10.6.20

Alerta

Ich lebe am Rande einer Kleinstadt. Diese Kleinstadt ist sehr lebenswert und interessanterweise sehr divers. Sie hat eine der letzten größeren Militär-Kasernen und eine Polizei-Kaserne. Sie hat mehrere Wohnanlagen für Alte. Etliche Schulen jeder Geschmacksrichtung für eine ganze Region. Etliche lokale Handwerksbetriebe und Geschäfte haben sich zu einer "Faire-Welt"-Initiative zusammen geschlossen. 14- und 15-jährige Mädchen organisieren eine der großen Fridays-for-Future-Gruppen in der Region. Ein Volksentscheid gegen ein Inklusionshotel in bester Lage ist sang- und klanglos gescheitert.

Das alles ist noch nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der Nazi-Aufkleber an Laternenpfählen überhand nahmen. In der sich Nazis im Straßenbild breit machten. In dieser Zeit lebte ich nicht hier, ich war nie in dieser Kleinstadt. Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Und aus anderen Gegenden. Mitte der 80er war ich kurze Zeit Antifa-Koordinator im letzten Juso-Kreisvorstand, den es in meinem Hamburger Bezirk gab.

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Als vor ein paar Jahren die Rechten eine Kampagne gegen Antifaschistinnen fuhren und sich die meisten so genannten "Bürgerlichen" nicht schnell genug von ihnen distanzieren konnten – was sie ja bis heute machen –, ist einer Freundin, die damals schon in jener Kleinstadt lebte, der Kragen geplatzt.

Damals, erzählt sie, gab es ein paar junge Leute in der Stadt mit Lederjacken und bunten Haaren und Springerstiefeln. Die nannten sich Antifa. Und wenn sie und ihre Freundinnen, alle aktiv in der evangelischen Kirchengemeinde der Kleinstadt, loszogen, um unter merkwürdigen Blicken der meisten Einwohnerinnen die Nazi-Aufkleber von den Laternenpfählen abzupulen, waren diese jungen Leute die einzigen, die sich ihnen anschlossen. Und wenn sich auf der anderen Straßenseite ein paar von den Nazis aufbauten, die offen zum Straßenbild der Kleinstadt gehörten, dann waren diese jungen Leute da. Mal einfach nur so. Mal in Bewegung.

Sie war die jüngste der Frauen damals. Und keine der grauhaarigen Freundinnen ließ oder lässt etwas auf die Antifa kommen. Ohne Antifa, sagen sie, wäre diese Kleinstadt heute noch ein gefährliches Pflaster für sie, für Christinnen. Ohne Antifa hätten sich in den Jahren danach nicht die ersten Ladenbesitzerinnen zusammengeschlossen, um eine Initiative für Schutzräume und dann später für Fairen Handel zu bilden. Es waren (meist ältere) Frauen der evangelischen Kirche und die jungen Leute der Antifa, die die einzigen waren, die der beginnenden Dominanz der Nazis im Stadtbild etwas entgegensetzten.


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Sich von "der Antifa" zu distanzieren, halte ich für dumm, unpolitisch und gefährlich. Und "man" muss es sich auch leisten können. Denn seit den 80ern gab und gibt es nicht viele andere, auf die sich verlassen kann, wer Nazis entgegentritt. Fast überall (im Westen) waren es damals Aktive aus Kirchengemeinden zusammen mit jungen Leuten, die keine Angst davor hatten, dass es vielleicht auch mal wichtig sein könnte, sich (körperlich) zu wehren. Und als 2015 in unserem Stadtteil am Rand von Hamburg die größte Unterkunft für Vertriebene eingerichtet wurde und die Nazis aus den Nachbarstadtteilen ankündigten, das nicht zuzulassen, waren es junge Leute mit Lederjacken und bunten Haaren, die die Nächte im Gewerbegebiet verbrachten. Und das evangelische Gemeindehaus bewachten, das das Basislager der Helferinnen war. Und sonst niemand.



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Im ersten Kreisvorstand der Jungen Sozialdemokraten, der unseren letzten Juso-Kreisvorstand ablöste, gab es selbstverständlich keinen Koordinator für Antifa-Arbeit mehr. Ich weiß sehr genau, auf wen ich mich verlassen kann, wenn ich von Nazis bedroht werde. Und das ist ganz sicher niemand, der oder die sich von "der Antifa" abgrenzen zu müssen meint.