Es ist nicht sehr populär, Tabus in Ordnung zu finden. Tue ich aber trotzdem. Ich finde gerade nicht wieder, wo ich dazu mit
Christiane vor einiger Zeit disutiert habe, ich bilde mir ein, das ist nicht lange her, naja.
Aber mir ist es immer wichtig gewesen, dass Tabus mehr als moralische Übereinkünfte oder moralische Stricke sind oder so. Tabus sind die Leitplanken, innerhalb derer ethisches Handeln auch für Nichtexperten und Nichtphilosophen verhandelbar ist, mal etwas sehr verkürzt gesagt.
Heute früh hörte ich einen beachtlichen Artikel von Susanne Gaschke aus der aktuellen Zeit (ich hab ja ab Freitags spätestens das aktuelle Zeit-Audiomagazin auf dem iPod), gerade hab ich gesehen, dass er es - zu Recht - auf Seite eins geschafft hat. Als sie auf die Funktion des Tabus zu sprechen kommt, wurde ichs ehr hellhörig, auch wenn mir der Zusammenhang und die Herleitung nicht so voll zusagt. In ihrem Beitrag über Amstetten schreibt sie:
Auf bestürzende Weise wird uns hier plötzlich klar, in welchem Maße Tabus der Kitt eines friedlichen Zusammenlebens sind, wie zentral – im Sinne des großen deutschen Soziologen Norbert Elias – die Verinnerlichung von »Fremdzwang« zu »Selbstzwang« für den Prozess der Zivilisation ist. Und wie unverzichtbar die Übereinkunft, dass »man« bestimmte Dinge niemals tut – eben Kinder zu vergewaltigen.
Beim entsetzlichen Extremfall sind sich schnell alle einig. Aber sonst zeichnen sich moderne westliche Gesellschaften eher durch eine souveräne Verachtung für Tabus aus. Inzest, wenigstens zwischen Geschwistern – warum nicht, wenn beide es wollen? Der Tod als öffentliches Spektakel – warum nicht, wenn der Aktionskünstler Gregor Schneider einen willigen Todkranken für seine Installation findet? Sex immer früher, Gewalt als übliche Zutat der Unterhaltungskultur, die Absage an jeglichen Bedürfnisaufschub – warum nicht, wenn die Leute, die Kunden es so wollen?
Der liberale Großtrend zur Tabuverachtung muss keineswegs zu den Untaten von Amstetten geführt haben. Solche Kausalitäten lassen sich sowieso niemals nachweisen. Die Leistung aller tapferen Tabubrecher sieht im Lichte dieser Untaten allerdings etwas weniger heilsam und fortschrittlich aus.
Inzest-Fall: An wieviel Horror haben wir uns bereits gewöhnt? | Nachrichten auf ZEIT online
Es ist leicht, im Sinne einer scheinbaren Liberalität Tabus als überkommene moralischer Regeln zu diffamieren, die wer auch immer uns aufdrücken will. Viel schwerer ist es, Regeln für alle verstandesmäßig zu begründen.
Tabus sind, so denke ich, tief in der Geschichte einer Gesellschaft verwurzelt, viele haben sich - wie beispielsweise die Unberührbarkeit von Kindern, die im Mittelalter noch nicht galt - erst langsam entwickelt. Tabus existieren, das fasziniert mich, jenseits unserer Rechtsnormen, auch weitgehend jenseits religiöser Normen. Wenn sie brechen, stimmt etwas Grundsätzliches nicht. Zunächst mit dem, der sie nicht kennt - aber auch mit denen, die sie aufgeben wollen.
Es muss nicht gleich das Tabu sein, Kinder oder Verwandte in die eigene Sexualität einzubeziehen. Schon das Tabu, jemanden, der am Boden liegt, weiter zu schlagen (um mal ein ganz einfacher, eigentlich "selbstverständliches" zu nehmen), wird ja von immer mehr Menschen nicht mehr gelebt.
Ich habe Angst vor einer Gesellschaft, in der es keine Tabus gibt.