Vor einigen Wochen habe ich in Österreich einen Vortrag halten dürfen – zum Jubiläum einer lutherischen Kirche, die in ihrer Gegend, wie überall in Österreich, in einer sehr kleinen Minderheit ist. Es war für mich ein Anlass, weiter über mein schon lange in immer neuen Varianten ventiliertes Thema der Minderheiten-Mehrheit, also der Veränderung der Gesellschaft, wenn es keine Mehrheit mehr gibt, nachzudenken.
Die Rede, die fast eine halbe Stunde dauerte und die ich im Parlament der Bundeslandes Niederösterreich halten durfte, dokumentiere ich hier leicht adaptiert, also etwas von den sehr spezifischen Passagen bereinigt, die sich auf die konkrete Kirche und ihre Situation bezogen. Am Tag nach der Rede habe ich mit rund vierzig Menschen noch einen Workshop zu dem Thema gestaltet, was weiteres sehr wertvolles Feedback bedeutete, das in das Nachdenken und Weiterschreiben einfloss und einfließt.
Vor etwa zwei Jahren habe ich angefangen, mit Gender-Gap zu sprechen, „Kolleg*innen“ zu sagen, so richtig im Alltag und in der Alltagssprache. Und es fällt mir immer noch schwer. Weil ich davor seit rund 30 Jahren eine Sprache nutzte, die wir in den 80ern in der evangelischen Kirche „geschlechtergerecht“ nannten. Viele Menschen außerhalb der Kirche sind oft total überrascht, wenn sie hören, dass auch die politisch konservativsten Christ*innen immer und ganz selbstverständlich von „Christinnen und Christen“ sprechen. Dass dieses Sprechen ohne das angebliche generische Maskulinum vollkommen unpolitisch und vollkommen normal ist im inneren Zirkel der Hochverbundenen. Dass es über etwa 30 Jahre eingeübt und zur üblichen Sprache wurde. So lange, das nur am Rande, scheint es also zu brauchen, mindestens, bis ein Sprach- und Sprechwandel in einen Automatismus ohne politischen Hintergrund führt. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte.
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Hier spricht einer, der auf den ersten Blick nur selten für ungewöhnlich oder etwas anderes als „normal“ gehalten wird. Etwas über 50, weiß, seit 30 Jahren verheiratet, Vater, evangelisch, hat dieser Text geschrieben, während er Bachs Wohltemperiertes Klavier gehört hat, Glenn Gould selbstverständlich. Geht etwas, das „normaler“ ist? Aber selbst ich finde mich in manchen Dingen und Identitäten in einer kleinen Minderheit wieder. Beispielsweise bin ich auf eine Weise Linkshänder, die meine Identität sehr stark beeinflusst. Und wir haben vier Kinder, was uns durch alle Angebote für Familien fallen lässt. Und von den inzwischen erwachsenen vier Kindern bezeichnet sich nur eines als „straight“. (Das ist das, wie diese Generation heute nennt, wer heterosexuell ist mit eindeutiger Geschlechtsidentität, die der entspricht, die bei Geburt in die Urkunde eingetragen wurde.)
Was ich damit sage:
Ja, ich bin privilegiert. Sehr sogar, wenn Sie neben allem anderen auch noch meine wirtschaftliche Situation dazunehmen. Aber bin ich „normal“, bin ich Teil einer Mehrheit? Und wenn ich nicht Teil einer Mehrheit bin – wieso bin ich dann „normal“ und andere nicht? Denn ohne diese Unterscheidung ergibt ja das Wort „normal“ keinen Sinn. Wieso wird mir von anderen „Normalität“ zugeschrieben, während ich mich als von der Mehrheit in meiner Handlungsfreiheit massiv eingeschränkten Linkshänder sehe? Wissen Sie, wie oft ich ein Werkzeug nicht bedienen kann oder auf einem Kartenlesegerät nicht unterschreiben kann? Wie sehr ich beim Design öffentlicher Orte übersehen werde?
Dieses Beispiel mögen Sie lächerlich finden. Aber was wäre, wenn es für mich nicht lächerlich ist? Wer darf das entscheiden?
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Es ist ein herausragendes Merkmal von hochentwickelten, liberalen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, dass sie sich immer weiter ausdifferenzieren. Diejenigen, die davor Angst haben, sprechen oft davon, dass sie auseinanderfallen. Was sie damit allerdings eigentlich meinen, ist, ich soll mich als Linkshänder nicht so anstellen. Die Mehrheit sei schließlich rechtshändig. Meiner Großmutter wurde darum ihre linke Hand mit Gewalt auf den Rücken gebunden. Meine Mutter wurde geschlagen, wenn sie die Schere in die linke Hand nahm. Ich musste sehen, wie ich alleine einen Weg finde, mein Schulheft nicht zu verschmieren, meine Schwester legte es darum immer quer hin und schrieb von oben nach unten, was lustig aussah. Und meine Tochter hat von ihrer Lehrerin endlich Hilfestellung und Hinweise bekommen, wie es gehen kann.
Ich habe schon ein Gefühl dafür, in welcher dieser Zeiten und Gesellschaften ich am liebsten lebe.
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Der Normalitarismus, der von den „normalen Menschen“ redet, die etwas nicht verstünden oder die du und ich im Blick behalten sollen, ist die kleine, niedliche Schwester des Autoritarismus. Und ehe wir uns versehen, wächst er zu genau dem heran. Normalitarismus ist die gut geölte Türangel zwischen den Räumen des demokratischen und des autoritären Konservatismus. Wer von „normal“ redet – was ja, wie gesagt, nur Sinn ergibt, wenn davon unterschieden etwas Nicht-Normales ist – wer also von normal redet, ist auf dem halben Weg in ein autoritäres System. Auf dem Weg weg von der liberalen Gesellschaft, die eine Gesellschaft aus lauter Minderheiten ist, die zusammen die Mehrheit bilden. In der sozusagen die Abweichung die Default-Einstellung ist.
Eine liberale Gesellschaft ist anstrengend. Vielleicht ist darum die Verlockung auch so groß, diese Anstrengung sein zu lassen und sich in eine Demokratur zu flüchten wie bei einigen unserer Nachbar*innen. Eine liberale Gesellschaft, in der all die Minderheiten nicht einfach nur schweigen sondern sprechen, ist vor allem für die anstrengend, die bisher dachten, dass sie die Mehrheit wären. Denn das ist ein Schock. Diese Menschen müssen sich auf einmal eingestehen, dass ihre Vertreter*innen recht eigentlich Identitätspolitik betreiben. Also eine Politik, die die Identität einer Minderheit als „normal“ setzt und sie zur Mehrheit erklärt. Sehen können Sie diese Form der Identitätspolitik überall da, wo Menschen beklagen, man dürfe nicht mehr alles sagen – nur weil sie erleben, dass ihnen widersprochen wird. Was andere, die schon länger oder schon immer in der Minderheit sind, schon immer genau so erleben.
Wenn jemand sich über Identitätspolitik beschwert, können Sie sicher sein, dass dieser Mensch Identitätspolitik betreibt. Nur eben für eine Gruppe, die sich für die Mehrheit hält, obwohl sie es nicht ist.
Menschen, die sich bedroht fühlen davon, dass andere etwas anders machen als sie selbst, sind die größte Bedrohung für unsere liberale Gesellschaft, denn im Grunde wollen sie sie abschaffen. Das sind die, die anderen verbieten wollen, sich anders zu verhalten oder anders auszudrücken als sie selbst. Nicht umsonst kämpfen die, die gegen die liberale Gesellschaft sind, gerade so vehement dagegen, dass Menschen offen damit umgehen und offen zeigen, wenn ihr Geschlecht ein anderes ist als jemand sagte, als sie geboren wurden. Oder dagegen, dass Menschen gendersensibel sprechen.
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Es lohnt sich, über die Schönheit und Freude nachzudenken, die sich einstellt, wenn wir die Vielfalt einer freien, hochentwickelten, liberalen Gesellschaft erleben. Es lohnt sich vor allem für Menschen, die in einem Aspekt ihres Lebens selbst in der Minderheit sind. Was ein wichtiger Baustein ihrer Identität ist, auch wenn sie sich in anderen Teilen ihrer Identität wahrscheinlich nicht als Minderheit empfinden.
Wir können einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt der liberalen Gesellschaft leisten. Vielleicht müssen wir es sogar. Denn das, was viele Minderheiten erleben, vor allem solche, die ausgegrenzt und unterdrückt werden, ist, dass eine Minderheiten-Identität sie sensibel sein lässt für die Erfahrungen anderer Minderheiten. Das, was die Feind*innen der liberalen Gesellschaft so stört und was sie seit einiger Zeit als „woke“ diffamieren, ist ja genau dies. Dass Minderheiten sich nicht mehr so leicht gegeneinander ausspielen lassen, seit es keine Mehrheit mehr gibt sondern viele Minderheiten zusammen die Mehrheit bilden.
Ich denke, dass es die Aufgabe einer Minderheit ist, die wenig bis keine Unterdrückung oder Vorurteile im Alltag erfährt, deren Mitglieder oft in anderen Aspekten ihrer Identität zu privilegierten Gruppen gehören, in Solidarität mit anderen Minderheiten für Achtsamkeit und Aufmerksamkeit einzutreten. Im Verständnis für eine Identität als Minderheit, weil wir selbst eine haben, dem Normalitarismus entschlossen entgegenzutreten. Und die liberale Gesellschaft zu feiern und zu verteidigen – weil auch wir nur in einer liberalen Gesellschaft unsere Identität als Minderheit leben können.
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Was eine liberale Gesellschaft von einer autoritären unterscheidet, ist, dass sie keinen Normalitarismus kennt und keine Leitkultur und Mehrheit. Dass Minderheiten keinen „Schutz“ brauchen, weil sie, die liberale Gesellschaft, auf der Übereinkunft beruht, Regeln zu schaffen, die fair sind. In diesem Sinne ist es für unsere Gesellschaft ein unglaublicher Glücksfall, dass es keine Mehrheit mehr gibt – sondern eine Zeit der Minderheiten-Mehrheit angebrochen ist.
Ich habe lange gebraucht, um mit dem großen liberalen Denker John Rawls warm zu werden, weil ich sein Modell, wie es zu einem Gesellschaftsvertrag kommen sollte, für naiv hielt. Das war allerdings, bevor ich sah, dass die Mehrheit verschwand. Heute feiere ich darum seine Weitsicht. Und Menschen, die zu einer Minderheiten-Identität gehören, sind bestens vorbereitet darauf, sich auf sein Modell einer liberalen Gesellschaft einzulassen.
John Rawls‘ Kerngedanke für eine liberale Gesellschaft ist ein Gesellschaftsvertrag, in dem sich diese Gesellschaft „Regeln der Fairness“ gibt. Damit es ohne Hauen und Stechen zu so einem fairen Vertrag kommt, arbeitet Rawls mit einem so genannten „Schleier des Nicht-Wissens“. Und das geht in etwa so (jetzt grob und holzschnittartig):
Wenn die zusammenkommen, die den Vertrag aushandeln sollen für die Regeln, nach denen wir zusammenleben wollen, versetzen sie sich in eine Art „Urzustand“. Das heißt, dass sie stellvertretend Fairness herzustellen versuchen, ohne dass sie wissen, wer sie selbst später in der Realität konkret sein werden. Ob sie reich sind oder arm, weiß oder schwarz, jung oder alt, evangelisch oder katholisch, und so weiter. Die Menschen, die verhandeln, legen also den „Schleier des Nicht-Wissens“ an. Das heißt, sie müssen und werden in diesem Modell Regeln zustimmen, ohne zu wissen, ob die ihnen etwas geben oder wegnehmen, einmal ganz praktisch gesprochen. Gemeinsam, ohne dieses Wissen, im Urzustand, so Rawls‘ Idee, einigen wir uns auf Regeln, die für uns alle gelten.
Das Denkmodell ist darum so charmant und – heute würde ich sagen – so auf den Punkt, an dem wir als Gesellschaft stehen, weil nur Regeln, die ich auch dann gut finde, wenn ich in der Minderheit bin, akzeptabel für mich sein werden. So wie für alle anderen. „Fair“, nennt John Rawls das.
In einer Welt wie heute, wo es keine Mehrheit mehr gibt, die einfach die Regeln unwidersprochen machen kann, auch wenn einige, die denken, dass sie noch in der Mehrheit seien, sich so verhalten, als ob es so wäre... In dieser Welt von heute würden wir vielleicht sogar den Schleier des Nicht-Wissens kaum noch brauchen. Zumindest die, die bereit sind, sich einerseits auf Fakten und nicht auf gefühlte Wahrheiten zu verlassen; und andererseits auf das autoritär-libertäre Modell zu verzichten bereit sind, nach dem alles gut ist, das mir und nur mir nutzt.
Ein Modell, das sich gegenwärtig ja leider noch in der verbreiteten Klientel-Politik niederschlägt – und gegen das Rawls schon damals und auch gegen seine eigene Gruppe, die Liberalen, angeschrieben hat. Weil er den Liberalismus retten – und zugleich dem populären Modell seiner Zeit etwas entgegensetzen wollte, das von Konservativen und Linken gleichermaßen favorisiert wurde, dem Kommunitarismus. Darum adressierte er Fragen der Gerechtigkeit. Die er liberal als Fairness übersetzte, auch wieder etwas grob und holzschnittartig widergegeben von mir jetzt.
Eine moderne Adaption von Rawls Theorie der Gerechtigkeit und vom Urzustand und vom Schleier des Nicht-Wissens sehe ich übrigens in den so genannten „Bürger*innen-Räten“, wie sie in Frankreich und in einigen deutschen Bundesländern ausprobiert wurden und beispielsweise von Robert Habeck in seinen Büchern immer wieder in die politische Diskussion eingebracht werden: zufällig zusammengeloste Menschen, die Regeln und Verträge entwickeln. Diese Räte mit Zufallsprinzip können nur funktionieren, wenn es eben keine Mehrheiten mehr gibt sondern eine Minderheiten-Mehrheit. Sonst hätten sie ja keinen Vorteil als Ergänzung zu Parlamenten.
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Noch nicht alle liberalen, hochentwickelten Gesellschaften sind in der Situation angekommen, dass es keine Mehrheit mehr gibt. Aber in allen ist der Weg dahin unumkehrbar. Und manchmal muss ich etwas genauer hinsehen, damit ich erkenne, wie weit wir schon sind. Einiges sieht auf den ersten Blick so aus, als gäbe es noch einfache Mehrheiten in der Identitätsfrage, auch wenn es nicht mehr so ist.
In den USA ist wie so oft die Entwicklung besonders deutlich zu sehen. Denn dort ist sowohl die polykulturelle Gesellschaft als Nachfolgerin der multikulturellen Gesellschaft schon volle Realität – als auch die Diskussion darum und der teilweise gewalttätige Widerstand einer in die Minderheit gerutschten weißen evangelikalen Mittelschicht massiv. Und tatsächlich erleben wir dort ja gerade die massiven Anpassungsschwierigkeiten der Gesellschaft an die neue Realität. Bis dahin, dass sich Teile dieser evangelikalen Mittelschicht bewusst aus der Gesellschaft verabschieden.
Hier bei uns sehen wir das auch, auch hier gibt es sich extrem radikalisierende Christianist*innen, aber es ist schwächer. Der Ausgang der Präsidentenwahl in Österreich, die letzten Landtagswahlen in Deutschland, der Versuch der österreichischen Konservativen, der Volkspartei, sich vom radikalisierten Konservatismus und dem Führerprinzip zu erholen – all das macht Mut, dass es uns gelingen kann, den Übergang in die Minderheiten-Mehrheit ziviler zu gestalten als in den USA. Auf der religiösen Seite helfen dabei sicher auch die volkskirchlichen Konzepte, die bei uns stark sind – und zunehmend auch die Erfahrung von Christ*innen, in der Minderheit zu sein.
Der weiteren Liberalisierung der Gesellschaft, der weiteren Demokratisierung, der weiteren polykulturellen Ausdifferenzierung statt multikulturellen Vermischung zuzusehen, macht einigen Angst, vor allem denen, ich erwähnte es, deren alte Gewissheiten von dem, was „normal“ sei, verloren gehen. Anderen, wie mir, macht es Freude und Mut. Und ich halte es für keinen Zufall, dass es gerade jetzt passiert. Und das hängt mit dem Internet zusammen, das dazu führt, dass Menschen, deren Identität zu einer Minderheit gehört, sich gegenseitig sehen.
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In der Geschichte unserer Gesellschaften hat jede Medienrevolution a la long zu einem Mehr an Vielfalt und zu einer stärkeren Ausdifferenzierung geführt. Denn neue Medien haben immer erlaubt, dass neue und andere Menschen als bisher publizieren konnten. Und dass sie Botschaften entlang sozialer Signale austauschten – und sich dadurch entlang dieser Signale Identitäten und Meinungen synchronisieren konnten. Social Networks sozusagen:
- Das war mit dem „Social Network“ des römischen Briefeschreibens so, von dem wir in unserer Tradition mit den Briefen des Paulus bis heute wissen.
- Das war mit den Pamphleten Luthers und anderer Reformatoren so, die halfen, Minderheiten und Menschen, die sich für sehr vereinzelt hielten, miteinander zu vernetzen.
- Das war mit dem Journale-Netzwerk nordamerikanischer Prediger so, über das der revolutionäre Funke in alle Ecken der Kolonien getragen wurde.
Immer ging und geht es in diesen Netzwerken aus sozialen Signalen darum, Menschen miteinander zu verbinden, die etwas gemeinsam haben – oft etwas, das sie von ihrer Umgebung unterscheidet. Minderheiten. Das unterscheidet diese Netzwerke von Massenmedien, mit denen die, die Zugang zu ihnen haben und die sie herstellen können, ebenfalls Identitäten und Meinungen nach ihrer Fasson synchronisieren können. Und so Normalitarismus produzieren. Diktaturen und autoritäre Gesellschaften brauchen genau darum Massenmedien. Freie, liberale Gesellschaften brauchen dagegen Netzwerke aus sozialen Signalen.
Für unsere Zeit hat das vor vielen, vielen Jahren im Grunde mit eBay begonnen. Als es möglich wurde, dass ich den einen Menschen finde, der sich für mein merkwürdiges schwarzes Eisenbettgestell interessieren könnte, auch wenn er in Schweden lebt, so dass ich es dieser Person verkaufen kann. Später haben dann Menschen mit Ideen und Meinungen angefangen zu bloggen und andere gefunden, die es lesen wollten und mit ihnen ins Gespräch kamen. Und auf einmal merkte ich, dass ich mit meinen Ideen und Vorlieben nicht allein bin auf der Welt. Heute ist es für mich Twitter, für andere Facebook oder Instagram, wo sie genau das finden: andere, für die in ihrer Identität das gleiche entscheidend ist wie für mich – und was nicht alle, oft nicht einmal sehr viele teilen. Dass heute queere Menschen auch auf dem Land ihre Identität leben können, hängt genau damit zusammen: sie wissen, dass sie, etwas über die Grenze ihres Dorfes geschaut, nicht allein sind.
Das ist für andere anstrengend. Weil sie sich nicht mehr einreden können, dass es diese Minderheiten bei ihnen um die Ecke nicht gibt. Weil ihr schwulenfeindlicher Witz oder ihr Lachen über das Dritte Geschlecht nicht mehr von allen anderen hingenommen wird.
Zugleich aber ermutigt es Menschen, etwas zu sagen, wenn sie sich verletzt fühlen, denn sie sind nicht allein. Oder zu widersprechen, wenn jemand – beispielsweise mit der Begründung „das haben wir immer schon so gemacht“ oder „ich lass mir doch nicht verbieten, was ich sage“ – unsensibel und verletzend wird.
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Ich meine:
Eine Gesellschaft, in der Menschen für ihre Identität einstehen, ist eine bessere Gesellschaft. Ebenso eine Gesellschaft, in der Menschen, die achtsam sind und Anstand haben, nicht einfach nur schweigen – sondern für Achtsamkeit und Anstand auch werben. Eine Gesellschaft, in der ich Widerspruch ernte, wenn ich über die Interessen und Identitäten von anderen Minderheiten einfach hinweggehe, unachtsam bin, ist eine Gesellschaft, die mehr Freiheit für mehr Menschen bietet.
Bei der eigenen politischen und gesellschaftlichen Arbeit, auf kommunaler, sehr lokaler Ebene beispielsweise, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im Gemeinderat, erlebe ich, dass genau hier auch die Scheidelinie läuft. Menschen, die Anstand haben, auf der einen Seite. Solche, die ihn verachten, auf der anderen. Viel mehr als früher zwischen rechts und links entscheidet sich heute nach meiner Erfahrung an dieser Scheidelinie, mit wem ich zusammenarbeiten kann und mit wem nicht. Wer für eine freie, liberale Gesellschaft ist. Und wer lieber autoritär wäre.
Oder in einem anderen Bereich, der zu meinem Leben und meinen Aktivitäten dazu gehört, weil ich lange und immer wieder in meiner Kirche aktiv war und mitgearbeitet habe: Ich sehe, dass eine reformatorische Kirche, die in vielen Gegenden eine intensive und lange Minderheitenidentität hat, eine wichtige Treiberin sein kann hin zu einer achtsamen Gesellschaft mit Minderheiten-Mehrheit. Und auch innerhalb der Gemeinschaft reformatorischer Kirchen hat sie die Chance, eine Stimme gegen den Christianismus zu sein, der radikalisierten, politisierten Spielart autoritärer, normalitaristischer Religiosität. Das ist zwar kein Selbstläufer, wie wir in Deutschland an der sächsischen Kirche sehen, aber ich habe Hoffnung.
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Und so ende ich voller Mut und Hoffnung, dass es gut ist und gut wird, wenn Minderheiten sich ihrer Identität bewusst sind und sich zu ihrer Identität aktiv bekennen. Denn eine liberale Gesellschaft mit einer Minderheiten-Mehrheit, die in intersektionaler Solidarität Regeln der Fairness aushandelt, wie John Rawls es vorausgesehen hat, – so eine Gesellschaft wird achtsam und aufmerksam miteinander sein. Zuhören und nachfragen. Und ihre Feinde einladen, dazuzukommen. Alles, was die Feinde der hochentwickelten, liberalen Gesellschaft tun müssen, um wieder ein Teil von ihr zu sein, ist, anzuerkennen, dass auch sie in der Minderheit sind und ihr Rufen nach Normalität nur für sie selbst gelten kann.
Denn niemand will ihnen mehr wegnehmen als ihren Anspruch darauf, für alle oder auch nur die Mehrheit zu stehen. Die frühere Mehrheit darf, wenn sie will, gerne Fleisch essen. Das generische Maskulinum nutzen. Ja, sogar rassistisch denken, wenn sie will. Sie wird es nur nicht mehr für alle anderen vorschreiben können oder unwidersprochen bleiben. Das empfindet die eine oder andere als Zumutung – aber das ist die Zumutung, die jede Minderheit erfährt. Wir verhindern ja auch nicht den Fronleichnams-Umzug.
Wer selbst schon mal erlebt und erfahren, in der Minderheit zu sein, kann dabei ein Beispiel dafür geben, dass es nicht schlimm ist, eine Minderheit zu sein. Und so Botschafterin der liberalen Gesellschaft sein. Oder, wie es im zweiten Timotheus-Brief mit einem Wort heißt, das mich mein ganzes Leben begleitet: Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Achtsamkeit.
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