24.12.11

Kevin ist nicht allein

Am letzten Schultag vor Weihnachten konnten die Kinder schon um 11 Uhr nach Hause gehen. Bis auf Kevin, denn er sollte bis um 13 Uhr bleiben, wie immer. Das geht nicht anders, seine Pflegefamilie kann vorher nicht, denn die gesamte Betreuung ist auf die verlässliche Halbtagsschule eingestellt. Tertius hat ihn mit nach Hause gebracht. "Das wäre doch wirklich doof", sagte er und rief uns kurz mit dem Notfallhandy an, um Bescheid zu sagen, dass sie zu zweit kommen. Da haben wir doch nicht alles falsch gemacht in der Erziehung.

Kevin ist ein nettes Kind, auch wenn er meistens in einer Jogginghose rumläuft. Die beiden haben den ganzen Tag wunderbar gespielt und noch Weihnachtsgeschenke für Kevin gebastelt. Und beim Abschied sagte er mit strahlenden Augen, dass er sich auf den ersten Weihnachtstag freut. Da ist er zum ersten Mal seit Monaten bei seiner Mutter, zusammen mit einigen seiner Geschwister, die in anderen Familien leben.

Einen der Tage kommt er zu uns. Darauf hat Tertius bestanden. Ich bin sehr stolz auf ihn.

Ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Ich habe keine Version von Rolf Zuckowski bei YoutTube gefunden, verzeiht, dass es Mary Roos ist.

22.12.11

Orale Tradition

(Nein, nicht was ihr wieder denkt)

Hermeneutik und orale Tradition ist ja etwas, das mir als Theologe geläufig ist. Insofern sind die PISA-Dings mit dem sinnentnehmenden Lesen für mich immer sehr spannend gewesen und bleiben es auch. Zugleich lehrt die Beschäftigung mit Erzähltradition und Überlieferung und Deutungsgeschichte, wie sehr die eigene (oft: Zwergen-) Perspektive bestimmt, was ich aus einem Text lese oder in ihn hinein.

Besonders interessant war das immer dann, wenn Epigonen eine Geschichte aus ihrer Spät-Bekehrten-Sicht betrachteten - während die Erzählenden schon längst einige Stufen weiter gezogen waren.

Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem gab es schon in den ältesten biblischen Erzähltraditionen und machen es heute so mühsam, die Kerne ihrer (Weiter- und manchmal auch Gegen-) Erzählungen zu identifizieren. Vor allem hatten es die mit der Naherwartung an Erlösung schwer, die zu verstehen, die schon länger dabei waren und schon gemerkt haben, dass die Erlösung noch etwas auf sich warten lässt.

(Das nur, weil gleich mein Weihnachtsurlaub beginnt. Und ja, dies mag auch ein Gleichnis sein)



Euch ein gesegnetes Weihnachtsfest, gehabt euch wohl, nehmt euch etwas Zeit für eure Familien, die konnten sich die meisten von uns ja nicht aussuchen.

Der “privacy divide” und unsere Mediengesellschaft

Rund um meine sechs Ansagen für 2012 werde ich in den nächsten Tagen oder Wochen einige der Themen hier ausführlicher behandeln, um den Kontext zu meinen kurzen Thesen nachzuliefern. Den Anfang macht die mir persönlich wichtigste Beobachtung: Der privacy divide.
Datenschutz und Privatsphäre sind zwei Dinge, die sich 2011 vor allem in der deutschen Onlinediskussion zu sehr platten Kampfbegriffen und Kampffeldern entwickelt haben. Extremen Datenschützerinnen ohne Verständnis für die gesellschaftlichen Veränderungen stehen Aktivistinnen der so genannten “Spackeria” entgegen, die Privatsphäre als Grundkonzept ablehnen. Die Positionen beider Gruppen halte ich für absurd. Dennoch markieren sie die Eckpunkte einer Diskussion, die wir ernsthaft führen müssen - um die Frage herum, wie Privatsphäre in einer Welt aussehen kann und aussehen wird, in der immer mehr Daten digital vorliegen. Datenschutz ist dabei nur ein winziger Aspekt dieses größeren Themas, ebenso wie Datensicherheit, Datensparsamkeit/Datengeiz und Datenströme. Aus meiner Sicht geht es zentral um zwei nicht miteinander vereinbare Konzepte rund um Privatsphäre, aus denen ein neuer “privacy divide” in der Gesellschaft entsteht.

Einigen können werden wir uns - von einigen Radikalen beider Seiten abgesehen - sicher darauf, dass es eine Unterscheidung zwischen öffentlich, zugänglich und privat für Daten und persönliche Informationen geben muss. Und darauf, dass Menschen weitgehend selbst entscheiden können sollten, was sie öffentlich, zugänglich oder privat halten (wollen). Die Vorstellung und der Versuch, dies für andere Menschen vorschreiben zu wollen oder auch nur zu können, stellt die jeweils Radikalen außerhalb des Diskurses.

Datenschützerinnen haben, angeführt von Thilo Weichert vom ULD in Kiel, das Jahr 2011 genutzt, um sich zu der neuen Onlinewirklichkeit zu positionieren, die sich Menschen und Unternehmen in Deutschland selbst erschlossen und geschaffen haben. Einige von ihnen haben dabei versucht, auch nachzuvollziehen, was Menschen wie ich dort - vor allem aber nicht nur online - tun. Allen voran der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, der sich 2011 immer wieder unaufgeregt und differenziert zum Themenkomplex geäußert hat.

Was Radikale wie die Spackeria oder Weichert/ULD meines Erachtens übersehen, ist, dass sehr viele Menschen sehr bewusst beginnen, mit diesem Thema umzugehen und für sich Wege zu finden, die gangbar, hilfreich und praktisch sind. Und je jünger diese Menschen sind, so ist meine Beobachtung, desto differenzierter und bewusster tun sie dies: Eine der wichtigsten und gefragtesten Fortbildungen der Berufseinsteigerinnen in unserer Agentur ist der Kurs über Privatsphäreeinstellungen auf Facebook. Im Freundinnenkreis meiner jugendlichen Kinder haben die meisten ihre Pinnwand und ihre Fotos nur für ihre Kontakte geöffnet - in meinem Freundinnenkreis ist das eher anders.

Ich bin überzeugt, 2012 wird das Jahr der Entscheidung: Die radikale Position der Datenschutzbehörden wird von Gerichten und von den Gesetzgeberinnen überprüft. Und auch von der Wirklichkeit und den Bedürfnissen der Menschen. Der alte „digital divide“ wird abgelöst vom „privacy divide“: Die einen werden für die Bequemlichkeiten, die ihnen Facebook und andere Services bieten, damit “bezahlen”, dass sie bewusst (und - ja - teilweise auch unbewusst) Daten und Informationen von sich preisgeben. Und die anderen werden genau das nicht tun – und auf diese Form der Kommunikation, auf Rabatte und auf manche Informationen verzichten. Diese Teilung wird quer durch alle Altergruppen, Schichten und Bildungsgruppen verlaufen und sich 2012 erstmals sichtbar manifestieren.

Dabei gibt es kein richtig oder falsch. Weder Post-Privacy-Aktivistinnen noch radikale so genannte Datenschützerinnen liegen damit richtig, hier Vorschriften machen zu wollen. Ob ich mich entscheide, einen kleineren oder größeren Teil meines Lebens öffentlich oder zumindest für andere zugänglich zu dokumentieren, hat Konsequenzen. Und diese Konsequenzen sind jeweils - und nicht nur, je nach Blickwinkel, in jeweils einem Fall - zu tragen.

Zu den großen Paradoxa der Mediengesellschaft (also einer Gesellschaft, in der medial vermittelte Inhalte für die meisten Menschen sowohl produzierend als auch konsumierend zugänglich sind) gehört doch gerade, dass es nicht ausgemacht und für alle gültig ist, ob mir Datengeiz oder Datenverschwendung mehr “nützt”. An meinem eigenen Beispiel versuche ich dieses Phänomen seit Jahren so zu beschreiben:
Dass ich seit Anfang 2003 blogge und sehr viel in Bild, Video, Text, Bewertungen, Orten und anderen Details von mir “preisgebe”, ist es mir gelungen, weitgehend selbst zu bestimmen, was andere Menschen über mich wissen, was sie über mich finden und wie die Person Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach oder die “Marke luebue” dargestellt ist. Keinen Einfluss habe ich darauf, wie andere dieses Bild sehen und verarbeiten. Aber in einem nicht kontrollierbaren Medienraum habe ich durch gezielte Öffentlichkeit einen gut Teil der Kontrolle darüber erlangt, was über mich bekannt ist und was nicht.
Niemand muss das so machen. Niemand muss die Grenze so ziehen, wie ich es tue (und ja, auch ich ziehe Grenzen). Wer es anders macht, wird andere Vorteile und andere Nachteile daraus haben. Meines Erachtens überwiegen die Vorteile der Datenfreigiebigkeit. Zumindest für mich. Und zumindest noch. Facebook ist ein gutes Beispiel, wie dies auch kippen kann: Wenn die Kosten (Daten und mangelnder Datenschutz) den Nutzen übersteigen. Das ist einem meiner Söhne so gegangen, weshalb er sich wieder abgemeldet hat. Und das kann auch mir oder anderen irgendwann so gehen. Dafür brauche ich kein ULD. Und keine Panik.

Es ist keine Frage der Generationen oder der Bildung, wie ich mich entscheide. Der “privacy divide” ist eher eine Haltungsfrage und eine von Opportunitätskosten und Grenznutzen (um es mal ökonomistisch auszudrücken). Daten und Privatsphäre sind in unserer Mediengesellschaft eine Währung geworden, für die ich mir Bequemlichkeit, Kommunikationsmöglichkeiten und Rabatte oder Zugang zu Nachrichten und Informationen “kaufe”. Ist mir das, was mir Facebook oder die Onlineausgabe des Hamburger Abendblatt bieten, der Rabatt, den mir Jako-o einräumt, oder was auch immer - ist mir das diese Daten und diese Aufgabe von Teilen meiner Privatsphäre wert?

Die einen werden sich so entscheiden wie ich. Die anderen so wie meine Schwester. Die einen so wie mein einer Sohn. Die anderen so wie mein anderer. Die einen so wie mein Vater. Und die anderen so wie mein Schwiegervater. Politik. Medien, Unternehmen, Marketing, Eltern, Lehrerinnen - wir alle werden uns darauf einstellen (müssen), dass wir es immer mit einer Bandbreite zu tun haben. Und dass der “privacy divide” mitten durch die Gruppe von Menschen hindurch läuft, mit der wir zu tun haben.

21.12.11

Glaskugel 2012

Kennt ihr ja. Kaum droht ein neues Jahr, kann ich nicht an mich halten und muss irgendwie mehr oder weniger steile Vorhersagen machen, die dann eintreten. War letztes Jahr auch so. Da haben wir es mit der Absatzwirtschaft gemacht. Dieses Jahr mit w&v - dort findet ihr also dieses Jahr meine Ansagen, wie ich denke, dass 2012 wird. Hier nur kurz die Überschriften angedeutet, ausführlich dort, geht mal rüber....
1. Zielgruppen sind wieder da.
2. Social Media? Wieso Social Media?
3. Daten, Daten, Daten.
4. Das Jahr der Entscheidung zwischen Privatsphäre und Bequemlichkeit.
5. Social Commerce kommt, anders als wir dachten.
6. Der App-Boom endet.
Besonders wichtig ist mir persönlich übrigens die vierte Ansage. Dass dieser privacy divide kommt, davon bin ich überzeugt, er deutet sich ja bereits an. Dazu schreib ich auch noch mal ausführlicher, denn das ist ein Thema, das nicht nur mich als Kommunikationsberater betrifft sondern auch mich als Vater und mich als Politiker.

Und die sechste ist mir eine Herzensangelegenheit, die ich damit herbeischreiben und im kommenden Jahr herbeiarbeiten will. Weil mir das Internetz wichtig ist. Und Apps vielleicht online sind. Aber kein Internet.

18.12.11

Hommage an die Sauna

Und an finnische Männer.

Gerade haben wir diese Doku geguckt. Skurril, faszinierend, männlich. Und wer mich kennt, weiß, dass Sauna für mich und mein Leben und meine Familie und meine Liebste ebenso wichtig ist. Ich twittere jedesmal (oder sag es wenigstens auf Foursquare), wenn ich in die Sauna gehe. Und in jedem unserer drei Häuser bisher haben wir alle anderen Räume um die Sauna herum gebaut.

Eine Sauna passt überall hin, wie man im Film sieht. Und es ist der Ort, um auch als Mann zu reden und zu schwitzen und zu denken und zu entspannen. Nur trinken, vor allem Bier wie die Finnen, kann ich da irgendwie nicht. Aber leben ohne Sauna? Auch nicht.

80 Minuten voller Männergeschichten und Lebensweisheiten aus einem Land nördlich des 60. Breitengrades. Voller skurriler Männer. Und immer wieder überraschend und liebevoll.



(Sagte ich schon, wie sehr ich mich auf den nächsten Sommer freue, wenn wir noch einmal mit allen Kinden nach Finnland fahren? Mit holzbefeuerter Sauna und See und ohne jeden Nachbarn?)

10.12.11

Der Spin von SchülerVZ rund um den Flop-Button

Ich bin wirklich sehr froh, dass SchülerVZ am Ende eingesehen hat, dass ihre Pausenhof-App gar nicht geht. Es ist mir noch nie passiert, dass ich (mit ein oder zwei Ausnahmen und - selbstverständlich - einigen Trollen, die ich überwiegend gelöscht habe dieses Mal) eine so einhellige Zustimmung zu meiner scharfen Interpretation einer Sache, die mich aufregt, bekommen habe. Besonders von Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zusammenleben, aber nicht nur. Wie ein Kollege es so unfein ausdrückte, war die Sachlage hier wohl einfach nur eindeutig: "Der Bauer erkennt seine Schweinchen am Gang."

Vielleicht ganz kurz ein zeitlicher Abriss der letzten zwei Tage:
  • Am 8.12.2011 um 13:06 Uhr habe ich den ersten Tweet zu dem Thema geschrieben, die Resonanz darauf war so groß, dass ich um 13:28 Uhr meinen zornigen Blogpost online gestellt habe. Weil ich mich mit Johnny Haeusler von Spreeblick ohnehin oft über Kinder und Internet unterhalte, habe ich ihn zeitgleich auf das Thema hingewiesen - sein Beitrag hat dann die Geschichte so richtig ins Rollen gebracht. Weit über 10.000 Menschen haben allein bei mir den Beitrag angeguckt, die Erwähnungen bei Twitter, Google+ und Facebook waren Legion.
  • Rund 26 Stunden später (am 9.12.2011 um 15:11 Uhr) hat SchülerVZ dann die Pressemitteilung veröffentlicht, die ich hier dokumentiere - und einen Exit angekündigt. Damit ist das Thema nicht erledigt, es wird noch mehr nachkommen, von Medien, Eltern, Aktivisten. Vor allem aber sieht man an der Dokumentation, dass es nicht wirklich befriedigend ist - und dass SchülerVZ mindestens an einer Stelle in der Mitteilung versucht, einen Spin (so nennen wir PR-Leute den Versuch einer Umdeutung an der Kante zur Wahrheit) auf die Geschichte zu legen, der sogar für einen Spin das, was man landläufig so "Wahrheit" nennen würde, extrem überdehnt.
Darum hier die Pressemitteilung, die Anleitung der Pausenhof-App vom Vortag und ein Screenshot von der Situation in der App gestern Abend. Da ich keinen SchülerVZ-Account mehr in der Familie habe, endet meine Dokumentationsmöglichkeit damit. Die Situation vor dem Eingeständnis von SchülerVZ hatte ich ja schon am 8.12. dokumentiert.



Meine Punkte zu diesen Dokumenten und zur Gesamtsituation sind diese:
  1. Es gab den Flop Button, siehe die Screenshots. Dass man die Flops nicht sah, war erst bei längerer Nutzung zu merken. Mir scheint, die, die das abwiegeln, haben die App nicht getestet. Dass Mobbing nicht möglich gewesen sei, wie SchülerVZ in seiner Pressemitteilung behauptet, ist nicht wahr. Ich konnte es, wenn ich wollte.
  2. Es wurden nicht etwa Profilbilder bewertet sondern Personen. Hier sagt SchülerVZ in seiner Pressemitteilung nicht die Wahrheit. Sie schreiben, es gebe die "Möglichkeit, über Profilbilder von anderen schülerVZ-Mitgliedern ... abzustimmen". Unter 'VI. Top oder Flop' schreibt SchülerVZ jedoch in der Erklärung des Pausenhof-App, es sei möglich, "verschiedene Profile ansehen und diese per 'Daumen hoch' oder 'Daumen runter' bewerten." Könnt ihr oben nachlesen.
  3. SchülerVZ killt den Flop-Button, was ich gut finde. Die PM dazu ist das übliche PR-Geschwurbel, das wissen wir hier alle, kein Grund zur Aufregung. Dass sie durch konkludentes Verhalten anerkennen, dass sie falsch lagen, reicht mir grundsätzlich. Allerdings wünsche ich mir, dass sie zugeben, dass die Aufforderung an Kinder, andere Kinder als Flop zu bezeichnen, ein Überschreiten der Grenze ist. Ein Modell zur Rettung einer untergehenden Plattform (weil sie am Nutzermarkt nicht mehr nachgefragt wird) darauf aufzubauen, dass Kinder nun mal grausam sein können und oft auch grausam sind, halte ich für zynisch und eklig. Und dabei bleibe ich.
  4. Die Tonalität der Pressemitteilung spiegelt die Gesamthaltung der VZ Netzwerke Ltd. wider, die mir seit langem von einer Weigerung geprägt zu sein scheint, die Realität wahrzunehmen. Aber das ist mir ehrlich gesagt egal.
  5. Dass sie auf Druck reagieren, und das recht schnell (rund 26h), ist gut. Ich kann ja nicht nur meckern. Dass sie so reagieren, wie sie reagieren, zeigt aber auch, dass sie offenbar anders zu der Frage stehen, ob man sexualisiert und auf die Grausamkeit von Kindern spekulierend werben sollte, als ich es tue.
  6. Unklar ist mir, wie der Pausenhof funktionieren soll, wenn die zentrale Funktion wegbricht. Etwa so wie auf dem Screenshot von gestern abend? Das könnte ja nun wirklich nicht der Ernst sein, SchülerVZ, oder? Den gesenkten Daumen durch einen Pfeil nach rechts ersetzen? Vielleicht ist es ein Schnellschuss, um etwas zu tun, dann ist es ok. Aber vielleicht lohnt es sich, das weiterzuverfolgen.
Danke für alle Unterstützer. Danke für eure Tweets, Artikel, Anfragen. Es lohnt sich, auf die Barrikaden zu gehen und nicht einfach hinzunehmen, wenn ein Unternehmen die Grenze überschreitet.

8.12.11

Es wird Zeit, zu gehen, SchülerVZ



Ich habe mich geirrt. Das Jahr geht zu Ende und die VZs gibt es noch. Formal zumindest. Das, was man an Insiderdingen hört, lässt zwar vermuten, dass ich mich nur um wenige Monate vertan habe mit der Prognose, dass sie dieses Jahr aufgeben oder ihr Geschäftsmodell ändern, aber...

HALT.

Geschäftsmodell ändern? Vielleicht hatte ich doch recht. Zumindest bei SchülerVZ. Das Bild oben ist aus einer Mail, die sie heute an ihre Mitglieder verschickt haben, zumindest an die Inaktiven (andere kenne ich nicht). Offenbar will SchülerVZ die mehr oder weniger offizielle Mobbingplattform an deutschen Schulen werden, also ungefähr das Gegenteil dessen, was ich ihnen als Ausweg empfohlen hätte (denn hey, für sehr junge Kinder könnte es - in Zusammenarbeit mit den Eltern - spannend sein, in einem Netzwerk mit deutschen Moderatoren und deutschem Datenschutz zu sein oder so, naja, Chance vertan).

Um es ganz klar zu sagen: Damit überschreitet SchülerVZ eine Grenze, die sie niemals hätten überschreiten dürfen. Hat von denen eigentlich irgendjemand Kontakt zu Jugendlichen? Also im richtigen Leben jetzt? Mobbing ist kein Kavaliersdelikt. Mobbing ist eine der schlimmsten Formen von Gewalt, die im Alltag deutscher Schulen vorkommt.

Heute abend, wenn sie zu Hause sind, werde ich mich mit meinen (jugendlichen) Söhnen hinsetzen und sie werden ihre (selbstverständlich ohnehin inaktiven) Accounts bei SchülerVZ löschen. So einen Dreck wie dieses Pausenhofmobbing mache ich nicht mit, nicht mal passiv. Und ich rufe hier und via Twitter und Facebook alle Eltern auf, es ebenso zu machen. Eure Kinder, die sich damals mal bei SchülerVZ angemeldet haben, bevor sie zu Facebook gewechselt sind, wurden auf ein Portal umgezogen, das damit wirbt, dass man da super einfach und spaßig mobben kann. Das ist eklig. Fast noch ekliger als diese eklige Mediamarktwerbung mit diesem Konsumbaumdingens.

SchülerVZ, es wird Zeit für dich, zu gehen. Nicht, damit ich recht behalte. Sondern weil deine Zeit abgelaufen ist. Weil du in deiner Verzweiflung offenbar nur noch in die unterste Schublade greifen kannst. Im Sommer, mit deinen Porno-Chic-Mails an die Schülerinnen (weißt du noch, dieses Ding mit den Bildern, auf denen die jungen Leute fast nix anhatten), da dachte ich, es geht nicht mehr schlechter und weiter nach unten. Ich hatte mich schon wieder geirrt.

SchülerVZ, das Maß ist nun voll, das Fass ist nun übergelaufen. Ich bin beileibe kein Fanboy von Facebook und finde, dass die Kosten (Daten, Sicherheit, Cookies) dort langsam anfangen, den Nutzen nicht mehr aufzuwiegen. Aber mit dir, SchülerVZ, will ich nichts mehr zu tun haben. Nicht mal passiv. Und ich verbiete meinen Kindern, bei dir Mitglied zu sein. Da bin ich ganz altmodisch und autoritär. Stirb allein. Lass Menschen mit Hirn und Herz in Ruhe.

Edit 9.12.2011, 18.00 Uhr
Wir haben es geschafft: SchülerVZ killt den Flop-Button. Gut so.

Edit 10.12.2011, 10:00 Uhr
Alle neuen Punkte, meine Bewertung des Sieges der Pädagogik und der guten Sitten über SchülerVZ und eine Dokumentation der Pressemitteilung und der vorherigen Nutzungsbedingungen - siehe meinen zusammenfassenden aktuellen Post.

6.12.11

So wird Inklusion nicht funktionieren

Um es vorweg zu sagen: Ich bin für Inklusion. Ich habe schon für die Integration von Kindern mit Behinderungen in die so genannten Regelschulen gestritten, da wart ihr noch nicht mal geboren, damals, in den 80ern mit Rosi Raab, da waren wir schon echt weit mit dem Thema. Dann habe ich Schulpolitik und Integrationsfragen erstmal ruhen lassen, weil meine Frau in dem Bereich aktiv war. Sie ist heute Lehrerin mit dem Förderschwerpunkt Sprache und geistige Entwicklung. Meine Beobachtungen und Erfahrungen und auch meine Haltung zu dem gesamten Komplex ist also nicht nur dadurch geprägt, dass meine vier Kinder vier unterschiedliche Schulen besuchen - sondern auch durch ihre konkreten Erlebnisse.

Hamburg setzt nun also auch endlich EU- und Menschenrechte um und versucht, Kinder mit Behinderungen standardmäßig mit anderen Kindern gemeinsam zu unterrichten. Faktisch werden die Sonderschulen aufgelöst und die Lehrerinnen auf die Grund- und Stadtteilschulen verteilt. Also alles gut, denn es sei ja kein Sparmodell, wie auch die Bildungspolitikerinnen meiner Partei immer wieder sagen? Nein, gar nichts ist gut. Denn so wird es nicht funktionieren. Und das aus mehreren Gründen.

1. Der Bedarf ist viel höher als angenommen
Seit Kinder mit Förderbedarf nicht mehr an Sonderschulen abgeschoben werden (können), gibt es auf einmal viel mehr Kinder mit Förderbedarf. Die naive Rechnung der Schulbehörde (und auch und gerade der früheren grünen Behördenleitung), dass ja gleich viele sonderpädagogische Stunden für gleich viele Kinder zur Verfügung stünden, war von Anfang an falsch - und alle, die sich ein bisschen mit Grundschulen und Sonderschulen auskennen, haben das auch vorher so gesagt. Wenn ich als Schule nun mehr Stunden bekomme, wenn ich mehr Kinder mit Förderbedarf habe, ermutige ich die Eltern, ihn anzumelden. Vorher habe ich eher entmutigt, weil ich das Kind nicht abgeben wollte.

Um das nicht falsch zu verstehen: Das ist auch gut so. Wenn alle Kinder besondere Förderung (beispielsweise wegen Problemen mit der Sprache oder dem Sprechen) bekommen, die das brauchen, dann ist das gut. Aber das geht nun einmal nicht kostenneutral.

2. Die Inklusion ist eine Verschlechterung für die meisten Kinder mit Behinderungen
In der Theorie ist es absolut richtig (und unterstütze ich es auch), dass es für Kinder mit Behinderungen besser ist, in wohnortnahen Klassen mit allen anderen Kindern gemeinsam unterrichtet zu werden. In der Praxis aber bedeutet das eine deutliche Verschlechterung ihrer individuellen Förderung.

Ein Kind, das stark stottert - um mal eine "einfache" Behinderung heranzuziehen -, kann mit echter unterrichtsimmanenter Therapie (also mit Unterricht, in dem sozusagen subkutan Sprachtherapie stattfindet) und mit kleinen Klassen (maximal 12 Schülerinnen) seine Hemmungen abbauen und sein Stottern ablegen oder damit umzugehen lernen. Mit ein bis zwei Förderstunden, in denen es aus seiner Klasse mit mehr als 25 Schülerinnen genommen wird, in der es die anderen 23 Stunden der Woche unterrichtet wird, kann das nicht gelingen.

Ein Kind mit einer geistigen Behinderung, das lesen und rechnen lernen kann in einer Lerngruppe aus fünf oder sechs Kindern, kann das nicht zwingend, wenn es faktisch als Beistellkind den nicht-behinderten Kindern soziales Lernen ermöglichen soll (ok, das war polemisch, aber es spiegelt leider dennoch die Realität in den Speckgürteln wider).

Kinder mit emotionaler oder sozialer Behinderung, insbesondere solche mit schweren psychischen Störungen, werden in großen Gruppen dauerhaft überfordert. Ohne eine individuelle Lernbegleitung haben sie keine Chance, am Unterricht teilzunehmen. Dies wird beispielsweise in Schweden deshalb auch so umgesetzt, die schon damals, in den 80ern, zu Rosi Raabs Zeiten, unser Rollenmodell waren, weil sie es besser und professioneller umsetzten als wir heute. Dort hat ein Kind mit entsprechenden Behinderungen immer eine individuelle Lernassistenz bei sich (pro Kind eine Person), mal abgesehen von fast durchgängigen Doppelbesetzungen im Unterricht.

3. Die Förderstunden der Sonderpädagoginnen kommen nicht bei den Kindern an
Die Idee, dass Lehrerinnen mit besonderen Förderschwerpunkten je nach Bedarf an den Schulen "zugebucht" und eingesetzt werden, klingt am grünen Tisch verlockend. So wird es ja nun seit mehr als einem Jahr versucht. Das Problem ist: Diese Zusatzstunden versickern im System und kommen nicht bei den Kindern an. Theoretisch werden diese Stunden für Doppelbesetzungen in den Klassen eingesetzt und zur Förderung der Kinder, für die sie als Förderbedarf angefordert wurden. Nur werden Doppelbesetzungen immer als erstes aufgelöst, wenn es zu Krankheit oder Klassenreise oder Sportveranstaltungen oder Theatergängen oder Wandertagen kommt.

In der Praxis ist mir keine einzige Lehrerin bekannt, die als Sonderpädagogin an eine "Regelschule" abgeordnet wurde und dort nicht überwiegend als "normale" Lehrerin eingesetzt wird, um "normale" Lücken zu schließen. Das ist ja auch logisch, denn die Grundversorgung geht vor. Soll sie sich weigern, die erkrankte Kollegin zu vertreten? So lange das System Schule so auf Kante genäht ist, dass im November der normale Unterricht nur schwer aufrecht erhalten werden kann, kann dieses System gar nicht anders als die sonderpädagogischen Stunden aufsaugen und verbrauchen.

4. Das Thema Inklusion ist erst spät von der politischen Leitung gesehen worden und mit einer Posteriorität versehen
Nicht in den Sonntagsreden, klar. Aber in der Praxis spielt das Thema Inklusion keine Rolle für die Leitung der Behörde, spielte noch weniger eine Rolle unter grüner Leitung. In der Reform der Schulstruktur wurden die Sonderschulen erst vergessen, dann - nach entsprechenden Protesten der Sonderschulleiterinnen - als später zu entscheiden und ersteinmal bei der Schulreform auszuklammern markiert - und schließlich irgendwie verwurstet. Keines der realen Probleme, die die Inklusion zurzeit mit sich bringt, ist für irgendwen, der sich mehr als eine Stunde mit dem Thema beschäftigt hat, überraschend. Alle Punkte, die ich oben aufführe, waren schon exakt so vorher von einigen Praktikern angesprochen worden. Da ich nicht zu denen gehöre, darf ich das sagen, denn ich habe es nicht vorher gewusst, sondern kann es jetzt, wo ich mich mit dem Thema intensiver beschäftige, zusammentragen.

Klar ist aus meiner Sicht, dass Inklusion so, wie sie in Hamburg von uns Grünen angeschoben und nun von der SPD umgesetzt wird, niemandem von denen nützt, für die sie gemacht wurde. In den Schulen werden Kinder ankommen, die Gruppen sprengen, Lernen unmöglich machen und nicht aufgefangen werden können. Die Kinder mit Förderbedarf werden schlechter gefördert als bisher. Und die Lehrerinnen, die sich um solche herausfordernden Kinder kümmern wollen, werden als Lückenfüllerinnen einer zu engen Personalplanung verbrannt.

1.12.11

Jetzt aber endlich mal typisieren, bitte


Für die meisten von euch wird es Eulen nach Athen sein. Für die anderen wird es Zeit, es jetzt zu tun. Manchmal fehlt ja nur der Anstoß. Oder es ist nicht klar, wie wichtig das ist. Wir erleben das gerade mit dem 5-jährigen Sohn von Freunden.

Er wird jetzt auf eine Transplantation von Knochenmark vorbereitet. Nächste Woche wird die dann beginnen. Das mit der Isolation, dem Zelt, der Grausamkeit für ein kleines Kind und das zu Weihnachten - das erspare ich euch. Mir geht es um einen anderen Punkt:

Es war unmöglich, aus den Millionen von Spenderinnen in Europa und Nordamerika eine wirklich gute und wirklich passende Spende herauszufinden. Wochenlang wurde gesucht, dann ein Spender gefunden, der so halbwegs passt, sozusagen am unteren Rand dessen, was man wagen mag für die Transplantation. Denn hier kommt man mit Verwandtschaft und so weiter nicht weiter. Es sind unglaublich viele Merkmale, die Knochenmark aufweist - und je mehr davon mit dem Jungen übereinstimmen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er das Mark annimmt und also überlebt.

Obwohl ich selbst typisiert, also als Spender eingetragen bin, war mir das so nicht bewusst. Dass es so schwierig ist, eine Spenderin zu finden. Dass es für ihn keine gibt. Und sie es jetzt trotzdem versuchen werden. Denn er soll leben.

Jede einzelne, die sich typisieren lässt, erhöht die Chance für einen Menschen zu leben. Jede einzelne, die es nicht macht, tut genau das nicht. Es ist nur wenig. Und kann so viel sein. Denn seine Geschwister mitzunehmen oder den Weihnachtsbesuch ins Gästezimmer zu lassen, das können nur wir, die wir sein Umfeld bilden. Das andere könnt ihr auch. Hier.

24.11.11

Der Rechten Rache an Gramsci

Für jeden, der sich mit linker politischer Theorie und/oder Praxis beschäftigt, ist Gramsci ein Begriff. Nach etwa 1992 (meine Schätzung) wurde er vor allem für die Rechtsradikalen in Deutschland wichtig. Im Grunde haben sie das, was Gramsci rund um Hegemonie formulierte, konsequent umgesetzt. Das hat mich am Anfang verzweifeln lassen und dann irgendwann wütend gemacht. Ändern konnte ich es so wenig wie die wenigen, die es damals schon sahen, gehört wurden.

Ich verlinke hier nicht die verschwurbelten Artikel, die angefasste Jenaer gerade schreiben, die keine Nazis sind (was ich glaube). Die aber in vielen - ich hoffe: unbewussten - Formulierungen und Argumentationsmustern zeigen, wie sehr die Gramsci-Rezeption und -Adaption der Rechtsradikalen Früchte getragen hat (Aber ihr findet einige Beispiele bei Erik im Blog, der im Übrigen besser als ich zusammen fasst, warum sich einige von uns so aufregen über die Naiven).

Wenn dann naiv und unbewusst von "falschen Freundeskreisen", die Erik oder ich haben könnten, geschwurbelt wird. Oder wenn die sozial geächtete Selbsttötung durch Drogenkonsum mit der durch Wegschauen der Mehrheit ermöglichten Tötung oder Vertreibung von anders Aussehenden enggeführt wird. Dann ist das die Rache der Rechten an Gramsci.

In meinem Bekanntenkreis und in meiner Familie gibt es Menschen, die aus Erfahrung - und nicht etwa aus Vorurteilen - nicht mehr in "den Osten" fahren, ohne sich im Schutz großer Gruppen zu befinden (oder sich zu bewaffnen). Und auch wenn es Nazis auch im Westen gibt und ich an der Haltung vieler junger Leute, die ich am Niederrhein* oder sonstwo kenne, eine Menge auszusetzen habe, ist das doch anders - sehr anders - als in jedem Dorf im Osten, das ich erlebte oder von dem mir Menschen mit aus Nazisicht normabweichendem Äußeren berichten. Oder ganz konkret: ein Punk kann in der mir persönlich wirklich nicht angenehmen niederrheinischen Provinz leben. In Mecklenburg oder Thüringen nicht.

Die sprachliche und kulturelle Hegemonie der Rechtsradikalen in der nachwachsenden Generation ist im Osten, das zeigen auch alle Studien, die es dazu gibt (ein Teil ist in der letzten Zeit erwähnt, ansonsten mal nach Toralf Staut googlen), weiter fortgeschritten als im Westen.

Die Angst der Menschen, die den Osten als No Go Area erleben, liegt eben gerade nicht an den Nazis, denn die, da haben die hegemonisierten Naiven Recht, gibt es überall. Die Angst kommt daher, dass dort nicht die Nazis sondern die anderen latent als "falsche Freundeskreise" gelten.

Es geht dabei nicht "gegen den Osten" oder um Vorurteile - sondern darum, dass eine bewusste Strategie der Rechtsextremen, der Nazis, aufgegangen ist, die sich ab Anfang der 90er "den Osten" ausgesucht haben, weil sie sahen, dass es da einfacher für sie ist, aus verschiedenen Gründen, die bekannt sind (Geschichte, soziale Situation, weniger äußerliche Abweichung als im Westen etc). Und die Geschichtsvergessenheit und mangelnde sprachliche Bildung (was kein Vorwurf ist, sondern schade) führt dann bei Menschen auch höherer formaler Bildungsabschlüsse allzu oft dazu, dass sie die sehr geschickten Hegemonieversuche der Nazis nicht bemerken, nicht sehen und die entsprechenden Codes einsickern. Trifft diese Hegemonie dann auf ehrenamtliches Engagement von Nazis in einer Gegend, in der es keine Kirchen und AWO etc gibt, ist der Schaden angerichtet und kann nicht von einigen Helden (die es auch in Jena gibt) aufgefangen werden. Und von den Helden habe ich übrigens auch keine verschwurbelten Proteste gehört. Nur von denen mit dem gesunden Volksempfinden. Und mit (Lokal-) Patriotismus.

* Steht hier pars pro toto für die vom Osten so weit wie möglich entfernte westdeutsche Provinz. Und vielleicht auch deshalb, weil ich dort Jugendliche und Punks kenne...

21.11.11

Wie soll es weitergehen mit unserem Podcast brouhaha?

Ich bin da wirklich nicht ganz sicher. Einerseits finde ich ja, dass Alex Wunschel und ich mit Brouhaha einen irgendwie netten Podcast zusammen haben, auf den ich auch oft angesprochen werde (vor allem, wenn - wie dieses Mal wieder einmal - die neue Folge monatelang auf sich warten lässt). Andererseits hat sich die Idee, #megafails (oder wie immer man die Fehler von Kommunikatoren und Unternehmen in Social Media nennen will) zu analysieren und wunderbar arrogant zu sagen, was sie hätten besser machen können, ein bisschen tot gelaufen, finde ich - vielleicht auch, weil es kaum noch so richtige Brüller gibt? Oder weil sie mich nicht mehr so interessieren? Oder weil der eigentliche Hammer eher ist, wenn Weltmarken mit ihren Netzwerkagenturen oder Medienfachmagazine Dinge auf Facebook machen, die an drei bis sieben Stellen gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen (vom guten Ton und so mal ganz zu schweigen)?

Was denkt ihr, wie wir weiter machen sollten (denn eigentlich sind wir so sehr waldorfstatlermäßig gut drauf, dass wir auf jeden Fall weiter machen wollen)?

So lange, bis ihr diese Frage beantwortet habt, erstmal noch die aktuelle Folge über Schlecker und die lingua franca.





Download MP3 (30:35; 21MB), oder auch Abo bei itunes...

18.11.11

Missverständnisse zu Google Plus

Das große Grundmissverständnis rund um Google+ beschrieb diese Woche Martin Weigert auf netzwertig.com - sein Artikel ist im Grunde sogar die Illustration dieses Missverständnisses, weil er meines Erachtens von falschen Voraussetzungen ausgeht und deshalb - logischerweise - die falschen Schlüsse zieht:
Mit dem Start von Google+ kämpfen nun drei führende, auf die Masse der Nutzer ausgerichtete und sich im Funktionsumfang überschneide Social-Web-Plattformen um die Aufmerksamkeit der Nutzer.
Genau das scheint mir nur auf der Oberfläche zu stimmen. Nicht aber im Kern. Genau diese Einleitung - auf der seine in sich schlüssige Schlussfolgerung beruht, Google+ sei also überflüssig - sehe ich vollständig anders.

Zum einen - das habe ich ja damals schon geschrieben - sehe ich tatsächlich großes Potenzial bei Normalnutzern für Google+ (während Martin Weigert sich auf die Social-Media-Aktivisten in seinem Umfeld bezieht in seiner Wahrnehmung). Und zum anderen geht es, denke ich, im Kern bei Google+ nicht um ein Netzwerk. Sondern um Homepages und Profile, die mit zurzeit nun einmal geforderten sozialen Interaktionsmöglichkeiten aufgepeppt werden. Und im Übrigen denke ich, dass Markus Breuer Recht mit seiner Einschätzung, die ich zur gefälligen Lektüre noch einmal empfehle: Google+, Direct Connect und die neue Google-Strategie.

Schaue ich mir Profile und Firmen/Marken-Seiten bei Google+ zurzeit an und überlege, was daraus im Kontext des Modells Google werden kann, so denke ich eher, dass es um eine Art Geocities gehen wird. Ihr erinnert euch? So blinkende, gelb-neonfarbene Schröbbelseiten für jeden und alles lange bevor Blogs und Homepagebaukästen da waren.

Die Verknüpfung mit Google Direct, mit Google Maps und dann auch mit Bezahldiensten und so weiter werden Google+ zu dem Weg werden lassen, eine quasi verifizierte Visitenkarte im Web abzulegen. Dass dies dann auch noch eine Kommunikationszentrale sein kann, ein Newslettertool (Kreise) und so weiter, macht es nur runder.

Nur wenn wir uns von der Folie Netzwerk und Facebook lösen, werden wir eine Chance haben, Google+ überhaupt zu verstehen.

15.11.11

Das vorletzte Signal

Die guten meiner Kindheit und Jugend gehen alle. So ist das, wenn man selbst auch älter wird. Jetzt also der Degenhardt. War das eine Eilmeldung der Tagesschau wert? Ja, das war es. Ist es traurig? Weiß nicht, denn erstmal bin ich dankbar, dass es ihn gab.

Ich kannte ihn nicht persönlich, er war auch nicht einer von denen, die ich regelmäßig hörte. Aber er gehörte dazu. Für mich wie Erich Fried, wie Dorothee Sölle, wie Alfred Schulz. Die ich alle gut kannte und die auch alle tot sind. Irgendwie gehörte er in diese Reihe. Wahrscheinlich bin ich einer der Jüngsten, die noch wissen, wer er war und was er war und warum er für uns wichtig war. Der Zornige, Wilde, Einfache unter den Mutmachern.



Und Dem Scholz bin ich dankbar für dieses Lied und dieses Video. Nach so etwas habe ich den ganzen Tag unbewusst und im Hinterkopf gesucht. Denn ich wollte nicht den Gassenhauer bringen.

10.11.11

No fomo*

Es gibt Dinge, vor denen ich Angst habe. Es gibt Zeiten, zu denen ich besorgt bin. Und es gibt Situationen, in denen ich gestresst bin, manchmal sogar sehr gestresst. Das hätte ich früher nicht gedacht.

Aber witzigerweise stresst mich weder online sein, noch offline sein. Bin ich nicht besorgt, ich könnte was verpassen, wenn ich beispielsweise mit meinen Kindern spiele, schwimme oder reite oder so. Habe ich keine Angst, in den unendlichen Weiten des Internet zu ersaufen.

Angeblich gibt es einen Trend, auch mal offline zu sein. Also so bewusst. Oder Orte offline zu machen. Weil da das Internet mit seinem Stress des Alwaysondingens nicht geht. Und angeblich komme der zustande, weil Menschen vom ewigen Onlinesein eben gerade dies seien: gestresst, ausgelaugt und so weiter.

Weder den Trend noch seine Ursachen will und kann ich bestreiten. Ich kann es nur nicht nachvollziehen. Und finde es latent überflüssig.

Vor allem aber denke ich mehr und mehr, dass dies ein Phänomen des Übergangs ist. Dass es Menschen betrifft, die - bewusst oder unbewusst - einer alten Zeit ohne permanente mindestens theoretische Verfügbarkeit von Information und Informationsmöglichkeit nachtrauern.

Ohne in Vulärpsychologie verfallen zu wollen, kann doch dieses "fomo"* eigentlich nur haben, wer tatsächlich glaubt, eine Chance zu haben, alles oder das meiste mitzubekommen. Wer aber erstmal Schwimmübungen im ewig fließenden Strom von Infos und Updates beginnt, merkt fast sofort, dass es leichter ist, zu schwimmen, als an einer Stelle zu stehen und zu versuchen, alle Tropfen, die vorbei fließen, zu sehen.

Mit dem Strom des Onlineseins ist es wie mit dem Regen. Wenn ich nass und kalt nach Hause jam, sagte mein Vater immer: "Das Gute am Regen ist ja: das meiste geht an dir vorbei."

Der Unterschied zu früher ist ja vor allem, dass ich mir nicht mehr vormachen kann, 24 Bände Brockhaus im Regal würden alles Wissen bergen.

Stress entsteht nicht nur aber oft durch Kontrollverlust oder die Angst davor. Im Wissen, dass ich ohnehin fast alles verpasse, auch wenn ich online bin, brauche ich weder eine explizite Offlinezeit noch werde ich kribbelig, wenn ich off bin. Denn irgendwann bin ich ja wieder on.

Interessanterweise erlebe ich bei meinen Kindern und ihren Freundinnen, dass sie kein fomo* haben. Und nicht mal eine Internetflat für ihr Smartphone brauchen. Denn sie sind ja nicht offline oder machen Internetdiät. Sondern sind halt mal on und mal off. Sie sind erwachsener als die meisten Erwachsenen um mich herum. Allerdings (leider oder glücklicherweise) nur in diesem Bereich.


* fomo = fear of missing out

2.11.11

Liebe Neo-Sozialisten in den Vorstandsetagen,

liebe Kampagnenjournalistinnen, liebe Spielerinnen im Casino Deutsche Börse, ihr habt es geschafft, mich erfolgreich zu re-radikalisieren.

Nun ist das Fass übergelaufen. Wenn ihr mit Zorn, Flucht, Häme und Drohungen auf Demokratie reagiert, stellt ihr euch außerhalb einer Zivilisation, die diesen Namen verdient. Wenn ihr nur ein Jahr, nachdem wir euch gerettet haben, Riesengewinne macht und trotzdem fordert, Risiken zu sozialisieren, dann seid ihr keine Leistungsträger sondern Bewohner der Hängematte, in der zu liegen ihr denen vorwerft, die euch füttern. Wenn ihr von uns fordert, euer gescheitertes Geschäftsmodell unter Artenschutz zu stellen und euch zu bezahlen, weil ihr staatstragend seid, und dann Kampagnen gegen die Hände führt, die ihr gereicht haben wollt, dann seid ihr Lügenpack.

Ich war in dieser Gesellschaft angekommen. Verdiene gut, habe viele Kinder, so wie einige von euch. Ich hatte der Revolution schon lange abgeschworen. Ich zahlte gerne Steuern.

Ihr aber habt es geschafft. Ihr habt den Liberalismus und den Ausgleich der Interessen getötet. Ihr habt neue Frontlinien gezogen. Ihr wollt offenbar beweisen, dass die Recht haben, die sagen, dass es keine Versöhnung zwischen oben und unten geben kann.

Wir in der Mittelschicht, gerade auch wir in der oberen Mittelschicht werden von euch vor die Entscheidung gestellt, wohin wir gehören. Und ich habe mich entschieden. Denn zu euch gehöre ich nicht. Und für euch werde ich mich nicht mehr schämen.

Wir sehen uns auf den Barrikaden.

(Sound of the day: Green Day für den Zorn. Und Bruce Springsteen für die Hoffnung)
(und weil die Frage kam: Anlass, nicht aber Ursache, für diesen Text sind die Reaktionen auf die Ankündigung des Referendums in Griechenland)

29.10.11

Warum Postgender Kinderkakke ist

Und warum ich weiter für die Quote in ihrer strengen Auslegung bin.

Ich bin in den 80ern aufgewachsen mit einer Mutter, die theoretische Feministin war. Danach habe ich viel über Entfremdung gearbeitet und feministische Theologie studiert. Obwohl ich ein nahezu traditionelles Familienmodell lebe, bin ich bis heute Feminist. Und witzigerweise spricht mich fast nie jemand darauf an, dass ich konsequent die weibliche Form benutze, wenn Frauen und Männer gemeint sind. Und übrigens nie das Majuskel-i.

Und mehr und mehr radikalisiere ich mich wieder. Heute wäre ich von der Landesmitgliederversammlung der Grünen gegangen, wenn sich im Frauenrat die durchgesetzt hätten, die die streng quotierte Redeliste aussetzen wollten.

(Streng quotiert heißt bei uns, dass nur so viele Männer reden dürfen wie Frauen. Dass also Männerbeiträge entfallen, wenn keine Frau sprechen will.)

Das Problem ist: die quotierte Liste funktioniert nicht, weil um den Faktor 5 (meine Schätzung) mehr Männer als Frauen reden wollen. Ich stimme also denen zu, die die Dysfunktion der Quote kritisieren.

Nur ist meine Konsequenz eine andere: Ich denke, wir müssen die Politikrituale überdenken und nicht die Quote. Wenn sich Frauen quasi nicht mehr an ihnen beteiligen, sollten wir sie (die Rituale, nicht die Frauen) abschaffen.

Willkürliche, eratische Redebeiträge vom Podium sind dann vielleicht nicht mehr die Form für zeitgemäße Parteitage. Vielleicht sollten wir Kandidatinnenbefragungen als Speeddating machen, in Kleingruppen und mit rotierenden Kandidatinnen. Vielleicht sollten wir Open Spaces ausprobieren. Oder oder oder.

Aber aus dem mangelnden Interesse von Frauen an unseren Parteireden zu schließen, die Quote aufzuweichen, wird weder den Zielen noch dem aktuellen Problem gerecht.

Und wir mitteilungsbedürftigen Männer können eben nur durch die strikte Quote gezwungen werden, diese Änderungen mit voran zu treiben. Denn sonst hungern uns die Frauen einfach aus. Sozusagen die Logorrhoe-Therapie analog zum Geburtsstreik.

Frauen, lasst euch nicht darauf ein, die Quote aufzuweichen. Wir Jungs brauchen nicht wirklich unsere überkommenden Rituale. Und Inhalte müssen ja nicht per ausgeloster Redeliste vom Podium erklärt werden, mit Worten, die wir vorher bereits online von uns gegeben haben.

20.10.11

Kulturfortschritt

Nur auf die Schnelle (sozusagen prä-Twitter-Retroblogging) ein schönes Zitat aus Olaf Kolbrücks Interview mit David Weinberger. Er antwortet auf die Kritik der Kritiker, wir würden mehr und mehr unser Gedächtnis ins Netz auslagern:
Menschen haben immer schon Wissen und Fähigkeiten des Bewusstseins ausgelagert. Schreiben ist eine Form der Auslagerung unseres Gedächtnisses. Auslagerung ist also Teil des menschlichen Fortschritts. Es gehört zu unserer Fähigkeit als Spezies, dass wir Werkzeuge nutzen. Jetzt haben wir dieses bemerkenswerte Werkzeug, das uns erlaubt, noch mehr zu wissen. Ich kann mir schwerlich einen negativen Aspekt eines gemeinschaftlich gebauten Archivs für Informationen, Ideen und Gespräche vorstellen, das noch dazu jederzeit von überall verfügbar ist. Wenn wir mit unseren Werkzeugen denken, dann ist das ein evolutionärer Schritt.
Take this, Kulturpessimisten.

19.10.11

Ich kandidiere nicht mehr

Vor drei Wochen habe ich angekündigt, dass ich Landesvorsitzender der Grünen in Hamburg werden will. Heute habe ich entschieden, dass ich mich nicht zur Wahl stelle für dieses Amt. Um - was in halböffentlichen Diskussionen der eine oder die andere vermutet hat - Legendenbildung vorzubeugen, habe ich die drei Wochen genutzt, um meine Kandidatur zu diskutieren und abzuklopfen und die Rahmenbedingungen, die ich genannt habe, auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich jetzt, in diesem Moment, das Amt nicht so zu einem Erfolg führen kann, wie ich es wollte. Das tut mir für die vielen Leid, die mir persönlich oder öffentlich ihre Unterstützung gegeben haben, aber ich halte es für besser, jetzt die Kandidatur abzusagen als später.

Vor allem zwei Aspekte sind dabei ausschlaggebend, die beide mehr oder weniger damit zusammen hängen, wie ich das Amt gerne geführt hätte: sehr asynchron, mit wenig fremdbestimmter Offline-Zeit, sehr partizipativ und mit einer größtmöglichen Offenheit und Öffentlichkeit - wer mich etwas kennt, hat wahrscheinlich eine grobe Vorstellung, was ich meine. Dafür sehe ich dann keine Chance, wenn es fair zugehen soll (auch für die anderen und vor allem für die Mitarbeiterinnen der Partei) und auch mich nicht zerreißen oder meine Familie und mein Beruf (die beiden Prioritäten #1 und #2 und beide mehr oder weniger deutlich vor der Politik in meiner Liste).

Zum einen habe ich mich überzeugen lassen, dass das mir maximal mögliche Zeitbudget so weit entfernt ist von dem, wie es zurzeit üblich ist für dieses Amt und vergleichbare Ämter, dass die Veränderungen, die nötig wären, um es so zu machen, wie ich es mir vorgestellt habe, größer wären als ich annahm - und mehr Menschen beträfen. Ich habe, das gebe ich zu, unterschätzt, dass meine Zeitansage auch von anderen Vorstandsmitgliedern recht radikale Änderungen verlangen. Zwar hätten die das ja gewusst, wenn sie sich zur Wahl stellen, weil erst der Vorsitzende und dann die anderen gewählt werden am 29.10. , aber es wäre eigentlich genau die Fremdbestimmung, die ich für mich ablehne, die ich ihnen aufzwänge. Das ist tatsächlich nicht fair.

Um es klar zu sagen: Ich halte es für machbar und werfe niemandem vor, dass sie es nicht für machbar hält. Ich gebe auch nicht "dem System" oder "den Umständen" die Schuld, wenn jemand in dieser Kategorie denken will. Sondern ich habe ein maximales Zeitbudget, das schon mit den vier Stunden, die ich annahm, massiv an die Grenze ginge.

Zum anderen hat die mehr oder weniger Nicht-Diskussion des von mir mitinitiierten und unterstützten (Achtung, Link auf pdf) Demokratie-Antrags für den Parteitag in der Bürgerschaftsfraktion und die Reaktionen einiger Abgeordneter darauf mir gezeigt, dass wir - jedenfalls aus meiner Sicht und explizit ohne, dass ich das scheuen oder tragisch finden täte - auf einen Konflikt mit der Fraktion zulaufen könnten, dass jedenfalls mindestens die Zusammenarbeit zwischen Landesvorstand und Fraktion nicht so geschmeidig und konfliktfrei sein wird wie bisher. Dass auf jeden Fall die strategische und politische Neuausrichtung der Grünen in Hamburg nur von der Partei betrieben werden kann und wir auf die Fraktion nicht werden zählen können. Zumal die auch genug zu tun hat.

Das finde ich gut und ok, sehe aber nicht, dass ich diesen Konflikt und diese Umverteilung der Aufgaben an vorderster Stelle werde führen können - weder von Zeit und Kraft noch von der Konzentration auf Politik her. Darum ist sogar mir, der ich für mein Modell eigentlich plädiere, eine Vorsitzende lieber, die nicht in der Fraktion ist, aber mehr Zeit und Kraft in diese Auseinandersetzung stecken kann.

Ein dritter Punkt spielt mit hinein, ist aber nicht ausschlaggebend, denn der galt auch schon, als ich noch kandidierte: Ich bin für eine Trennung von Amt und Mandat, wenn es auf der gleichen politischen Ebene liegt, in diesem Fall analog zu dem, was unsere Jugend vorschlägt (nicht in allem stimme ich ihnen zu). Bei der Kandidatinnenlage bis eben hieße das, dass ich der einzige Kandidat wäre. Mir geht es bei diesem Thema aber nicht um mich, sondern ich halte es für politisch und strategisch richtiger.

Jetzt überlege ich, ob ich für ein Amt als Beisitzer im Landesvorstand kandidieren werde - oder ob ich mich dieses Mal nicht um ein Amt bewerbe und an anderer Stelle politisch weiter arbeite bei den Grünen. Das habe ich noch nicht entschieden und werde ich zunächst mit meiner Familie ausführlich besprechen. Was ich heute schon sagen kann: Auf absehbare Zeit (also auf Zeit, die ich absehen kann) strebe ich kein Mandat an.

17.10.11

Anna Hellwege, gestorben gestern vor fünf Jahren

Es war das vielleicht einschneidendste Erlebnis meiner beruflichen Laufbahn, als am 16. Oktober 2006 bei uns in der Agentur bekannt wurde, dass Anna Hellwege gestorben ist. Dass sie ermordet wurde, wussten wir noch nicht sofort.

Ich war erst seit zweieinhalb Monaten bei Edelman, wir hatten gerade eine wilde, nicht nur angenehme Zeit hinter uns (mit einem Wal-Mart-Skandal und einer skurrilen Zusammenarbeit mit Technorati, die älteren von euch werden sich erinnern). Es war Unruhe in der Agentur an diesem Montagmorgen, weil es nicht üblich war, dass Anna fehlte, ohne dass sie Bescheid sagte. Sie wohnte direkt um die Ecke. Und im Laufe des Vormittag ging ein Schrei und ein Zusammenbruch durch die Büros. Auch für mich.

Es hat Jahre gedauert, bis wir dieses Erlebnis und diesen Verlust auch nur halbwegs verarbeitet hatten, es hat für sehr lange Zeit sehr viel geändert. Nun bin ich seit zwei Jahren nicht mehr dort, kann es also nicht mehr so wirklich beurteilen, wie es heute nachwirkt, wie es den Kolleginnen von damals an einem Tag wie gestern und heute wirklich geht.

Meine erste Begegnung mit Anna war direkt, als ich in den Hamburger Büros vorgestellt wurde. Sie kam gleich auf mich zu und hat mich herzlich begrüßt und sozusagen an die Hand genommen. Wie wenig selbstverständlich das war, habe ich erst später erfahren, als ich merkte, dass es durchaus Vorbehalte gab, nicht zuletzt, weil ich ein Mann bin (und ich war damals immerhin der einzige fest angestellte Mann im Team).

Leider habe ich nicht direkt mit ihr zusammen gearbeitet. Ich habe sie vor allem bei den Festen und den Agenturmeetings erlebt. Besonders beim immer legendären Agenturausflug kurz vor ihrem Tod, bei dem sie mir einen nur hinter vorgehaltener Hand dann die Runde machenden Spitznamen verpasst hat, bei dem ich immer immer lächelnd an sie denken muss. Und der gerade deshalb nicht in die Öffentlichkeit gehört. Der aber bis zu meinem Ausscheiden bei Edelman immer zu den Erinnerungsstücken, auch den gemeinsamen Erinnerungsstücken, an Anna gehörte.

Meine Erinnerungen und auch meine Trauer wohl sind nichts im Vergleich zu dem, was ihre Freundinnen und langjährigen Kolleginnen haben. und hatten. Und selbst mir fiel es schwer, in den Alltag zurück zu finden, wie viel schwerer wird es anderen gefallen sein. Dem einen oder der anderen werde ich ein kleines bisschen dabei geholfen haben, was mich glücklich gemacht hat. Und dass der beste Prediger und evangelische Priester im Wortsinne, den ich in meinem Leben kennenlernen durfte, der ehemalige Propst Helmer Lehmann, ihre Trauerfeier gestaltete, war gut und wichtig und nicht nur für mich ein wichtiger Schritt auf dem Weg ins Leben zurück.

Noch heute ist Anna Hellwege präsent mit ihrem Lachen und ihrem Lebensmut. Und dafür bin ich ihr bis heute dankbar.

14.10.11

So sollte Netzpolitik in Deutschland aussehen, ja.

Hin und wieder verzweifele ich an "meiner Partei". Wenn Bärbel Höhn im TV auftritt. Oder wenn einige der evangelisch-kirchlichen Bundestagsabgeordneten auf von der Leyens brutale (und geschickte) Zensurbegründungen reinfallen. Oder Fraktionsvorsitzende in Zwergbundesländern Blödsinn reden. Oder bei manchen Diskussion rund um asynchrone Beteiligung und Transparenz in meinem Landesverband.

Aber dann bin ich auch immer wieder glücklich, dass ich bei den Grünen aktiv und politisch beheimatet bin (obwohl meine Herzensheimat ja immer die SPD war, bis die Verzweiflung jedes positive Erlebnis überwog). So wie gerade jetzt mit dem Antrag des Bundesvorstandes zur Netzpolitik für den Novemberparteitag. Maßgeblich vorangetrieben von Malte Spitz, bei dem ich ohnehin sehr froh bin, dass wir ihn haben.

Sehe ich einmal von den etwas verschwurbelten Formulierungen und einzelnen Inkonsistenzen ab, die dadurch zustande kommen, dass da verschiedene Steckenpferde offenbar noch nachträglich eingearbeitet werden mussten, ist er sehr, sehr gut geworden und - trotz seiner Länge - das so ziemlich beste netzpolitische Papier, das ich in Deutschland bisher gelesen habe. Vor allem aber macht dieser Antrag, der zumindest meiner Meinung nach sehr gut die grüne Position beschreibt, deutlich, was die wichtigsten Unterschiede zu den Piraten sind - auf der inhaltlichen Ebene (von der ich auch weiß, dass sie für den Erfolg der Piraten nicht wirklich relevant ist, ja, weil es ein Kulturthema ist und kein politisches, wunderbar illustriert durch ein Detail beim Politbarometer).

Die großen und argumentativ ausführlichen Passagen zu Privatsphäre, Urheberrecht und Infrastrukturpolitik dürften zu einem großen Teil eine andere Position widerspiegeln als Piraten sie haben (was ja auch gut ist) - und sind aus meiner Sicht wichtig und richtig.

Die Schlüsselpassage aber findet sich ziemlich weit hinten im netzpolitischen Leitantrag des grünen Bundesvorstandes, auf Seite 15 von 16:
Netzpolitik tangiert nahezu alle Bereiche unserer Gesellschaft und Politikfelder, Wissenschafts- wie Kulturpolitik, Rechts- wie Innenpolitik, Kinder- wie Jugendpolitik, Wirtschafts- und Verbraucher, Umwelt- wie Arbeitsmarktpolitik – die Aufzählung ließe sich für alle Ressorts durchdeklinieren. Die Netzpolitik ist das große Querschnittsthema unserer Zeit. Das Internet selbst ist für uns nicht nur ein technisches Instrument, sondern eine sozialer Ort, den es für mehr demokratische Mitbestimmung zu nutzen gilt. (Netzpolitischer Antrag)
Dies ist mir auch persönlich sehr wichtig. Darum bin ich weiterhin skeptisch, was Netzpolitik als Bereich angeht. Darum ist mir netzpolitisches Engagement bei dem, was wir Grüne "Fachpolitikerin" nennen, so wichtig: Leute, die bei uns für Medienpolitik, Schulpolitik, Wirtschaftspolitik, Kulturpolitik, Rechtspolitik und so weiter stehen, gucke ich mir auch immer unter dem Aspekt ihrer Kenntnisse des Netzes und ihrer Positionen in der Netzpolitik an. Denn mir ist es wichtiger, dass unsere Wirtschaftspolitikerinnen netzpolitisch zuverlässig sind - als dass wir einen tollen Netzhecht im Parlament haben. Mal etwas holzschnittartig (weshalb ich bei meiner Bewerbung auch nicht so sehr auf das Thema Netzpolitik abgehoben habe als auch das Thema Demokratie).

Die sehr konkreten Punkte, auf die wir Grüne uns selbst verpflichten wollen (wenn der Antrag durchgeht in Kiel), sind über den gesamten Antrag hinweg verstreut. Und nicht immer sind sie mit Handlungsempfehlungen versehen, da muss also noch das eine oder andere operationalisiert werden. Aber wenn wir uns darauf schon mal einigen können, sind wir um Jahre weiter als alle anderen Parteien. Inklusive der Piraten übrigens.

Ist Leistung Arbeit mal Zeit?

Als ich vor über 15 Jahren aus dem Studium in den Beruf ging, hatte ich bereits ein erstes Kind, denn Primus wurde genau während meines Prüfungsmarathons geboren. Vielleicht war ich darum von Anfang an auch etwas sensibler für die Frage, wer wann wo seine Aufgaben und ein bisschen darüber hinaus gemacht hat.

Die Jahre als Journalist und Moderator waren ja ohnehin von unregelmäßigen Arbeitszeiten (und vor allem von einer Sendung am frühen Sonntagmorgen) geprägt, so dass es immer eher darum ging, die Aufgaben und Ideen voranzubringen als auf den Sessel zu pupen.

Später war ich auch in anderen Unternehmen. Auch mal in einem, in dem der eine oder die andere dazu neigte, Leistung als "Arbeit mal Zeit" zu definieren und nicht - physikalisch korrekt - als "Arbeit pro Zeit". Das habe ich nie verstanden. Und nie mitgemacht. Der Abnabelungsprozess begann bei mir, als es nicht möglich war, mal längere Texte und Präsentationen im Café oder zu Hause zu schreiben, sondern ein ruhiger Ort im Büro zu suchen war. Es war nicht der Grund, dass ich da weg ging, aber der Anlass, darüber nachzudenken.

Immer wieder habe ich Unternehmen und Agenturen erlebt, in denen es als Führungsstärke galt, möglichst als erste und als letzte am Schreibtisch zu sitzen. Meine Meinung (und auch Erfahrung inzwischen) ist das glatte Gegenteil: Wer als Führungskraft nicht mit gutem Vorbild vorangeht, ist keine Anführerin. Und gutes Vorbild heißt, dass es atmende Arbeitszeiten und zielführende Arbeitsorte gibt. Auch mal 15, 16 Stunden, wenn es sein muss, aber nicht als Normalzustand. Die Kinder morgens und abends sehen, dafür halt um 21.30 Uhr noch mal Mails schreiben oder über die Präsentation gehen. Den ersten Schultag der Kinder miterleben. Das Wochenende in der Regel als Familienzeit gestalten.

Und eine gewisse Flexibilität. Gerade im hektischen Agenturgeschäft ist es auch mal wichtig, einen längeren Text oder einen längeren Gedanken zu (ver)fassen. Darum schicke ich "meine Leute" immer mal ins Home Office: Sie kommen mit guten Ideen und besserer Laune wieder zurück. Weil sie auch sonst viel arbeiten. Darum ist es ok, wenn "meine Leute" auch am Arbeitsplatz mal einkaufen oder Blogs lesen oder telefonieren. Weil sie auch nicht um sechs das iPhone fallen lassen, sondern in der U-Bahn, im Café oder auf dem Sofa noch für ihre Communitys da sind oder für die Entwickler oder die Kolleginnen oder Kunden. Wie mein Boss es sagt:

13.10.11

Ich will doch wohl nicht schmarotzen

Ich will gar nichts vom Amt. Ich will nur bestätigen, dass ich bereit wäre, für die Kosten aufzukommen, falls unsere Freundin A. wider Erwarten goldene Löffel klaut und ans andere Ende der Welt abgeschoben werden muss. Oder sie, falls sie zu verhungern droht oder aus anderen Gründen dem Staat auf die Tasche geraten könnte, zu füttern. Also will ich dem Staat helfen. Was ich gerne tue. Denn ich mag diesen Staat irgendwie. Und A. sowieso. Und dass sie nun endlich hier studieren darf und Lehrerin werden, finde ich super.

Zuletzt habe ich ja vor etwa einem Jahr über die Wirrungen der Ausländerbürokratie geschrieben. Es ist schlimmer geworden. Dabei dachte ich, ich bin mal ganz schlau. In den Tiefen meiner Mailbox habe ich noch die Adresse einer Mitarbeiterin im für mich zuständigen Ausländeramt. Die frage ich mal, ob und wie es geht. Und die nimmt mir auch gleich jeden Mut (wofür sie persönlich nichts kann). Denn die neuen elektronischen Aufenthaltstitel haben alles viel komplizierter gemacht, irre lange Wartezeiten, sehr früh müsse man kommen, denn die Wartenummern für einen Tag sind sehr schnell vergeben. Nein, einen Termin dürfe sie mir nicht geben, leider, tut ihr leid.

Ich also hin. 200 Leute im Foyer des Bezirksamtes. Am Tresen erklärt mir ein Mitarbeiter ohne jede Zweifelsfalte auf der Stirn, dass ich ohnehin ins Einwohneramt müsse. Nein, nein, er habe da jahrelang gearbeitet, das stimme, ich sei falsch informiert. Offenbar hatte er noch nie von Verpflichtungserklärungen gehört, die für länger als drei Monate gelten sollen und nicht der Familienzusammenführung dienen. Er hat übrigens (selbstverständlich) nicht Recht mit seiner Auskunft, das aber nur am Rande, ich hab mich ja auch nicht drauf verlassen, denn ich bin ja Profi. Und habe selbst recherchiert.

Prognostizierte Wartezeit, um in Zimmer 5 eine Wartenummer (!) zu bekommen, die vielleicht bis 16 Uhr (es war 7:45 Uhr) dran kommen könnte: Minimum 30 Minuten, eher länger. Bis 16 Uhr allerdings kann ich nicht warten, denn ich kann mir keinen Tag frei nehmen zurzeit, ich will nämlich nicht schmarotzen.

Neben allen grundsätzlichen Zweifeln am Ausländerrecht und der Ausländerbürokratie (beispielsweise dass junge Menschen in die Schwarzarbeit getrieben werden, beispielsweise wie teilweise der Tonfall ist und so weiter) ärgert mich diese nun langsam unendliche Geschichte sehr:
  • Ich will eine Erklärung abgeben, die sehr klar geregelt ist. Dazu muss ich nachweisen, dass ich mir A. "leisten" könnte, dass also meine wirtschaftliche Situation dazu angetan ist, anzunehmen, dass ich ihr das Essen bezahlen könnte, wenn es hart auf hart kommt. Könnte man zur Not aus meinen Steuerdaten ablesen, kann ich jedenfalls nachweisen.
  • Dazu kann ich nicht etwa, wie für alle anderen Behördendingens, in eine für mich bequem erreichbare Dienststelle gehen (ob in Volksdorf oder in Eimsbüttel), sondern muss in die chronisch unterbesetzte, selten öffnende Ausländerabteilung meines Bezirksamtes.
  • Aber obwohl ich - und so eine Erklärung habe ich bereits für Au Pairs abgegeben - für diesen Akt maximal 6 Minuten brauche, die planbar und prognostizierbar sind, kann ich dafür keinen Termin bekommen, sondern muss mich mit denen anstellen, die seit Wochen versuchen, ihren Aufenthaltstitel zu verlängern (was auch unwürdig ist übrigens).
  • Was ich zu tun habe und wo ich welches Formular bekomme, ist für nicht ganz so erfahrene und onlinesichere Zeitgenossen nahezu unmöglich zu erfahren.
(Und dass - als Treppenwitz des Ganzen - dann auch noch umstritten ist, ob diese Erklärung dann überhaupt notwendig sei, macht es noch absurder. Denn die Sachbearbeiter in den Bezirken sind unterschiedlicher Meinung, ob A. von mir eine solche braucht, da sie vom letzten Visum eine hat, die damals von einer Dorfbehörde in Schläfrig-Holstein leicht falsch ausgefüllt wurde - ohne Ablaufdatum und Zweckbindung -, so dass sie eigentlich gar nicht hätte anerkannt werden können, nun aber im Prinzip unendlich lange gültig ist, weil sie jemand ins System eingetragen hat.)

Vielleicht sollten wir A. adoptieren. Oder ist das bei einer, deren Eltern keinen deutschen Schäferhund hatten, auch nicht möglich?

28.9.11

Isch kandidiere

Warum ich nun nicht mehr kandidiere, habe ich heute aufgeschrieben.
19.10.2011


Es stehen Landesvorstandswahlen an. Und ich kandidiere für den Landesvorsitz. Die Grünen sind in Hamburg und bundesweit in einem Umbruchprozess:
  • Eine Partei zwischen 15 und 25% muss sich anders weiter entwickeln als eine, die sich mit 10% der Stimmen zufrieden gibt, und braucht einen Neuanfang.
  • Eine Partei, die zwischen Euphorie, Selbstüberschätzung, enttäuschten Erwartungen und großen Erfolgen hin und her gerissen wird, braucht eine Re-Politisierung.
  • Eine Partei, die für zunehmende Wählerinnengruppen als etabliert und spießig gilt und von einer neuen, frischen und “menschlichen” Partei in Liberalismus und Politikkultur abgehängt wird, braucht eine Neuerfindung ihrer politischen Kultur.
Für alles drei stehe ich.
Für alles drei kann ich den Übergang moderieren und anführen.
Für alles drei bin ich zugleich unabhängig und erfahren genug, um die nach außen sichtbare Symbolfigur zu sein.

Warum bin ich jetzt der richtige Landesvorsitzende?
  • Ich bin politisch aktiv, seit ich 15 bin. Erst bei den Jusos (letzter linker Kreisvorstand in Wandsbek) und im Landesvorstand beim Sozialistischen Schülerinnenbund Hamburg, dann u.a. als Bundesvorsitzender des Bundes der religiösen Sozialistinnen und Sozialisten, danach in Kirchenvorständen, Kreis- und Landessynoden der Nordelbischen Kirche - und zuletzt im Elternrat.
  • Ich bin weder wirtschaftlich noch emotional von der Politik oder gar diesem Amt abhängig. Denn ich leite den Bereich “digitale Strategie” in einer der großen Kommunikationsagenturen in Hamburg - und habe eine berufstätige Frau, vier Kinder zwischen sechs und sechzehn und vier Islandpferde.
  • Ich habe mehr als zehn Jahre Führungserfahrung und auch komplexe virtuelle Teams angeführt, beispielsweise eine europaweite Digitalagentur aufgebaut und geleitet.
  • Ich habe wertegebundenen Boulevardjournalismus gemacht und bin dort zu Hause - für mehrere Jahre habe ich für den privaten Hörfunk gearbeitet und auch moderiert.
  • Ich kann Kommunikation in klassischen Medien und in der Arena, die wir Social Media nennen, denn das ist mein Beruf. Meinen ersten persönlichen Shitstorm im Internet überlebte ich 2004.
  • Ich habe einen klaren persönlichen Wertekompass, der im "richtigen Leben" erprobt und die Basis für mein Engagement bei den Grünen ist.
  • Ich habe streitbare, gelebte und formulierbare politische Haltungen. Zu Themen habe ich Meinungen und kann sie verständlich formulieren.
  • Ich bin Generalist und Kreativer. Und weil ich - wie jeder Mensch - inhaltliche Lücken habe und nicht alles weiß, brauche ich ein Team. Ich bin ein Teamplayer und stehe zu meinen Lücken und Schwächen (und sage das auch ohne Politjargon).
  • Ich war schuld, dass Henning Voscherau 1997 zurücktreten musste und so Rot-Grün unter meinem Nachbarn Ortwin Runde möglich wurde.
  • Ich habe seit Anfang 2003 ein Blog, twittere seit Anfang 2007 und sehe für mich keinen Unterschied zwischen Kommunikation, die digital stattfindet, und solcher, die wir in der Kohlenstoffwelt haben.
In den letzten Wochen haben wir in verschiedenen Zusammenhängen über die Vereinbarkeit von Politik, Beruf und Familie diskutiert. Dies hat mich ermutigt, diese Kandidatur zu wagen. Ich werde vier Stunden pro Woche für die Arbeit als Landesvorsitzender zur Verfügung stellen - und meine gesamte Erfahrung aus Beruf und Familie. Da ich ein Teamspieler und asynchron rund 18 Stunden am Tag zu Kommunikation bereit bin, können wir das gut gemeinsam schaffen. Vor allem vor dem Hintergrund, wie ich den Vorsitz gestalten möchte.

Alle Infos und meine Profile findet ihr auf meiner Website, Fragen zu mir, zu meiner Haltung, zu meiner Politik und so weiter beantworte ich gerne öffentlich auf Formspring.

Wie ich dem Landesverband vorsitzen werde

Da ich zu den Unterstützern des “Demokratie”-Antrags für die LMV gehöre, sind die dort formulierten Leitlinien und Handlungsprogramme die meinen. Meine Vorstellungen, wie sich die Grünen weiter entwickeln sollten, wenn sie dauerhaft die Größe einer Volkspartei anstreben - was ich will -, habe ich mehrfach hier in meinem Blog dargestellt, es kann hier nachgelesen werden, ebenso in meinem Papieren zum Aufarbeitungsprozess, die vorliegen.

Dennoch geht es dabei nicht um mich und meine Vorstellungen. Sondern es geht darum, die Grünen in Hamburg wieder politikfähig zu machen - und das politische Zentrum zurück in die Partei zu verlegen. Die Fraktion kann das nicht für die Gesamtpartei leisten, denn sie hat eine andere Aufgabe. Die LAGn sind vor allem in der politischen Facharbeit unterwegs.

Der Landesvorstand und vor allem der Landesvorsitzende haben die Aufgabe, den politischen Dialog und die Politikformulierung jenseits der Fachpolitik anzuleiten und zu vertreten. Da ich seit Jahren genau das beruflich mache - als Strategieentwickler und Strategieberater - biete ich euch an, uns dabei anzuführen.

Dafür wiederum gibt es klare Rahmenbedingungen, die ich will und für die ich mich einsetze. Dazu gehört ein achtsamer Umgang mit der Zeit anderer und eine so asynchrone Arbeitsweise wie möglich, weil ich beispielsweise mir sehr viel auf Bahn- und U-Bahnfahrten erarbeiten kann, andere eher auf dem Sofa, wieder andere bei Treffen. Konkret: Kein Meeting ohne Vorbereitung, kein Beschlussvorschlag ohne Dokumentation, keine Änderung ohne dass sie vorher lesbar war. So schaffen effiziente politische Gremien ohne weiteres 20 Tagesordnungspunkte in 20 Minuten - wenn alle sich vorbereiten und nur die großen Themen diskutiert werden müssen. Da gibt es hunderte von kleinen Hilfsmitteln, die alle von uns, die im Beruf stehen, täglich einsetzen.

Was ist meine Vision?

Als jemand, der aus der Eine-Welt-Bewegung (damals sagten wir noch “dritte Welt”) kommt und dem das bürgerinnenrechtliche Erbe von Bündnis 90 wirklich wichtig ist, der familiär und lebensweltlich zum kirchlich-bürgerlichen Teil der grünen Ursuppe gehört, sind die Grünen mehr als nur wichtig. Wir werden gebraucht.

Und über streitbare Positionen einerseits und eine über alles bisher gekannte hinausgehende Partizipation der Mitglieder und der Bürgerinnen andererseits werden wir in der heutigen Zeit das einlösen, was wir seit 30 Jahren tun wollen: einen alternativen Politikstil und eine bürgerinnennahe Politik zu machen. Und genau dieses - Inhalte und Partizipation - macht für mich bis heute das Grüne aus.

So wie wir damals angetreten sind, die Stimme der Bewegungen in den Parlamenten zu sein, müssen wir heute die Politik aus den Parlamenten wieder hinaus in die Stadtteile, Büros, ins Internet und auf die Plätze tragen. Das aber wird uns nur gelingen, wenn wir eine neue Mischung aus Selbstbewusstsein und Demut für uns entwickeln und zur politischen Kultur erwählen. Da ich genau dafür stehe - und auch lebensweltlich ein Grenzgänger bin zwischen dem wohlhabenden spießigen Vorstadtbürgertum und der vernetzten digitalen Kreativszene, zwischen Prozess und Inhalten und zwischen Leidenschaft für Politik und dem Aufgehen im normalen, richtigen Leben - bin ich bereit, uns auch auf diesem Weg anzuführen.

Das wird mir unter zwei Bedingungen gelingen: Zum einen, wenn viele andere mit voran gehen. Und zum anderen, wenn ihr mir den Freiraum lasst, im Beruf, in der Familie und mit meinen Tieren meinen Mann zu stehen. Denn ich werde nie ein Funktionär sein. Aber ich bin ein Anführer. Und das auch ganz und mit Leidenschaft. Auch mit der nur begrenzen Zeit, die ich dafür habe und einsetzen werde.

Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach
Kreisverband Wandsbek

29.9.2011
Update 1
Die Wahl ist noch genau einen Monat hin. Und ich weiß, dass die Ansage mit den vier Stunden Zeitbudget ein Stolperstein sein kann. Darum ist die Kandidatur nicht weniger ernst gemeint, aber ich diskutiere das intern bei den Hamburger Grünen selbstverständlich weiter. Grundsätzlich denke ich, dass es machbar sein muss, wenn wir nicht große Gruppen von Mitgliedern, die in ähnlichen beruflichen und privaten Situationen sind wie ich, von Ämtern ausschließen wollen. Aber - auch wenn das überraschen mag - ich bin hinreichend uneitel, um meine Kandidatur auch zurückzuziehen, wenn sich in den nächsten Wochen herausstellen sollte, dass diese Idee nicht tragfähig ist. Oder dass sie andere zu sehr belasten sollte, beispielsweise die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen der Partei oder andere Vorstandsmitglieder. Es ernsthaft zu prüfen und zu versuchen, halte ich jedoch wirklich für wichtig.

Update 2
Es geht tatsächlich hoch her in der Diskussion intern. Und bisher überwiegt die Skepsis, dass das, was ich mir vorstelle, leistbar und zumutbar ist. Es führt aber mindestens bei einigen auch zu einem Nachdenken, was wir eigentlich wollen und wie wir uns als Partei führen und anführen (lassen) wollen. Und dieses Nachdenken wird bleiben. Egal, ob meine Kandidatur bleibt oder erfolgreich ist oder ich sie abblase oder durchziehe.

10.10.
Update 3
Die Diskussion ist in innergrünen Gruppen weiter gegangen. Dabei stellen sich mehr und mehr zwei Knackpunkte heraus: Tatsächlich die Frage, ob meine "vier Stunden synchroner Zeit" machbar sind - und ob die Partei reif dafür ist, also auch andere bereit wären, sich mit zu ändern oder es im Grunde eine Überwältigung der Kultur dieser Partei wäre, zumindest noch. Und - ähnlich ein Kulturproblem - ob meine Vorstellung, wie sich grüne Politik entwickeln sollte, noch zu weit entfernt ist von denen, die auf alt-parteiliche Parlamentsarbeit ausgerichtet sind.
Was ich geschafft habe, und was mich freut: Einige der Kandidatinnen für den Landesvorstand, vor allem meine Gegenkandidatin um den Landesvorsitz, müssen sich etwas mehr anstrengen als geplant, ihre Kandidatur zu begründen und überhaupt mal bekanntzugeben (endlich) - und sie werden von Mitgliedern nach ihrem Zeitbudget für diese Aufgabe befragt.
Ich bin zunehmend unsicher, ob ich meine Kandidatur aufrecht erhalten soll. Einerseits denke ich tatsächlich, dass ich es besser machen werde als Katharina, unsere aktuelle Vorsitzende, die gegen mich kandidiert. Andererseits sehe ich schon ein, dass ich nicht nur inhaltlich noch kontroverser bin als sie sondern auch eine Form vorschlage, die noch unerprobt ist.

26.9.11

It's not just German Angst. Privacy is a real issue

For some time, especially in Germany, discussing privacy issues around Facebook or in principle was referred to as a strange typical German thingy and behavior. Silly Germans, overreacting and so on. And maybe it's quite normal that we have here in Germany the Spackeria movement and all these post-privacy clowns as the overreaction to a overreaction.

As someone who was at the same time a privacy-aware citizen and a heavy user of social media platforms that undermine my privacy (and taking the latter as the costs I have to pay to get the convenience and fun and use of - let's say - Facebook) I am really happy that privacy related topics are reaching international mainstream (or at least the blogs of some bright thinkers in the online space).

Maybe it's just like Nik Cubrilovic says-
Privacy today feels like what security did 10-15 years ago - there is an awareness of the issues steadily building and blog posts from prominent technologists is helping to steamroll public consciousness. The risks around privacy today are just as serious as security leaks were then - except that there is an order of magnitude more users online and a lot more private data being shared on the web. (Nik Cubrilovic Blog - Logging out of Facebook is not enough)
or what Dave Winer just pointed out -
People joke that privacy is over, but I don't think they imagined that the disclosures would be so proactive. They are seeking out information to report about you. That's different from showing people a picture that you posted yourself. If this were the government we'd be talking about the Fourth Amendment. (Scripting News: Facebook is scaring me)
I am not a fan of panic. And I always argue that especially young people will find their way to deal with the changing concepts of private and public. But what I really don't like is when one of the players (here: Facebook) just ignores a solid and important discussion and topic that is important for the way we will live together in the future. I hope that the stunt of German journalist Richard Gutjahr will help to rise their awareness. And I am pleased to see that my post-privacy friends will not be able anymore to tell it's a phenomenon of German Angst and silly, anti-technology minded, far behind Germans.

Post-privacy can't be the answer to rising privacy issues with well-used internet platforms. I personally prefer the "default public" concept above the "default private" - but we definitly need privat room for privat discussions. With Dave's and Nik's posts we come near the core of the topic I guess.

19.9.11

Die gehen nicht weg, die Piraten

Die Piraten, da stimme ich anderen ersten Analysen zu, werden nicht wieder verschwinden. Und wir Grünen haben zu ihrem Erstarken wesentlich beigetragen
  • durch extrem große Unsicherheit unserer medial wahrnehmbaren Vertreterinnen in allen Fragen des Internets
  • durch gute theoretische Programme, die sich in der politischen Praxis nicht glaubwürdig widerspiegeln, also nicht eingelöst werden
  • durch die relative Blindheit (kulturell und im politischen Handeln, nicht so sehr in der Programmatik) gegenüber den beiden Kernthemen der Piraten (Freiheit der Rede und Open Government)
Wir hören und lesen immer wieder, die Piraten seien ja im Grunde sozusagen eigentlich Grüne (oder müssten es sein). So wie die Grünen damals ja eigentlich Sozis gewesen sein sollen. Das Problem ist nur, dass unsere Erscheinung und unsere politische Praxis (nicht die Programmatik, denn wenn es um Programmatik ginge, würden auch die Piraten nicht gewählt) so weit von den Bedürfnissen von Piraten und Piratenwählenden entfernt sind, dass sie nicht mal eben "resozialisiert" werden können, wie Renate Künast abstrus formulierte, was ein interessant missglückter Scherzversuch sein sollte.

Rund um die Internet-Stopp-Schilder (kontraproduktives Minderheitenvotum aus der Bundestags-Fraktion), JMStV (totales Schlafen aller Regierungsfraktionen in den Ländern, vor allem HH und NRW) und Vorratsdatenspeicherung (keine über Insider hinaus wahrnehmbare Stimme oder Position) haben Grüne in den letzten Jahren Terrain verloren, ohne dass das nötig gewesen wäre. So wie ja auch die SPD. Weiterhin begegnen die "Piraten in den Grünen" vor allem kulturellen Vorbehalten - ablesbar an internen Diskussionen um Politikstil und transparente Kommunikation, bei denen grüne Piraten es nicht schaffen, mit den alten Bürgerinnenbewegten eine gemeinsame Linie zu finden.

Ohne den Piraten hinterher laufen zu wollen, ist aus meiner Sicht für Großstadtgrüne jetzt zweierlei nötig, um gerüstet zu sein, eine neu politisierte Gruppe von Menschen abzuholen, wenn sie sich von den Piraten wieder abwendet - oder ihnen auch vorher bereits ein alternatives Angebot zu machen. Dabei geht es nicht um flippige oder hippe Anmutung, sondern darum, die tiefe Enttäuschung, die uns nahestehende Gruppen empfinden, wenn sie unser Handeln und unsere Kommunikation analysieren, durch eine Veränderung zu überwinden.
  • Wir müssen Mechanismen finden, die verhindern, dass insbesondere Abgeordnete auf jeder Ebene, aber auch andere auffindbare Grüne, sich aus Unwissenheit oder Ignoranz entgegen unseren im Prinzip weitgehend akzeptablen Programmbeschlüssen äußern (passiert dauernd). Wir gelten als im Zweifelsfall unzuverlässig (oder - im Idealfall - inkompetent).
  • Wir sollten die zumindest in Hamburg (wie ist es eigentlich anderswo?) im Sande verlaufenen Ideen einer hochgradig transparenten internen Diskussion noch einmal aufgreifen und den Politikstil der Transparenz und die Debattenkultur noch einmal auf eine potenzielle Akzeptanz bei Piraten abklopfen. Und einen offensiven Kompromiss zwischen den sehr unterschiedlichen Gesprächskulturen suchen und versuchen, der mehr ist als ein kleinster gemeinsamer Nenner.
  • Ob es uns gelingt, Politik als Prozess der Partizipation zu verstehen und nicht als Volksbeglückungsprogramm, wird darüber entscheiden, ob wir mehr als ein Zwei-Generationen-Projekt einer spießigen oberen Mittelschicht sein können.
Update: An die Piraten, die hier vorbeisegeln -
lest unbedingt auch meinen letzten Blogpost über eure Generation:
Die arme Generation ;)

16.9.11

Die arme Generation

Leider ist er nicht online, wahrscheinlich, weil er eine Promo für ihr Buch war, vermute ich. Zumal es offenbar ein Auszug daraus war, was in der Audioausgabe der "Zeit" aber nicht kenntlich gemacht wurde, in der ich ihn hörte. Naja. Aber Nina Pauer beschrieb in der letzten "Zeit" vom 8.9. etwas, das ich an den jungen Leuten um mich herum auch feststelle, die rund zehn oder fünfzehn Jahre jünger sind als ich.

Grob verkürzt (und für meine These tauglich gestutzt) geht es so: Die "um die 30-jährigen" sind besonders ausgepowert (haha, Wortspiel), besondern oft ausgebrannt, besonders verunsichert. Das Erschreckende ist: Das sehe ich auch so.

Die meisten Burn-Out-Kranken, die ich erlebt habe in der letzten Zeit, gehören zu diesen jungen Leuten. Die meisten Jungs, die sich weigern, erwachsen zu werden (oder auch nur Verantwortung für eine Familie zu übernehmen), gehören zu diesen jungen Leuten. Die meisten, bei denen ich den Eindruck habe, dass Selbstbild und Fremdbild noch so krass auseinander fallen (ich schrob im Juni darüber), gehören zu diesen jungen Leuten.

Das ist keine Kritik, das ist eher die besorgte Beobachtung, sehr viel besorgter als die launigen, gefälligen Formulierungen von Nina Pauer klingen. Ich denke schon länger darüber nach, woran das liegen mag, dass die um-die-40-jährigen, die ich kenne, so anders sind, so viel ruhiger, so viel selbstsicherer, als diese nächste Generation. Und es übrigens auch schon vor 10, 15 Jahren waren. Als wir uns auf den 30sten Geburtstag noch freuten.

Es ist ja nahezu grotesk, dass sie mir in allen meinen Lebensbereichen ähnlich begegnen. Die (wenigen) Eltern um die 30, die ich erlebe. Die jungen Leute, die sich "Social Media Berater" nennen (oder gerade nicht nennen). Die High Potentials in den Großkonzernen (wann kommen die mal aus ihrer "Potential"-Phase?). Die Hyperaktiven, die Führungsaufgaben, auch Top-Führungsaufgaben übernehmen. Die ihr Studium auf eine Karriere hin optimiert haben. Die übrigens ungefähr mit dem Platzen der so genannten New Economy aus der Schule kamen, so um 2000 rum. Die so genannten Millenials. Übrigens sind erstaunlich wenige der Einwandererkinder in diesem Alter darunter (aber dazu gleich, habe ich eine These zu).

Ich weiß, ich bin in einer Akademikerblase gefangen. So wie Nina Pauer auch. Aber da bewegt sich ja ein großer Teil der so genannten Mittelschicht. Und ich habe eine Idee, woran das liegen könnte. Und die macht mich nicht beliebig mutig für meine Kinder.

Deshalb: Die arme Generation

Meine Eltern sind eigentlich zu jung für mich. Die meisten in meinem Alter haben Eltern, die um die 70 sind. Und haben eines gemeinsam: Wir sind die letzten (Westdeutschen), die eine realistische (also für viele von uns Akademikerkinder oder Akademiker erreichbare) Chance hatten, dass es ihnen wirtschaftlich besser geht als ihren Eltern. Die allermeisten Akademikerkinder oder Akadamiker um die 30 werden das wirtschaftliche Niveau ihrer Eltern maximal erreichen, viele werden auch das nicht. Für viele von ihnen ist die Erfahrung nach 2000 die eines Abstiegs. Von enttäuschten Erwartungen.

Das ist zu holzschnittartig, um tatsächlich wirklich wahr zu sein. Aber als grobe Linie könnte es stimmen, oder? Und könnte wenigstens teilweise erklären, warum das Gefühl der Überforderung und des Scheiterns an den unendlichen Möglichkeiten bei vielen so groß ist. Und warum die jungen Leute aus dem Osten und die jungen Einwandererkinder da zu einem erklecklichen Teil anders dran sind. Für diese beiden Gruppen gibt es noch echte Aufsteigerbiographien.

Ich habe den Eindruck, dass die materielle und materialistische Dimension der Entfremdung von unserem Leben ohnehin zu wenig bedacht wird. Vielleicht hilft mir meine politisch-philosophische Sozialisation dabei, diese Dimension ein bisschen deutlicher zu sehen als andere. Und mir geht es auch nicht um Klagen und Verzweiflung, zumal ich fast eine Zwischengeneration bin, da - wie gesagt - meine Eltern so jung waren und eben auch die letzten echten Aufsteiger (gegenüber ihren Eltern, wirtschaftlich).

Aber viele der armen um-die-30-jährigen, umzingelt von berufsjugendlichen, ultratoleranten Eltern, von denen sich abzugrenzen immens schwierig geworden war, die statt durch (politische) Kämpfe vom Börsencrash, 9/11 und Schröder geprägt waren, als sie sich hätten abnabeln sollen (da lob ich mir doch den Kohl meiner Generation, die Pershings und die Volkszählung), viele dieser also haben irgendwie die Orientierung oder Ziele oder das Erwachsenwerden verloren. Nicht umsonst ist Neon ihre Postille gewesen damals (so wie Tempo die unsere war).

11.9.11

Immer wieder faszinierend

Und schön. Das außerdem. Bei Primus war es, als wir in den ersten Herbstferien im Wildpark waren. Und er mit einer Seelenruhe und unendlichen Geduld alle Schilder las. Auch so schwierige wie Wildohreule oder wie immer das gewesen sein mag.

Oder bei Tertius, der sich alles einfach sofort merkt. Da merkt man das Lesen kaum. Oder bei Secundus, der trotz eines völlig verunglückten Leselernstarts (er hatte eine -sorry- bekloppte Anthrolehrerin, die diesen veralteten und unkreativen Waldorfscheiß gemacht hat) fast sofort dicke Bücher las und bis heute verschlingt.

Oder wie heute Quarta, als sie auf einmal aus Worten, die sie in den ersten vier Wochen gelernt hat, einen Satz zusammenbastelt und aufschreibt.


Es ist immer wieder toll, wenn die Kinder geschriebene Sprache für sich entdecken.

9.9.11

Social Media And The Human Voice

One of the things I love most at my job are workshops and talks. I think I learn even more from my audiences than they learn from me, because it's always important to get confronted with real peoples' concerns and findings and experiences. Even if you "live" social media like I do for about ten years now,- and even more if you often meet and talk with other social media guys, you will never get the real value and the real changes social brings to your internet experience if you are not in regular and close contact to them who some of my internet friends call "offliners".

This might be one reason why I am not an evangelist (at least anymore) and have some strong concerns regarding Facebook and privacy and data protection (or a realistic view at this as I would call it). Nevertheless I am convinced that social media has not only value for our private lifes but also for communications. OK, this is not surprising anymore. But the goal today is not anymore to - well - bring brands and companies into social media but to have a closer look at platforms and tools and their value for different communicational needs.

Saying this I tend to look at Facebook e.g. not because it's social media but although there are conversations (that are more often than not collatoral damage of a communication program involving Facebook). And at blogs (yes, still at blogs) for reputational and SEO purposes.

Taking the point of view of the average internet user (and before that: getting to know this point of view) helps to move into action. My experience is that consultants and agencies are able to realize the more digital and social projects the earlier (as in years) they stopped being evangelists. What doesn't mean having stopped educating the communications community.

Next week I'm giving a short talk at the annual IBTTA conference in Berlin called "Social Media and the Human Voice: Building Reputation Through True Engagement in a Changing Environment". And here is the "slides":

7.9.11

Voll die Vollchecker, ey

Ich bin Vater, das wisst ihr ja. Und meine Jungs ärgern sich oft über mich, weil ich in der Lage bin, an ihrer Medienerziehung mitzuwirken, wenn man es so nennen will. Aber sie freuen sich auch, dass ich mit ihnen durch die Anmeldevorgänge bei Facebook et al. gehen und sie bei der Entscheidung beraten kann, was sie wie öffentlich machen wollen und was nicht. Und ich freue mich, dass sie so erwachsen mit dem Internetzdingens umgehen, wie sie es tun, weit erwachsener übrigens als viele Alte, die ich zu meinen Facebookkontakten zähle.

Oder auch so: Wer um die Mittagszeit einmal in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, wird feststellen, wie viele Gespräche sich unter Jugendlichen um Privatsphäre und so weiter drehen. "Dies Bild stellst du aber nicht auf Facebook", ist einer der meist gehörten Sätze. So wie sie selbst jeweils das meistfotografierte Motiv sind.

Oder auch so: Ich sprach vor zwei Wochen mit einer guten Freundin, die heute als Recruiterin in einem Großunternehmen arbeitet. Und die dankbar für Facebook ist. "Weißt du," sagte sie, "wir gucken schon genau auch die Partyfotos an, denn wer als Schüler oder Student keine solchen Fotos hat, ist oft nicht reif für den Job oder passt nicht zu uns." Denn sie wollen Menschen, die "normal" sind, was immer das heißen mag. Es gibt auch andere Unternehmen, ja. Aber wer will in einem Laden arbeiten, in dem der Chef ein Problem damit hat, was ich in meiner Freizeit mache, so lange es legal und im Rahmen der in meinem Umfeld bei großzügiger Auslegung guten Sitten ist?

Das einzige, was ich noch nie von Jugendlichen, Personalern oder Erwachsenen mit einer über Vorurteile hinausgehenden Erfahrung mit dem Internet gehört habe, ist dieses hier:



Und darum sei eine Warnung ausgesprochen. Nicht vor Partyfotos oder "Online-Posts". Sondern vor den Leuten, die für diesen Spot verantwortlich sind, vor diesen Vollcheckern:
Der Spot entstand auf Initiative von Thomas Fuchs, Direktor MA HSH [Anm.: = Medienanstalt Hamburg-Schleswig-Holstein], und Florian Weischer, Geschäftsführer Weischer.Mediengruppe, die dann Lukas Lindemann Rosinski als Kreativagentur pro bono gewinnen konnten. Realisiert werden konnte er dank der Unterstützung von element e (Produktion) und der Programmzeitschrift TV Movie, die die Produktion zusammen mit der MA HSH finanziell gefördert hat. (Medienkompetenz: Netzdurchblick.de)
Medienkompetenz an sich ist ein beklopptes Wort. Aber mir ist schon klar, worum es gehen soll. Aber wer glaubt, dass DIESES das Problem ist, vor dem Jugendliche stehen, hat doch den Schuss nicht gehört. So stellen sich alte, verbitterte Leute Jugendliche vor, ja. Aber die Fragen von Identitätsklau (ein echtes Problem), Isolation (immer schon ein Problem), Burnout (zunehmend durch Schwierigkeiten, die Rollen unter einen Hut zu bekommen), Privatsphäre (also den Einstellungen auf den Plattformen) - also all die Fragen, mit denen ich als Vater und mit denen meine Jugendlichen jeden Tag konfrontiert werden, sind andere. Von denen haben die alten Männer, die diesen Film lustig finden (nehme ich an, soll keinen beleidigen, erbitte schonmal vorsorglich eine Entschuldigung), offenbar entweder keine Ahnung oder noch nicht gehört.

Dieser Film hat nur eine Zielgruppe: Vorurteilsbehaftete Erwachsene ohne eigene Erfahrung. Diese Gruppe nimmt ab und geht wohl auch kaum in die Kinovorstellungen, in denen dieser Film jetzt läuft. Und YouTube kennen die wohl auch nicht, vielleicht sollte er lieber auf YouPorn laufen.

Schlecht wird mir, wenn ich bedenke, dass die Initiatoren dieses sinnfreien, schädlichen Blödfugs auch die sind, die in Hamburg für die Veranstaltungen an Schulen zuständig sind, die unter dem irreführenden Thema Medienkompetenz abgehalten werden. Und die ohnehin - zumindest die, die ich erlebt habe - schräg, sachlich uninformiert und teilweise falsch sind.

Ein wichtiges Thema, eines, das zumindest mir wichtig ist, und bei dem ich nun wirklich nicht zu den kritiklosen Euphorikern gehöre, wird mit diesem Film und diesem Ansatz kaputt gemacht und der Lächerlichkeit anheim gegeben. Und das finde ich - um es mal ganz deutlich zu sagen - zum Kotzen.