4.8.17

Pendlerleben


Seit wir vor einem Jahr aufs Land gezogen sind, bin ich Pendler. Ich versuche, einmal in der Woche von zu Hause aus zu arbeiten, um dann am Stück mehr zu schreiben und Präsentationen zu bauen (Dinge, zu denen ich im Büro ohnehin nicht so gut komme), aber sowohl zu den Reisen als auch zu den anderen Tagen mit dem Team und im Büro pendele ich rein nach Hamburg. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, ist das (außer zum Flughafen, weil ich da mit dem Auto die B432 reinfahre) ein Weg von etwa zwei Stunden je Richtung. So von Tür zu Tür.

In diesen Tagen muss die jährliche Pendelstatistik veröffentlich worden sein, denn meine Regionalzeitung und viele Onlinemedien sind voll mit Pendelgeschichten. Vor allem voll von Horrorgeschichten über Menschen, die krank werden, die Schlafstörungen haben, deren Beziehungen in die Brüche gehen, die leiden. Und auch bevor es bei mir mit dem Extrempendeln losging, haben mir viele Leute das Schlimmste profezeit. Nach einem Jahr frage ich mich, wieso es mir anders geht damit. Und wieso ich inzwischen bei uns auf dem Land einige Leute kenne, denen es anders geht.

Mein Eindruck aus der Erfahrung von – ja nur, aber eben auch ja, immerhin – einem Jahr reinpendeln nach Hamburg ist, dass es vor allem an zwei Dingen liegt: Zum einen daran, dass es in Schleswig-Holstein verhältnismäßig komfortabel ist, mit der Bahn zu pendeln. Und zum anderen daran, dass ich die Zeit im Zug nicht als verlorene Zeit empfinde. Was weniger mit Autosuggestion zu tun hat als mit meiner Haltung dazu.

Pendelland

Vielleicht liegt es ja wirklich daran, dass Schleswig-Holstein ein Pendelland ist. Jedenfalls hat der Regionalverkehr der Bahnen schon vor langer Zeit den integrierten Taktverkehr eingeführt, was bedeutet, dass es quasi keine Zeiten gibt, zu denen ich lange auf Bahnhöfen rumlungern muss. Ist mein Zug aus Eutin pünktlich, steht der Hamburg-Zug in Lübeck schon da. Und hat der Zug aus Eutin bis zu 10 min Verspätung (was durch einspurige Streckenabschnitte vorkommen kann), dann bekomme ich den trotzdem noch bequem. Tatsächlich ist der erste nervige Punkt des Arbeitsweges die Ankunft in Hamburg – wenn tausende Pendlerinnen sich die verstopften Treppen hoch- und runterquälen. 

Der faszinierendste Effekt des Aufs-Land-Ziehens war vor einem Jahr, dass ich nach wenigen Wochen von der Hektik der großen Stadt genervt war. Und das, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, ein Vorstadtkind war, das sich sicher im Dschungel der ÖPNV bewegen kann.

Dass die Züge aufeinander abgestimmt sind und Strecken fahren, die berechenbar sind (Punkt zu Punkt) und dadurch relativ pünktlich und halbstündlich, hat einen Riesenanteil am Pendelkomfort. Außerdem spielt die Kommunikationskultur von uns Norddeutschen eine wichtige Rolle für die Entspannung beim Pendeln, glaube ich. Ja, mit denen, mit denen ich in Eutin oder in Lübeck den Zug betrete, nicke ich mir zu. Aber niemand versucht hier in Schleswig-Holstein, einen zwanghaft in Gespräche zu verwickeln. Wir sind ganz zufrieden, wenn alle da sind. Und das war es dann.

Lebenszeit

Ich habe die Fahrzeit zur Arbeit mein ganzes Leben lang als gute Zeit und Zeit für mich empfunden. Damals, als ich erst eine halbe Stunde mit dem Rad an der Alster langfuhr, um dann in die S-Bahn zu steigen. Dann, als ich die gesamte Strecke mit dem Rad fuhr und dabei Hörbücher hörte. Und auch heute, wenn ich lange Bahn fahre. Als jemand mit einem Beruf, der mit ständigen Gesprächen ausgefüllt ist, und mit einer großen Familie habe ich immer diese einzige Zeit, die ganz meine Zeit ist, genossen. Tatsächlich, auch wenn das für einige immer schwer nachzuvollziehen ist, empfinde ich bis heute Fahrzeit als meine ganz persönliche Freizeit, als Qualitätszeit, die ich auch tatsächlich für mich alleine brauche.

Interessanterweise stört mich dabei nicht, dass viele Menschen um mich herum sind – solange es fremde Menschen sind. Ich weiß, dass geht anderen anders, die öffentliche Verkehrsmittel nicht mögen genau deswegen. Aber ich kann mich sowohl sehr gut konzentrieren als auch sehr gut abschalten, wenn um nicht herum Menschen und Geräusche sind, die mich nicht betreffen.

Ich lese, höre Hörbücher, sehe Serien. Oder ich arbeite, schreibe Mails. Je nachdem. Beides etwas, das ich faktisch zu Hause weder mache noch machen will, denn da ist die Liebste, sind die Kinder, sind die Tiere und der Hof. Das ist andere Zeit. Als eher introvertierter Mensch brauche ich aber Zeit für mich – und die bekomme ich beim Pendeln.

Was schwierig ist

Es wäre gelogen, zu behaupten, dass alles supidupieasy wäre. Tatsächlich ist ein Thema, das immer wieder als Problem des Extrempendelns beschrieben wird, eines, bei dem ich auch aufpassen muss: das Essen, vor allem das Blödsinnessen. Auch, wenn ich eher nie so auf mein Gewicht geachtet habe, das auch bekloppt finde, merke ich, dass ich ein bisschen achtgeben muss, nicht weiter zuzunehmen und bewusster zu essen und nicht auf der Fahrt Dinge in mich reinzustopfen.

Und dass fünf Minuten später vom Schreibtisch weg immer gleich mindestens 30 min später Eutin bedeuten, ist manchmal doof. Dass zur Organisation des Tages bei mir auch die Fahrten gehören, musste ich erst lernen und ist auch für das Team, für das ich verantwortlich bin, ein Lernprozess gewesen. Zumal die Strecke von Hamburg nach Lübeck eine ist, die aus vielen Funklöchern besteht (lustigerweise wird die Internet- und Telefonieabdeckung der Bahnstrecke besser, je weiter ich aus dem Großraum Hamburg weg bin, schräg irgendwie, die Strecke Lübeck-Eutin ist zu einem großen Teil selbst mit Vodafone 4G), was doof ist.

Fazit

Eine ganze Menge Leute, die ich kenne, die lange Strecken pendeln und es nicht als störend empfinden, sehen das ähnlich. Eine Freundin, die jeden Tag mit dem Auto von Hamburg nach Kiel und zurück fährt, dabei im Stau steht, und es dennoch als für sich selbst wichtig Zeit empfindet. Ein Nachbar, der morgens um halb fünf mit dem Zug nach Hamburg reinpendelt und Nachmittags für die Kinder da ist.

Wenn ich abends in Eutin aus dem Zug steige und die letzten vier Kilometer zum Hof mit dem Rad oder dem Roller mache, bin ich immer noch jedes Mal glücklich über die Landschaft, die Gerüche, die Ruhe. Und wenn ich am letzten Nachbarhof vorbei bin und über den letzten Hügel komme und unser Hof mit den neuen Dach hinter der nächsten Senke liegen sehe, hüpft mein Herz.