidares mehr oder weniger unbeteiligtes Reden darüber, dass ich jemanden von der Schule gemobbt habe, etwas anderes.
***
Wie schmal der Grat ist, habe ich selbst vor etwa zwei Jahren erlebt. Ich hatte mich längere Zeit schon mehr oder weniger offen, aber immer öffentlich und mit offenem Visier über einen Mainstreamanführer lustig gemacht, den ich für schlecht hielt in dem, was er tat. Also qualitativ und intellektuell schlecht, als Menschen konnte ich ihn nicht beurteilen. Und mich mit Lust und Freude in sinnlose Diskussionen, teilweise über Bande, geworfen.
Irgendwann hörte ich, dass er sich von mir verfolgt fühle und glaube, ich hätte mich mit zwei anderen gegen ihn verschworen. Das hat mich tatsächlich erschreckt, denn das war weder mein Ziel noch mein Wunsch. Und das macht mich auch nicht stolz, vor allem nicht, dass ich das nicht merkte. Ich denke, dies war tatsächlich hart an der Grenze zum Mobbing, vielleicht auch über die Grenze hinüber. Jedenfalls habe ich in dem Moment alle Kommunikation mit ihm eingestellt, ihn aus allen Strömen herausgenommen, auf denen er mir begegnen könnte, ihn blockiert, so dass er nichts von mir in den falschen Hals bekommen kann oder auf sich beziehen kann, was nicht auf ihn bezogen ist, und so weiter.
Das Thema beschäftigte mich weiter. Und zeigte mir, dass auch eine eigene große Reichweite (seine ist sehr viel größer als meine) nicht immunisiert.
Warum ich dies jetzt, zwei Jahre später, schreibe? Weil ich zwar empört und entsetzt bin aber nicht selbstgerecht sein will. Weil es einen Unterschied macht, ob ich aus eigener Bosheit oder Freude oder Arschlochigkeit schreibe/handele oder weil ich mich damit in einer Gruppe positioniere. Und weil ich sicher bin, dass ein Aufhören schwerer ist, wenn ich eine arme Sau bin, die ihr Selbstbewusstsein aus der Anerkennung in der Gruppe und auf Kosten anderer zieht.
Arschloch sein hat in meinen Augen nichts damit zu tun, kaltherzig auf Menschen herum zu trampeln. Ihr beiden macht aber gerade genau diesen Eindruck. Prima, wirklich. (Ihr Arschlöcher)Er richtet sich (und um das gleich zu sagen: ich stimme ihm aber so was von zu) gegen zwei Leute, die ich in ihrer rotzfrechen und arroganten Art eigentlich sehr schätze. Und die ich ja nun auch schon seit rund zehn Jahren online und offline kenne. Und auch als Typen tatsächlich schätze, weshalb ich Thomas' Irritation auch teile. Felix Schwenzel und Robert Basic.
Warum ich Thomas dankbar bin für seinen Artikel: Weil er genauer hingelesen hat als ich. Weil ihm auffiel, dass es zwar launig klang und harmlos, dass es das aber nicht ist. Und weil es eben nicht um eine raue Schale mit einem weichen Kern geht - sondern weil die beiden zwar mehr oder weniger sagen, dass sie so nicht mehr sind (so verstehe ich Felix' Kommentar in Thomas' Blog), aber eben weitgehend unkritisch davon berichten, dass sie als junge Leute echt arme Säue waren mit sehr wenig Selbstwertgefühl.
Denn zum Mobbing wird Arschlochsein ja erst, wenn sich die Arschlöcher in der Gruppe verstecken. Wenn sie nicht arrogant-einsam sind sondern armselig-angepasst. Und genau da setzt das ein, was meine Großmutter "Herzensbildung" nennt. Was nach meiner Erfahrung aber weniger mit Bildung als mit Charakter zu tun hat. Und sich schon früh ausbildet. Zumal ein arme-Sau-Sein keine Entschuldigung ist für irgendwas.
Ich weiß, dass es ein schmaler Grat ist. Sozusagen auch aus eigener Erfahrung. Vielleicht hat mich vor der arme-Sau-Variante des Arschlochs nur geschützt, dass ich immer Außenseiter war, wer weiß. Vielleicht aber auch, dass ich meine Arschlochanfälle eher auf die Mainstreamanführerinnen gerichtet habe. Und richte.
Kritik, auch harte Kritik, auch unsachliche Kritik, auch Kritik, die persönlich wird, ist das eine. Ein lapidares mehr oder weniger unbeteiligtes Reden darüber, dass ich jemanden von der Schule gemobbt habe, etwas anderes.
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Wie schmal der Grat ist, habe ich selbst vor etwa zwei Jahren erlebt. Ich hatte mich längere Zeit schon mehr oder weniger offen, aber immer öffentlich und mit offenem Visier über einen Mainstreamanführer lustig gemacht, den ich für schlecht hielt in dem, was er tat. Also qualitativ und intellektuell schlecht, als Menschen konnte ich ihn nicht beurteilen. Und mich mit Lust und Freude in sinnlose Diskussionen, teilweise über Bande, geworfen.
Irgendwann hörte ich, dass er sich von mir verfolgt fühle und glaube, ich hätte mich mit zwei anderen gegen ihn verschworen. Das hat mich tatsächlich erschreckt, denn das war weder mein Ziel noch mein Wunsch. Und das macht mich auch nicht stolz, vor allem nicht, dass ich das nicht merkte. Ich denke, dies war tatsächlich hart an der Grenze zum Mobbing, vielleicht auch über die Grenze hinüber. Jedenfalls habe ich in dem Moment alle Kommunikation mit ihm eingestellt, ihn aus allen Strömen herausgenommen, auf denen er mir begegnen könnte, ihn blockiert, so dass er nichts von mir in den falschen Hals bekommen kann oder auf sich beziehen kann, was nicht auf ihn bezogen ist, und so weiter.
Das Thema beschäftigte mich weiter. Und zeigte mir, dass auch eine eigene große Reichweite (seine ist sehr viel größer als meine) nicht immunisiert.
Warum ich dies jetzt, zwei Jahre später, schreibe? Weil ich zwar empört und entsetzt bin aber nicht selbstgerecht sein will. Weil es einen Unterschied macht, ob ich aus eigener Bosheit oder Freude oder Arschlochigkeit schreibe/handele oder weil ich mich damit in einer Gruppe positioniere. Und weil ich sicher bin, dass ein Aufhören schwerer ist, wenn ich eine arme Sau bin, die ihr Selbstbewusstsein aus der Anerkennung in der Gruppe und auf Kosten anderer zieht.
30.5.13
Bildung oder Untertanen
Als ich meine Überlegungen zum Informatikunterricht schrieb, war mir gar nicht klar, dass das aktuell ist. Dass bei der Zerschlagung des Naturwissenschaftsunterrichts an Hamburger Stadtteilschulen die Informatik für alle dran glauben muss. Es schloss sich dann gestern und heute unter Leuten, die sich in Hamburg mit Bildungspolitik beschäftigen, eine teilweise interessante, teilweise abstruse Diskussion an. Wie so oft mit einem unbestreitbaren Highlight: Herrn Walter Scheuerl (für Nichthamburgerinnen: der Anwalt, der die Elbvorortemuttis gegen die Primarschule mobilisierte und mit dem sich jetzt die CDU-Fraktion in der Bürgerschaft rumärgern muss, zugleich Vorsitzender des Schulausschusses des Parlaments).
Und dass es bei Informatik zum anderen um etwas anderes geht. Es geht darum, dass wir Rüstzeug bekommen, einige der wichtigsten und mächtigsten Ordnungssysteme unserer Welt nachvollziehen zu können. Nicht um mehr. Im Sinne des exemplarischen Lernens (ok, das werden ideologisch vernagelte Leute, die sich mit Bildung beschäftigen, auch nicht wollen oder verstehen) kann dabei helfen, eine oder mehrere Programmiersprachen zu lernen, einen aktiven und - vor allem - passiven Wortschatz zu entwickeln, um Code zu lesen und sich nicht von Expertinnen abspeisen zu lassen, wenn ich Fragen habe.
Wer nicht wenigstens rudimentäre Kenntnisse darin hat, Code zu lesen (nicht zwingend zu programmieren), ist künftig diesen so genannten Expertinnen genau so ausgeliefert, wie jemand, die nicht die Grundzüge des Zinsrechnens gelernt hat oder (beispielsweise anhand von Sprachunterricht) Quellen- und Kulturzusammenhänge. Was also offenbar will, wer so vehement wie Scheuerl und andere (auch in anderen Parteien, auch in meiner) gegen einen flächendeckenden Informatikunterricht agitiert, sind Untertanen.
Also das Gegenteil von Bildung. Bildung hat immer das Ziel, Menschen mündig und unabhängig zu machen. Das unterscheidet Bildung von Ausbildung. Anders als die Forderung von Handelskammer und Unternehmen nach Informatik- und Wirtschaftsunterricht vermuten ließen, geht es am Ende bei diesen Fächern gar nicht um Ausbildung, um Berufsfähigkeit. Sondern um ein im Kern humanistisches Bildungsideal.
Darum, die Welt zu verstehen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Darum, die Chance zu bekommen, die Einlassungen so genannter Expertinnen zu überprüfen. Ihren Code lesen zu können, ihre Rechnung nachvollziehen zu können, ihre Prognosen mit der Vergangenheit zu vergleichen.
tl;dr
Zu einer Bildung im klassischen Sinne, die für die heutige Welt ihre Aufgabe erfüllen kann, gehört neben Latein und Englisch und Mathe und Lesen eben auch Informatik.
Was mich an der Diskussion so ärgert, ist, dass zum einen so viele Dinge vermischt werden, dazu mein Beitrag neulich. Medienerziehung, Medienkritik etc. und Informatik sind zwei paar Schuhe, wiederhole ich auch gerne noch mal.@jmwell @hschmidt die "digitale Revolution" ist weitgehend abgeschlossen, Informatik wie andere Spezialbereiche der Physik etwas für wenigeDieser Tweet ist nur einer von vielen, die zwar wirken, als wäre da schon eine von mir auch oft bevorzugt Flüssigkeitsaufnahme vorher erfolgt, aber nach Auskunft einer sicheren Quelle nüchtern aus der Bürgerschaft heraus erfolgten. Andere Höhepunkte waren Hinweise darauf, dass Informatik nur was für Experten und dass das gesamte Thema eh seit 2000 gescheitert sei. Lest einfach mal Scheuerls Tweets, wenn ihr stark genug seid. Mir geht es an sich nicht um diesen Mann und seine Groupies, denn die Argumente sind bis in meine Partei populär und werden heute auch vom Sprecher des Schulsenators im Abendblatt benutzt, der wiederum bis vor kurzem oberster Elternvertreter der Stadt war.
— Walter Scheuerl (@Walter_Scheuerl) 29. Mai 2013
Und dass es bei Informatik zum anderen um etwas anderes geht. Es geht darum, dass wir Rüstzeug bekommen, einige der wichtigsten und mächtigsten Ordnungssysteme unserer Welt nachvollziehen zu können. Nicht um mehr. Im Sinne des exemplarischen Lernens (ok, das werden ideologisch vernagelte Leute, die sich mit Bildung beschäftigen, auch nicht wollen oder verstehen) kann dabei helfen, eine oder mehrere Programmiersprachen zu lernen, einen aktiven und - vor allem - passiven Wortschatz zu entwickeln, um Code zu lesen und sich nicht von Expertinnen abspeisen zu lassen, wenn ich Fragen habe.
Wer nicht wenigstens rudimentäre Kenntnisse darin hat, Code zu lesen (nicht zwingend zu programmieren), ist künftig diesen so genannten Expertinnen genau so ausgeliefert, wie jemand, die nicht die Grundzüge des Zinsrechnens gelernt hat oder (beispielsweise anhand von Sprachunterricht) Quellen- und Kulturzusammenhänge. Was also offenbar will, wer so vehement wie Scheuerl und andere (auch in anderen Parteien, auch in meiner) gegen einen flächendeckenden Informatikunterricht agitiert, sind Untertanen.
Also das Gegenteil von Bildung. Bildung hat immer das Ziel, Menschen mündig und unabhängig zu machen. Das unterscheidet Bildung von Ausbildung. Anders als die Forderung von Handelskammer und Unternehmen nach Informatik- und Wirtschaftsunterricht vermuten ließen, geht es am Ende bei diesen Fächern gar nicht um Ausbildung, um Berufsfähigkeit. Sondern um ein im Kern humanistisches Bildungsideal.
Darum, die Welt zu verstehen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Darum, die Chance zu bekommen, die Einlassungen so genannter Expertinnen zu überprüfen. Ihren Code lesen zu können, ihre Rechnung nachvollziehen zu können, ihre Prognosen mit der Vergangenheit zu vergleichen.
tl;dr
Zu einer Bildung im klassischen Sinne, die für die heutige Welt ihre Aufgabe erfüllen kann, gehört neben Latein und Englisch und Mathe und Lesen eben auch Informatik.
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