19.6.12

Was bist du denn für ein Deutscher?

Das fragte ein Jugendlicher seinen Freund, als der meinte, er wäre für Dänemark. Sonntag, vor dem letzten deutschen Gruppenspiel der Fußballeuropameisterschaft. Interessant an der Situation (ich weiß, interessant ist ein Wort, das nichts sagt, aber hier trifft es das in seiner ethischen Indifferenz) war, dass der Junge landläufig wohl als "eher links" zu bezeichnen ist, auch wenn "eher links" unter Jugendlichen heute nichts ist, was eine Linke in meinem Alter auch nur entfernt mit diesem Wort verbindet. Auf jeden Fall ist er bisher nicht durch Chauvinismus aufgefallen oder mit der Neigung zur Anerkennung von Autoritäten.

Und trotzdem geht das gar nicht. Mit dem Satz "Was bist du denn für ein Deutscher" überschreitet dieser Junge eine Linie, auch wenn er das eher unbewusst und ohne Hintergedanken tat.

Die Episode illustriert sehr schön, warum ich den grassierenden Fußball-Patriotismus (der eigentlich eher Fußball-Nationalismus ist) so ekelhaft finde. Übrigens in jedem Land, nicht nur in dem, in das ich hineingeboren wurde, dessen Staatsbürger ich bin. Unter dem Deckmantel des Fußballs finden Abgrenzungen statt, die ich nicht will. Und die ich für tatsächlich gefährlich halte.

Schon nach der Euphorie 2006 gab es jede Menge Analysen und Studien darüber, dass die Unterscheidung von (gutem) Patriotismus und (bösem) Nationalismus ein Märchen ist.
Große Empfehlung: Folgt den Links, der erste Artikel (2006 in der Süddeutschen) ist von Toralf Staud, dem profundesten Kenner nationalistischer Bewegungen in Deutschland und ein Garant für unaufgeregte Qualität, der zweite, ebenfalls aus der Süddeutschen (2007), fasst einige Forschung zusammen. Beide habe ich über Erik wiedergefunden.  
Auffällig ist ja, dass Menschen, die "für Deutschland" jubeln, eben als Kollateralschaden sehr oft durchaus sowohl autoritäre und abgrenzende Haltungen entwickeln als auch einen ihre eigenen Unzulänglichkeiten überdeckenden Stolz, der - betrachtet man ihn genauer - durchaus ein kollektiver Narzissmus im Sinne Adornos ist.

Nun weiß ich als Vater von vier Kindern (darunter drei Jungs), dass Egoprothesen in vielen Phasen der Entwicklung wichtig sind. Auch das Bewaffnen mit Stöcken und Schwertern hat ja für Kinder eine wichtige Funktion in der Ausbildung ihres Selbstwertgefühls, was ich erst lernen musste. Aber Autobikinis, Flaggenmasten oder Farben im Gesicht bei Heranwachsenden oder Erwachsenen, so sehr dies eben jene Egoprothesen sein mögen, sind doch ein ein- und ausgrenzendes Element, das für alle, die dem vorpubertären Kindesalter (vier bis acht Jahre in etwa, insbesondere bei Jungs, da findet diese erste hormonelle Umstellung statt) entwachsen sind, Gefahren für unsere Gesellschaft mit sich bringt. Und sei es in so unüberlegten Sätzen wie dem jenes Jungen, der ja auch nicht von ungefähr kommt. Er ist geprägt von der nationalistischen (und eben nicht "gut patriotischen") Stimmung auf unseren Straßen, in unseren Schulen und so weiter.

Die konkreten Deformationen (seelisch und gesellschaftlich), denen dieser Fußballnationalismus Ausdruck verleiht, hat Dagmar Schediwy in der Jungle World eindrucksvoll beschrieben. Trotz des Publikationsortes (den ich in seiner antideutschen Attitüde auch nicht mag und schräg finde) übrigens ein mehr als lesenswerter Beitrag, auf den Julia aufmerksam machte - und der auch gleich noch einen Erklärungsansatz mitliefert, warum so viele junge Leute nicht nur nationalbesoffen sind sondern auch zu (mindestens gefühlten) Burnouts neigen.

8.6.12

Kein Gott im Netz

Endlich darf ich Sascha Lobo mal widersprechen. Und zwar seiner aktuellen Kolumne bei SpOn, in der er Feuilletonisten widerspricht, die dem Umgang einiger mit dem Internet religiöse Züge vorwerfen.

Schon an dieser Formulierung ist mein Widerspruch festzumachen. Denn im Prinzip stimme ich Sascha zu. In der Tat, es ist "kein Gott im Netz". In der Tat, das Internet ist eine Aufklärungsmaschine. Und tatsächlich, dem Internet selbst ist alles Metaphysische fremd. Das aber ist aus meiner Sicht nicht der Punkt. Die Kritik, die sich hinter dem Religionsvergleich verbirgt, ist keine Kritik am Internet als Technologie oder Lebens- und Gedankenraum. Sondern sie ist eine Kritik am Umgang einer Gruppe von Menschen mit dem Internet, die ich als Technikpositivistinnen bezeichnen möchte. Und sie ist verwandt mit der Kritik, die ich an der Naivität von Piratinnen und anderen in ethischen Dingen geübt habe, als ich ihnen neulich naturalistische Fehlschlüsse vorwarf.
Vielleicht vorweg ein ganz kleines bisschen ausgeholt, sorry, dass ich einmal den Theologen raushängen lasse. Religion ist von Glaube und von Theologie zu trennen und werde ich immer auch mit einer ideologiekritischen Brille betrachten. Religion ist auch für mich als Christen, der zu einer eher orthodoxen Glaubensrichtung gehört, kein an sich positiver Begriff. Als religiös bezeichne ich eine Haltung, die heteronom ist, also mindestens eine wesentliche Komponente der Sinnstiftung oder des Sinnzusammenhangs als uns Menschen entzogen versteht. Sei es einem Gott, sei es dem Weltgeist, sei es den Naturgesetzen, sei es dem Internet.
Am Schluss seiner Kolumne kommt Sascha ja auch tatsächlich auf genau diesen Punkt - dass es nicht um das Göttliche im Netz geht (was für eine absurde Vorstellung wäre das auch) sondern um die Vergötzung des Netzes. So wie Luther den Papismus (also den Katholizismus) als Götzendienst brandmarkte, um den Bogen zu Matussek zu spannen.

Wo aber genau diese Vergötzung einsetzt, bekommt der Umgang mit dem Netz religiöse Züge. Das sehe ich überall da, wo "das Internet" als gegeben, als "so ist es", angesehen wird. Wo eben genau das, was Sascha den Feuilletonisten entgegenruft, von den Jüngerinnen des Götzen Internet nicht beachtet wird: Dass es komplett menschengemacht ist - und damit eben gerade nicht unser Handeln heteronom bestimmt. Selbst wenn die Einzelne sich ihm ausgeliefert fühlt und sich - individuell - als eben nicht autonom gegenüber diesem Netz empfindet.

Der Umgang vieler auch intelligenter und erwachsener Menschen mit dem Internet ist da tatsächlich wie vor der Aufklärung. Bevor mehr und mehr Menschen sich aus ihrer (selbst oder nicht selbst verschuldeten) Unmündigkeit befreit, sich gegenüber einer Macht autonom verhalten haben. Jede Argumentation mit "Sachzwängen" ist im Kern religiös. Jedes Argument, das  - etwas verkürzt - "das Internet" und seiner Funktionsweise als Begründung heranzieht, ist im Kern religiös, weil heteronom.

Ich nehme an, dass Sascha und ich uns einig sind, wenn wir das doof finden. So verstehe ich seine Gegenrede. Aber deshalb ist doch der religiöse Eifer bei allzu vielen allzu verbreitet. Und in der Vereinfachung des Feuilletonboulevards müssen für diese "vielen" die Piratinnen als Chiffre herhalten.

7.6.12

Ein Grund, um dankbar zu sein

Genau ein Jahr war es gestern her, dass ich dieses schrieb:
Es zerreißt mir das Herz
Da steht es. Ein Häufchen Elend, ganz gelb, schmal, klein. Und guckt schüchtern von unten hoch. "Ich kann Kyra nicht anstecken", sagt es leise, als wir unseren Hund nicht ganz bis an das Kind heran lassen. Nein, das stimmt. Aber vielleicht hat der Hund Keime, die zu viel sind für das zusammen gebrochene Immunsystem. Beide Ohren halten die zu große Schirmmütze auf dem kahlen Schädel, die Hose rutscht, mehr als zwei Kilo hat es verloren, dabei war es schon vorher schlank. Aber drahtig und wach und wild und aufmüpfig und manchmal nervig und präsent. 
Bei all dem war ich dennoch froh, es zu sehen. Erstmals seit Wochen wieder aus dem Krankenhaus zu Hause. Mama an der Hand, unsichere Schritte, aber frische Luft. 
Und wenn es mir das Herz zu zerreißen droht, denke ich an die Große von Freunden, die heute ein fröhlicher Teenager ist, lebendig, sportlich, intelligent. Und vor zehn Jahren ebenso vor uns stand. Ein Häufchen Elend, ganz gelb, schmal, klein.
Und gestern am späten Abend bekamen wir den Anruf, dass der Junge überraschend und spontan gesund ist. Keine Krebszellen mehr. Und das nach einer Transplantation, die nicht optimal lief. Und nachdem es weitere Krebszellen gab. Und niemand wusste, wie es weiter geht. So wie niemand genau weiß, was jetzt eigentlich passiert ist.

Eineinhalb Jahre Angst und Bangen und Hoffen finden vorerst ein Ende. Und auch, wenn das noch nicht zu 100% heißt, dass er ganz über den Berg ist: Es ist ein Grund, um zu feiern und dankbar zu sein.

(Und ihr denkt daran, euch typisieren zu lassen, falls ihr es noch nicht getan habt, oder? Hier gibt es alle Infos.)

4.6.12

Kinder, Torte, Pferde, Strand

Auch wenn es im Norden eher kalt ist zurzeit - was aber eigentlich ganz gut ist, weil es zum einen tolles Reitwetter ist (und die Spaziergängerinnen nicht so zahlreich, so dass wir zügiger tölten und galoppieren können) und zum anderen die passend zum Sommer eingerichtete Dauerbaustelle in Richtung Ostsee nicht so schlimme Folgen hat.



Nur eines beginne ich mich ernsthafter zu fragen: Ob es wirklich eine so gute Idee war, am Midsommar-Sonntag in Finnland anzukommen. Was aber die Freude auf den vielleicht letzten Familienurlaub mit allen dort in der Einsamkeit nicht schmälert.