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12.9.23

Niederlage

Einer der grauenvollsten Tage war der, den ich in Lidice verbrachte. Ich habe sehr geweint. Noch nie vorher war mir das Grauen des faschistischen Vernichtungskrieges so nah. 

Peter Stehlik 2009.05.12 Lidice 002aa

24.5.18

Datenschutzdingspanik


Jetzt, wo sich die Debatte um Datenschutz und Datensouveränität in meiner Filterblase ihrem hysterischen Höhepunkt nähert, doch noch einmal drei, vier Beobachtungen zum Datenschutz und zur Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Dies ist keine juristische Einschätzung, es sind nur die Beobachtungen, die ich in den letzten zwei Jahren (ja, denn so lange beschäftigen sich diejenigen, die jetzt gerade nicht Panik schieben, ja bereits damit) gemacht habe – und die mich teilweise sehr irritieren und ratlos machen. Also ein paar weitgehend unzusammenhängende Absätze.

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Besonders auffällig finde ich, dass ich aus größeren Unternehmen – die eigentlich überproportional von Datenschutz betroffen sind – deutlich unterproportionales Jammern höre. Meine These dazu ist ja, dass da, wo die Verordnung gelesen (und dank Fachkompetenz von Fachleuten verstanden) wurde, die Panik ausgeblieben ist. Das finde ich zunächst einmal interessant.

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Ich habe mir sehr viele der Mails, die von Newsletter-Versenderinnen kamen in den letzten Wochen, durchgelesen. Der allergeringste Teil davon ist gerechtfertigt gewesen, weil das, was da abgefragt wurde, ganz offensichtlich gar nicht an der DSGVO liegt. Denn in den meisten Fällen gab es eine Double-Opt-In von mir und eine Zustimmung zur Speicherung meiner Daten und zum Empfang der Mails. Allerdings ist auffällig, dass sehr viele über diesen Weg zum einen versucht haben, weitere Daten (vor allem den Namen) von mir zu bekommen. Und zum anderen eine weitergehende Zustimmung zur Nutzung meiner Daten als ich bisher gegeben hatte.

Besonders apart fand ich die Bettelmails, die voller Bedauern auf die schlimmen Veränderungen hinwiesen (offensichtlich anknüpfend an die Panikberichte der letzten Wochen) - um dann allerdings zu versuchen, mich zu absurd weitgehenden Zustimmungen zur Datenpreisgabe und Einwilligung zu tricksen. Anders erklärbar wären viele diese Mails nur, wenn die Versenderinnen aufgrund schlampiger bisheriger Prozesse nicht nachweisen könnten, dass ich ihren Mails und der Speicherung meiner Daten zugestimmt habe. Weiß nicht, was ich schlimmer finden soll.

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In dem Zusammenhang fand ich die sehr verschiedene Tonalität von Online-Aktivistinnen aus Deutschland und aus Nordamerika gelinde gesagt verstörend. Sehr gut war das auch auf der diesjährigen re:publica zu beobachten für die, die es vorher noch nicht so verfolgt hatten: Während ich von US-Aktivistinnen fast nur lobende Worte hörte, war von sehr vielen deutschen Aktivistinnen sehr weitgehende Kritik zu hören.

[In dem Zusammenhang und etwas off topic auch die Beobachtung, dass ebenfalls die Diskussion rund um das NetzDG, also den deutschen Umgang mit Gewalt in Sozialen Medien, entlang dieser Linie ebenfalls so unterschiedlich ausfällt. Amerikanische Jüdinnen und Feministinnen dazu zu lesen, ist total interessant – bis hin zu der Beobachtung, dass für etliche von ihnen Deutschland online eine Art "safe space" geworden ist.]

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Während (meine Einschätzung: effektheischend) einige Startups und Services mit einer I-don't-care-Haltung zu Datenschutz und Datensouveränität nun unter großen Tränen Europäerinnen von ihren Services ausschließen, wenden andere Unternehmen die europäischen Regeln nun weltweit an. Nach dem, was ich aus Unternehmen höre, sei das ohnehin nicht schwer, weil außer einer stringenteren Dokumentationspflicht ein ethisch und rechtlich vernünftiges Verhalten auch vorher schon ungefähr so ausgesehen hätte. Ob das so ist, kann ich mangels Fachkenntnis nicht beurteilen, es macht mich aber nachdenklich.

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Dass sich im Zuge der DSGVO mehr und mehr Menschen, die Onlineangebote betreiben, mit der Frage beschäftigen (müssen), ob sie eigentlich personenbezogene Daten erheben und verarbeiten (ich musste das für dieses Hobby hier, also diese Blog und das andere Hobby-Blog, ebenfalls, oder habe es jedenfalls auch erstmals gemacht), kann ich irgendwie nicht doof finden. Wenn dann einige, denen es zu mühsam ist, sich das anzugucken und darüber nachzudenken und zu versuchen, das zu verstehen, ihre Onlinedings schließen/löschen/beenden, dann finde ich das auch nur so mittelgut – aber das ist zum einen ihr gutes Recht. Und zum anderen vielleicht doch auch irgendwie gut so. Denn wenn es ihnen zu mühsam ist, sich diese Frage zu stellen, habe ich auch nur wenig Hoffnung, dass sie verantwortlich mit Daten anderer umgehen (wollen).

In dem Zusammenhang finde ich es interessant, wie anders die Frage nach Datenschutz und die Frage nach Algorithmen diskutiert werden in meiner Ecke des Internets. Denn während es sehr viele Aktivistinnen gibt, die fordern, dass Menschen Algorithmen zumindest dem Grunde nach verstehen sollten (das meint ja die Forderung nach Programmiergrundkenntnissen für alle bzw. Programmieren als Schulfach), ist mir die gleiche Forderung in Bezug auf Daten, Datenschutz oder Datensouveränität bisher nicht aufgefallen. Was ich übrigens schade finde. Und bei näherem Nachdenken irgendwie auch das noch wichtigere Thema als das Programmieren für Schule, Weiterbildung und Aufklärung. Aber na ja.

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Nach dem, was ich im Beruf mitbekommen und was ich rund um mein Hobby gemacht habe anlässlich der DSGVO, scheint es mir so zu sein, dass es tatsächlich an der einen oder anderen Stelle anstrengend ist. Vor allem die Dokumentationspflichten sind nicht das reine Vergnügen. Aber: die kann ich verstehen - sowohl verstehen im Sinne von "ich weiß, was damit gemeint ist" als auch im Sinne von "ich weiß, warum das so sein soll".

Was ich gelernt habe in den letzten Wochen, ist vor allem, wo etwas, das ich tue, personenbezogene Daten, Daten im Sinne der DSGVO, erzeugt. Und wenigstens teilweise habe ich gelernt, was mit denen passiert im Hintergrund, ob und wo sie gespeichert werden, ob und wie sie ausgewertet werden. Ich halte es für richtig, dass jemand, die etwas macht, wobei diese Daten anfallen, genau dieses auch lernt. Und finde es im Gegenteil eher bedenklich, dass ich mir vorher darüber weder Gedanken gemacht habe noch nachgeguckt habe. Ja, kann man doof finden, kann man auch überflüssig finden – sollte man dann aber auch genau so sagen, denke ich.

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In meiner Ecke des Internets, in meiner Bezugsgruppe, höre ich in den letzten Wochen oft, die DSGVO habe dem Thema Datenschutz einen Bärendienst erwiesen, vor allem weil sie auch Gutmeinende in die Ablehnung getrieben hätte. Als jemand, der beruflich selbst Kampagnen macht und ein bisschen sensibel ist für das Beobachten von Kampagnen, bin ich mir nicht ganz sicher, ob da nicht manche, die sich für dafür nicht sehr anfällig halten, einer Kampagne derer aufgesessen sind, denen die Nebelkerzen nutzen. Also den Datenhändlerinnen (darunter die meisten Verlage) und Scoring-Anbieterinnen. Eine Folge des Trommelfeuers auch der Aktivistinnen gegen die DSGVO scheint mir zu sein, dass – wie oben beschrieben – etliche die Grundstimmung, die durch das Trommelfeuer geschürt wurde, nutzen, um Blankovollmachten einzufordern und eine Entmachtung von Menschen in Bezug auf ihre Daten zu versuchen.

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Zu sagen, der Versuch, eine systemische Grundlage schaffen, die Menschen einen souveränen, also mächtigen, eigenen Umgang mit den eigenen personenbezogenen Daten ermöglicht (selbst wenn den nicht alle nutzen wollen oder werden), sei bevormundend oder anders paternalistisch, kommt mir sehr grotesk vor. Oder libertär. Was ja aber ein Pleonasmus ist.

31.7.15

Die Würde des Menschen ist eingeschränkt unantastbar

Dass ich kein übertrieben großer Fan von Ex-Ministerin Kristina Schröder bin, ist für euch sicher nicht so überraschend. Dass sie kein übertrieben großer Fan des Grundgesetzes zu sein scheint, ist für mich dann schon eher überraschend*.

Das Positive vorweg
Die ersten Reaktionen aus Regierungsfraktionen auf den staatlichen Anschlag auf die Pressefreiheit gestehen immerhin zu, dass es ein Anschlag auf die Pressefreiheit sei - dass die halt einfach nicht uneingeschränkt gelte (was stimmt, siehe Grundgesetz Art 5 II). Damit sind die Linien klar. Und es ist von denen, die für diesen Anschlag sind, auch klar gemacht, dass es um Pressefreiheit geht und darum, wie sehr wir sie einschränken wollen. Das ist ein lohnender Kampf.

Das Erschütternde dann aber auch
Für eine Ex-Ministerin und MdB gibt es keine Grundrechte, die schrankenlos gelten:
Während ich gerne und hart mit Reaktionärinnen über die Pressefreiheit #ups streite, mache ich das nicht mit Verfassungsfeindinnen. Die Vorstellung, Art. 1 und 3 (die beide explizit KEINEN Gesetzes- also Einschränkungsvorbehalt haben) gälten nicht schrankenlos, ist nicht nur absurd und gefährlich - sondern ein Grund, sich mit den eigenen Aktionen auf Art. 20 (4) zu berufen.

Was für eine - sorry - perverse Vorstellung von ihrer Macht als Parlamentarierin oder vorher Ministerin hat denn Frau Schröder bitte, wenn sie meint, auch die elementaren Grundrechte würden nicht schrankenlos gelten - sondern seien durch ihr (gesetzgeberisches) Handeln einschränkbar? Ja, das Parlament kann die Pressefreiheit einschränken, die Pressefreiheit hat sogar eine explizite Einschränkung in ihrem eigenen Grundrechtsartikel (auch wenn diese Ehre-Einschränkung irgendwie schräg ist an dieser Stelle). Aber auch Frau Schröder kann Art. 1 und 3 (Würde des Menschen und Gleichheit vor dem Gesetz) nicht mit Schranken belegen.

Es ist ein Skandal
Und es zeigt, wie weit wir in diesem Land tatsächlich schon wieder sind, dass hochrangige Politikerinnen auf eine der größten Demokratiekrisen seit der Spiegel-Affäre 1962 mit einer Verhöhnung des Grundgesetzes reagieren. Und ihr wundert euch, dass der Ton rau wird?

Und noch zur Pressefreiheit
Ich trage ja Verantwortung für eine PR-Agentur. Und für uns PR-Leute ist Pressefreiheit nicht nur irgendein einschränkbares Dingens. Sondern eine wesentliche Voraussetzung für unsere Arbeit. Darum reagiere ich so empfindlich auf den Anschlag (also nicht nur darum, aber eben auch darum). Darum müssen wir führenden PR-Köpfe uns so klar und eindeutig und laut und deutlich gegen diesen Anschlag auf die Pressefreiheit positionieren. Funktionierende, freie, mutige Medien und Publikationen sind die Basis dafür, dass wir unseren Job für unsere Kundinnen machen können. Denn sie sind ein wesentlicher Teil des "Public" in Public Relations. Der staatliche Angriff und die indifferente Haltung der Regierungsfraktionen zu diesem Angriff gefährden mein Geschäft. Schaden der Firma, für die ich Verantwortung habe.

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* doch, echt, ist es. Ich gehöre nicht zu denen, die gleich allen, mit denen sie politisch über Kreuz sind, Bosheit oder Dummheit unterstellen (echt nicht). Und obwohl ich Frau Schröder für reaktionär halte, dachte ich, dass sie einen klaren, christlich geprägten Wertehaushalt hat und voll aufs Grundgesetzt steht.

21.6.15

Das gesunde Volksempfinden des Reinhold Gall

Ich denke, dass wir über Vorratsdatenspeicherung diskutieren können. Und bin der SPD dankbar, dass sie es getan hat. Ich finde das Ergebnis falsch, aber das ist Politik. Was nicht Politik ist, sind die Äußerungen des SPD-Innenministers von Baden-Württemberg Sonnabend um 22.00 Uhr.  Des Ministers, der für Freiheit und Verfassung und Polizei zuständig ist.
Was will er mir damit sagen? Dass Schutzhaft, Erpressung und Folter ok wären, wenn sie Kinderschänder oder Entführung überführen oder aufklären? Dass sich alles, wirklich alles (denn Freiheit ist so ziemlich alles) unterordnen muss, wenn es um Strafe geht?

Mit dieser Logik sind wir so dicht an Folter und der Todesstrafe, dass es nur noch ein kleiner Schritt ist von diesem Satz zum gesunden Volksempfinden. Das niemals Richtschnur politischen Handelns sein darf. Zumindest nicht bei denen, die Demokratinnen sind.

So ein Innenminister ist in einer grün geführten Regierung untragbar und muss entlassen werden. So was würde ja nicht mal der Hamburger Innensenator sagen, der ja nun auch kein sicherheitspolitisches Kind von Traurigkeit und für VDS ist.

22.1.15

Staatsterrorismus

Vor etwas mehr als einem Jahr schrieb ich, dass eigentlich nur ein Fanal fehle, um die grummelnde Unzufriedenheit in handfesten Widerstand zu transformieren. Wer hätte gedacht, dass dieses Fanal nun eher den Notstandsgesetzen als dem Mord an Ohnesorg gleicht.

Landgericht-frankfurt-2010-ffm-081

Wenn nun - und die Bundesregierung stimmt dem ausdrücklich zu - Überlegungen aus der EU kommen, faktisch die Verschlüsselung von Kommunikation zu verbieten (denn aus meiner Sicht ist es genau das, wenn für den Staat Hintertüren eingebaut werden müssen in jede Verschlüsselung), dann kann es dieses Fanal sein.

Einmal zum Mitschreiben: Der Bundesinnenminster, der von einer Koalition aus CDU, CSU und SPD getragen wird, fordert die Abschaffung von Grundrechten.

Meiner Meinung nach wäre ein Verschlüsselungsverbot Staatsterrorismus. Denn eine Regierung, die verhindert, dass ihre Bürgerinnen sich unbelauscht unterhalten, ist ein Terrorregime. Und ein Staat, in dem Verschlüsselung verboten oder das Briefgeheimnis abgeschafft ist, ist ein Unrechtsstaat.

Gegen die Abschaffung von Grundrechten fordert unsere Verfassung ja ausdrücklich den Widerstand.

Über viele Punkte rund um Sicherheit und Freiheit können wir diskutieren. Selbst über die Vorratsdatenspeicherung, das Lieblingskind der konservativen Placebopolitik, können wir reden. Da sind diejenigen, dich sich für Bürgerinnenrecht stark machen, zwar einig (in der Ablehnung), aber das ist eine politische Frage.

Die Frage, ob ich (selbst wenn ich persönlich es zurzeit nicht tue) meine Kommunikation verschlüsseln und damit privat halten kann, ist aber keine politische. Wenn die Regierung dieses verhindert, überschreitet sie eine Linie. Und dies ist die Linie, die aktiven und realen Widerstand rechtfertigt. Dann sind Worte und Bilder am Ende. Sie helfen nicht mehr.

Noch ist es nicht so weit. Aber vor allem Sozialdemokratinnen sollten sich bewusst sein, dass es wirklich ein Treppenwitz der Geschichte wäre, wenn wieder eine von ihnen ungeliebte große Koalition den Funken in das Pulverfass wirft.

10.12.13

Das Schweinesystem

Die einzige mögliche Antwort auf die absolut richtige Analyse von Sascha Lobo ist der Widerstand.

Wacht auf, Verdammte dieser Erde
die stets man noch zum Hungern zwingt!
Das Recht, wie Glut im Kraterherde
nun mit Macht zum Durchbruch dringt.
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger
alles zu werden, strömt zuhauf. 
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!
Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.

Es rettet uns kein hö´hres Wesen,
kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen,
können wir nur selber tun!
Leeres Wort: des Armen Rechte!
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und Knechte,
duldet die Schmach nun länger nicht! 
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.

31.10.13

Von beweglichen Lettern und der Reformation

Reformationstag. Zum 496-sten Mal sozusagen. Als Tag ein Symbol für eine der größten gesellschaftlichen Veränderungen in Europa überhaupt. Denn die Reformation war in dieser Form nur möglich, weil es kurz vorher eine Medien(technik)revolution gegeben hatte. Luther war keineswegs der erste, der den Papismus in seiner spätmittelalterlichen Ausprägung kritisierte. Er war nicht mal der erste, der den Menschen die Bibel geben wollte, die die Kirche ihnen vorenthielt. Er - und nicht nur er sondern seine Generation der Kritiker - war nur der erste, der mit Hilfe der beweglichen Lettern für den Druck die Chance hatte, seine Ideen, Fragen und Übersetzungen zu skalieren. Also zu kopieren und verfügbar zu machen.

Damit begann eine Revolution. Denn einher ging mit dieser Chance die Notwendigkeit, Menschen das Lesen beizubringen. Was hätten sie sonst mit den Büchern anfangen sollen.

Was wir lernen können, wenn wir solche Punkte wie die Reformation (und die Aufklärung, die aus den gleichen Gründen zur gleichen Zeit zusammen mit der Reformation die Neuzeit einleitete) ansehen: Dass ein Mehr an Informationen, dass die Überprüfbarkeit der Aussagen der Obrigkeit, dass die leichtere Kopierbarkeit von Inhalten zu einem Mehr an Freiheit führen kann. Auch wenn die papistische Reaktion und vierhundert Jahre später die Terrorregime in Europa die Funktionen der Medien(technik)revolution auch zur Versklavung nutzen konnten.

Aber wer in der Tradition der Reformation steht oder der Aufklärung, wird nicht anders können, als die zurzeit stattfindende Revolution zu umarmen.

Bis aus einer Revolution der Medien(technik) allerdings eine Veränderung der Gesellschaft, eine Revolution wird, dauert es. Damals mehr als zweihundert Jahre. Heute sicher auch nicht viel kürzer. Aber die Vorboten sind schon zu sehen. Mich fasziniert die Definition von Revolution, die Clay Shirky verwendet (hat) -



Gerade Am Anfang, wenn eine Medien(technik)revolution in eine gesellschaftliche Revolution übergeht, tritt ihre Janusköpfigkeit besonders hervor. Ähnlich wie bei den beweglichen Lettern ist auch die Digitalisierung von Information und Kommunikation (und damit ihre einfachere Verfügbarkeit und Kopierbarkeit) zwar etwas, das in sich strukturell zu mehr Freiheit führt. Aber so wie das gedruckte Pamphlet einfacher gegen Luther verwendet werden konnte als nur das Hörensagen, bietet die Digitalisierung der Kommunikation einen einfacheren Zugang zu ihrer Überwachung.

Das Pamphlet kam trotzdem nicht wieder aus der Welt. Und die Freiheit der Rede kann nicht einmal China vollständig unterdrücken. Noch viel weniger werden es ein vordemokratisches Regime wie Großbritannien (wo es nicht mal echte Verfassungsrechte gibt), ein Geheimdienstregime wie in den USA oder eine Regierung, deren Innenminister ein bekennender Verfassungsfeind ist, wie in Deutschland schaffen. Das macht mich optimistisch.

Der Reformationstag ist ein guter Tag, daran zu erinnern, wie Medien und Technik Freiheit bringen können und eine Revolution auslösen. Und es ist ein guter Tag, um vor Zorn über die Feinde der Freiheit aufzuschreien. Damals die Papisten. Heute die Vertreterinnen und Vertreter eines "Supergrundrechts Sicherheit". Und drittens ein guter Tag, um schrill und hysterisch zu lachen, in aller Verzweiflung, wenn diejenigen, die noch vor einem Jahr beklagten, das Internet sei ein rechtsfreier Raum, es heute zu ebendiesem zu machen versuchen. Und meine elementaren Bürgerrechte und Menschenrechte nicht einmal verteidigen wollen, unabhängig von der Frage, ob sie es können.

Die Feinde der Freiheit haben unruhige, revolutionäre Zeiten immer schon genutzt, um ihr Unterdrückungswerk unter dem Deckmantel von Ruhe und Sicherheit zu befördern. Hundert Jahre nach dem Thesenanschlag in Wittenberg führte das in einen großen europäischen Krieg. Vor fünfzig Jahren verwandelte sich zornige Ohnmacht in gewaltsame Proteste und einen Untergrund.

Jan Hus konnten sie noch verbrennen, Luthers Bibelübersetzung nicht mehr. Rudi Dutschke konnten sie noch ermorden, die Menschen auf den Plätzen der nordafrikanischen Städte nicht mehr. Chelsea (Bradley) Manning konnten sie noch internieren. Uns alle aber nicht mehr.

Wir befinden wir uns an einem Scheideweg. Und die Reformation kann dabei Ermutigung sein. Auch und gerade heute.

26.9.13

Wir leben gern. Überlegungen für neue Grüne.

Was ich mich immer noch frage, ist, wie es eigentlich passieren konnte, dass die politischen Gegnerinnen die Geschichte erzählen konnten (und ihnen das jemand aus gutem Grund glaubte), dass die Grünen die Dagegen-Partei seien und immer mehr Verbote und Gesetze fordern. Lange habe ich das nicht Ernst genommen, denn ich fand es absurd. Es entsprach so gar nicht meinem Erleben von Grün.

Obwohl ich in einem grünen Milieu aufgewachsen bin, habe ich die Grünen zuerst aus der Entfernung betrachtet. Denn ich war als Marxist in die SPD eingetreten. Während wir über die Verstaatlichung der Banken sprachen, haben die Grünen gefeiert und Sonnenblumen in den Bundestag getragen. Wir wollten die Welt mit Gewalt und Gesetzen verändern. Die Grünen mit Lebensfreude und einem anderen Leben. Theologisch gesprochen standen sie immer für die Fülle des Lebens, für ein neues Leben im alten.

Dann kam Bündnis 90 dazu. Ganz anders sozialisiert. Mit nur einer Klammer, die beide Gruppen hatten: ihren jeweiligen Kirchenflügel. Fast alle meine Freundinnen aus der kirchlichen Friedens- und Eine-Welt-Bewegung waren Grüne. Oder wählten sie und ihre Vorläufer seit Ende der 70er. Und das Bündnis 90 brachte ein weiteres Erbe mit ein in die gesamtdeutsche Partei: den unbedingten Wunsch nach Freiheit. Die große Skepsis gegenüber allen, die uns vorschreiben wollen, wie wir leben sollen. Das zog mich an. Das ließ mich grün wählen, als ich noch in der SPD war. So ging es vielen Weggefährtinnen damals, bis heute kenne ich Leute, die sogar Funktionen in Kreisverbänden der SPD haben, die häufiger grün als rot wählen. Als niemand von den Linken in der SPD gegen Schröder um den Bundesvorsitz der Partei kandidierte, bin ich zum zweiten Mal ausgetreten. Und nach dem Himmelfahrtsparteitag und dem Jugoslawienbeschluss bei den Grünen eingetreten. Obwohl ich gegen diesen Beschluss war. Weil ich die BDK im Fernsehen verfolgte und beeindruckt war von Niveau und Ernst der Diskussion. Von der Freiheit, die diese Partei atmete.

Nur was ist dann passiert? Und warum haben wir es nicht gemerkt? Wie konnte aus einer Partei der Lebensfreude, des Feierns, des Strickens, einer Partei, zu deren Veranstaltungen Eltern ihre Kinder mitbrachten, auf denen sie Tipps für gutes Leben austauschten – wie konnte aus so einer Partei eine werden, die hinter einem sauertöpfischen, ungeduldigen Intellektuellen herlief und es duldete, dass er die Steuerpolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellte?

Oder anders gesagt: Der Unterschied zwischen Robert Habeck und Jürgen Trittin ist ja schon deutlich, oder? Hier in Hamburg zwischen Anna Gallina und Katja Husen einerseits und Christa Goetsch andererseits. Im zurückgetretenen Bundesvorstand zwischen Malte Spitz und Cem Özdemir.

Mir geht es nicht um Personen, aber Personen machen den Narrativ, die Geschichte, die wir und andere erzählen (können). Die Grünen standen in den Zeiten, in denen sie junge Leute erreichten und sehr weit ins sogenannte bürgerliche Milieu ausstrahlten, eher für ein Lebensgefühl als für eine konkrete Politik. Das ging, solange sie keine Politik gestalten mussten oder durften. Und führte die Generation vor meiner in die realpolitische Sackgasse, aus der herauszufinden sie nicht die Kraft oder Weitsicht hatte. Und das unabhängig von dem, was früher einmal die Flügel waren.
(Kleine Randnotiz: Darum ist auch die Flügeldebatte nach der Wahlniederlage so absurd. Außer dem ehemaligen „Realoflügel“ der Grünen würde wohl niemand ernsthaft auf die Idee kommen, Trittin als „Linken“ zu bezeichnen.)

Genug Rückblick. Wie kann es weiter gehen?

Die Grünen sind in einer einmaligen Situation. Wir haben erkannt, dass tatsächlich irre viel schief gelaufen ist. Wir haben bei einem Teil der Generation, die uns in die Regierungsverantwortung in den Ländern und im Bund geführt hatte, die Einsicht, dass der Neuaufbau und die neue Erzählung andere als sie braucht. Sie haben unser Land zum besseren verändert. Sie haben ihre Mission erfüllt und sie werden mir immer in Erinnerung bleiben als die, die das gesellschaftliche Klima und vieles an realer, politisch gestalteter Lebenswirklichkeit geschaffen haben, was heute besser ist als in den 80er Jahren. Dafür sage ich danke. Und meine das auch so.

Und wir sind in der einmaligen Situation, dass sich die Partei, die mit uns am schärfsten um gut situierte Menschen mit Lebensfreude konkurrierte, über die letzten zehn Jahre so demontiert hat, dass selbst ein sympathischer und brillanter Intellektueller wie Christian Lindner sie nicht so schnell wird wiederbeleben können. Erinnert ihr euch noch, dass für die meisten von uns seit etwa 2000 die FDP der eigentliche „Gegner“ war? Und das stimmte ja auch. Anders als unsere Mitglieder kamen sehr viele unserer Wählerinnen aus den Milieus und Schichten, die in den 70ern FDP gewählt hätten und hatten. Und es ist auch kein Zufall, dass wir besonders stark wurden in dem Bundesland, in dem die FDP ihre besten Wurzeln hat. Baden war seit Mitte des 19. Jahrhunderts die deutsche Hochburg des weltoffenen, bürgerlichen Liberalismus. Und nicht umsonst wurde der liberale Aufbruch in Freiburg beschlossen.

Menschen mit Lebensfreude haben sich lange zwischen uns und der FDP entschieden. Während die FDP mehr und mehr die Hedonistinnen anzog, waren wir für Menschen attraktiv, die Lebensfreue damit verbanden, ein gutes Leben auch für andere zu wollen. Der Unterschied zwischen Egoismus und Freiheit. Zwischen der angelsächsischen (heute oft als neoliberal bezeichneten) „Freiheit von“ und der deutschen „Freiheit zu“. Zwischen Utilitarimus und Werteethik.

Ob Grüne links sind oder zum „linken Lager“ gehören – wohin uns alle Spitzenleute und alle BDK-Delegierten für den Wahlkampf geführt haben – war eigentlich nie wichtig. Wenn Freiheit und Lebensfreude mit Verantwortungsübernahme links sind, dann sind wir links, ja. Aber wenn autoritäre Beglückungsphantasien oder eine Politik des Mitleids, wie Jakob Augstein jüngst in der „Zeit“ links definiert hat, links sind, dann sind wir nicht links.

Aufbruch wagen.

Ironischerweise verkörpert ausgerechnet Claudia Roth, die als erste Verantwortung für die Niederlage übernahm und Konsequenzen zog, obwohl sie mit Abstand am wenigsten damit zu tun hatte, in der Generation, die jetzt in die zweite Reihe treten wird, den Aufbruch und das Lebensgefühl noch am besten. Mit ihrer Biografie, mit ihrer – äh – kontroversen Wahrnehmung im Land, mit ihrem Lachen und ihrem unbändigen Freiheitswunsch.

Aus der realpolitischen (links wie nichtlinks) Sackgasse kann uns aus meiner Sicht vor allem führen, dass wir uns auf zwei Kernbereiche besinnen, auf eine Haltung und auf eine Zuversicht:
  1. Umwelt und Zukunft der Kohlenstoffwelt
    Da kommen wir her, das ist das Kernthema und der Grund unseres Engagements. Das ist die Basis unserer Lebensfreude und unserer Sorge für morgen. Dabei geht es weniger um das EEG oder die Mineralölsteuer, sondern um ein besseres Leben. Vegetarische Rezepte vor Veggieday.
  2. Freiheit und Bürgerinnenrechte
    Die FDP hat ihr bürgerrechtliches Erbe verschleudert. Wir haben es nicht aufgehoben, weil es vielen der letzten Generation so fremd war. Freiheit und Bürgerinnenrechte sind für meine Generation und die meiner jugendlichen Kinder das, was für euch der Umweltschutz war. So wie der saure Regen und die Atomkraftwerke eure Lebenswelt zu zerstören drohten (und so wie ihr auszogt, eure Lebenswelt zu retten), so bedroht die Totalisierung von Sicherheit unsere Lebenswelt. Bürgerinnenrechte sind der Umweltschutz für unseren Heimat- und Lebensraum.
An diesen beiden Kernbereichen muss sich alle messen lassen, was wir fordern und wollen und beschließen. Mehr Freiheit. Und mehr Zukunft auf diesem Planeten. Klingt trivial? Mag sein – aber kann ein neues Verbotsgesetz, ein Führerschein für Haustiere oder eine Steuererhöhung für 80% unserer Wählerinnen sich wirklich auf diese beiden Punkte zurückführen lassen, ohne in der Sackgasse zu landen?

Eine Haltung. Ja ich weiß, mein Lieblingsthema. Aber wichtiger als alles andere ist es aus meiner Sicht, dass wir aus einer gemeinsamen Haltung heraus Politik machen. Sozialromantikerinnen und Ökoterroristen (wie es ein Freund und grüner Lokalpolitiker neulich formulierte) können wir aushalten – wenn sie sich mit uns auf eine gemeinsame Haltung einigen.

Aus meiner Sicht muss dieses eine Haltung des Optimismus in Bezug auf Menschen sein. Grüne Politik wird sich von einer Politik der Linken (und auch der SPD und der CDU) immer mindestens daran unterscheiden, dass wir kein autoritäres Politikverständnis haben. Also unsere Ziele nicht mit Gesetzen durchsetzen wollen – sondern überzeugen. Etwas holzschnittartig formuliert.

Ja, wir werden auch Gesetze machen (wollen und müssen). Aber die erste Frage, die Faustregel muss sein: Geht es ohne ein Gesetz? Welches Gesetz können wir abschaffen? Was bringt mehr Freiheit?

Ich kann nachvollziehen, wie das Image der Verbots- und Regelwut entstand: Aus Ungeduld. Weil eine Generation ihre letzte Chance sah, jetzt noch mal schnell durchzusetzen, was sie als richtig empfand. Nur: das wollen die Leute nicht. Vielleicht ist das eine gute Faustregel für künftige Führungswechsel bei uns – sobald jemand ungeduldig wird, ist es Zeit, den Platz frei zu machen für jemanden, die noch einen langen Atem hat. Ihr habt es ja selbst vorgemacht mit der Atomkraft.

Und damit sind wir bei der Zuversicht. Wir sind, und das unterscheidet uns von der klassischen Linken, nicht verzagt und nicht verzweifelt. Ja, der Zustand der Freiheit und auch der Zustand des Planeten sind zum Verzweifeln, wenn wir es genau ansehen. Aber wenn wir das als Haltung kultivieren, erreichen wir die Emos. Und nur die. Wir sollten schon der Tatsache ins Auge sehen, dass es unseren Wählerinnen gut geht. Dass sie optimistisch sind. Dass ihnen aber nicht egal ist, wie es anderen, wie es der Freiheit, wie es dem Planeten geht. Das unterscheidet sie von denen, die CDU oder links wählen. Mit Jammern und dagegen-Sein erreichen wir die nicht. Mit Zuversicht und Optimismus schon. Vor allem mit dem Optimismus, dass Menschen nicht doof sind. Was wir in dem, wie wir Politik formulieren, noch allzu oft unterstellen. Oder es zumindest so aussehen lassen, als dächten wir es.

Vielleicht bin ich blauäugig, weil es mir gut geht und ich optimistisch bin. Aber wenn ich mich umgucke, sind fast alle, denen ich begegne (und die bereit sind zu wählen und dann auch uns zu wählen) auch so. Optimismus und Freiheit führen zu einem Politikansatz der Ermächtigung und der Teilhabe. Und nicht zu einem des Paternalismus und des Mitleids. Denn Mitleid ist immer peinlich. Und das Gegenteil von Solidarität (die auch immer asymmetrisch ist, aber das ist eine andere Geschichte).

23.8.13

Es war eine schöne Zeit

Das war es wirklich. Wie die eine oder andere nachrechnen kann, war ich in den 70er Jahren Kind und in den 80er Jahren Jugendlicher. Die 70er sind gerade in der merkwürdig verrutschten Pädophilie-Debatte ähnlich verzerrt wie die 80er in der über politische Bewusstwerdung und Frauendings.

Dabei war es eine tolle Zeit, in die ich hineingeboren wurde. Und eine tolle Szene. Und manchmal denke ich wehmütig, dass ich meinen Kindern gönnen würde, einiges davon zu erleben wie ich es erlebt hatte als Kind. Auch wenn ich weiß, dass vieles von heute aus betrachtet (oder auch nur aus dem Blickwinkel von schon nur zehn Jahre Jüngeren) sehr merkwürdig und fremd anmutet.

Jede wird wohl einige besonders starke und nachhaltige Erinnerungen an Kindheit und Jugend haben, nehme ich an. Bei mir sind sie sehr geprägt von den Menschen, mit denen meine Familie befreundet war, und den Bewegungen, in denen ich aufwuchs. Beides hat mich, wie ich heute weiß, sehr geprägt. Interessanterweise kommt dieses immer mehr zu tragen, je älter ich werde.

Da ist zum einen der Feminismus der zweiten Welle der Frauenbewegung. Frauen und Männer, oft die Männer, mit denen die Frauen, die in meiner Umgebung das Thema vorantrugen, verheiratet waren und ein neues Leben ausprobierten. Eine neue Sprache. Meine eigene Familie war da eher am Rande, denn das mit dem Leben ging so nicht. Meine Mutter hasste den Beruf, in den sie ihr Vater in den 60ern gedrängt hatte - und gab den so früh es ging auf. Also als ich geboren wurde. Und während unsere Familie (Vater, Mutter, Sohn Tochter, Vater voll berufstätig, Mutter "zu Hause") äußerlich geradezu klassisch für die frühen 70er war, waren es eben Frauen wie meine Mutter und ihre Freundinnen, die sich mit der "Frauenfrage" massiv auseinandersetzten. Die den unideologischen Teil der Kinderladenbewegung prägten. Die ehrenamtlich aktiv wurden. Diese Zwischengeneration. Etwas zu jung für die 68er, vor allem aber da schon mit Verantwortung für Kinder als andere sich radikalisierten und in den Untergrund gingen. Von solchen war nur immer mal die Rede, kennengelernt habe ich keine (mehr).

Vielleicht ist es nicht ganz typisch für Menschen in meinem Alter, vielleicht, weil meine Eltern so jung waren als ich kam. Aber ich habe tatsächlich in der Familie und im Freundinnenkreis und in den Bewegungen, in die meine Eltern uns Kinder immer mitgenommen haben (Bunte Liste, Dritte-Welt-Arbeit, Anti-AKW- und Anti-Gorleben-, später die Friedensbewegung), einen Umgang und eine Sprache kennen gelernt, die anders waren als das, was ich dann erleben musste, als ich erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche verließ. Ende der 90er. Eine Selbstverständlichkeit von - wie es damals hieß - "geschlechtergerechter Sprache" beispielsweise. Es war eine schöne Zeit, in der ich feministische Lebens- und Gesellschaftsentwürfe als den Normalzustand erlebte und kennen lernte. Die normal waren und darum nicht kämpferisch oder aggressiv. In denen ich unter dem Tisch sitzend und spielend schon früh die Diskussionen verfolgte und aufsaugte. Das ist es wohl auch, was mich heute so ungeduldig macht. Und was in den letzten Jahren zu meiner Reradikalisierung führte in diesen Fragen. Dass meine Kindheit so wirkt, als wäre sie aus der Zukunft. Wenn ich mir die jungen Leute anhöre oder die älteren, die offenbar lange unter einem Stein lebten.




Und dann auch das andere Thema. Ich nenne das ja gerne analog zum Fachbegriff, mit dem bezeichnet wird, wie wir unsere Pferde halten, "Robustkinderhaltung". An Wochenenden mit Freundinnen und Freunden und der weiteren Familie waren wir Kinder auf uns gestellt, butscherten rum, machten Feuer, kenterten mit selbstgebauten Flößen auf den Dorfteichen, waren laut, dreckig und sehr oft nackt.

Heute kommt es mir komisch vor, wenn Kinder oder gar Erwachsene nackt oder fast nackt in der Gegend rumrennen. Damals war das normal. Zumindest in unseren Szenen. Die übrigens nicht links-grün waren. Sondern kirchlich. Mit einer Faszination für Befreiungsbewegungen. Und einer Aversion gegen Uniformen. Von den Parkas wurden die Flaggen abgetrennt. Ich bin mir relativ sicher (so sicher, wie ich mir bei etwas aus der Kindheit sein kann), dass in unseren Szenen undenkbar und unakzeptabel war, was als Exzesse und Verbrechen an Kindern in der Debatte über Pädophilie in linken und liberalen Ecken in den 70ern und 80ern zu Tage kommt. Und ich habe auch kein Verständnis dafür. Zugleich ist für jüngere Menschen und ältere, die den Aufbruch in eine andere Freiheit (und das war der Kontext ja tatsächlich, in dem es dann ebenfalls - wie überall - Perverse und Verbrecher gab) nicht mitmachten, wahrscheinlich schwer zu verstehen, dass es eine Zeit gab, in der Körperlichkeit nicht sofort mit Sexualität einherging. Ein lahmer Abklatsch davon ist vielleicht heute noch, dass es in meiner Umgebung durchaus üblich ist, einander in den Arm zu nehmen. Auch Männer andere Männer und Männer Frauen - ohne dass das sexuelle oder erotische Konnotationen hat.

Natürliche Körperlichkeit ohne Pornochick. Schwer vorzustellen aus heutiger Zeit. Aber nichts, wofür sich jemand entschuldigen muss oder was ich im Nachhinein als unangenehm empfände. Für uns war es beispielsweise auch selbstverständlich, mit Mädchen zu spielen. Was für Jungs heute oft undenkbar ist, sobald sie in die Schule kommen.

Es war eine schöne Zeit, voller Freiheit und Dreck und Lärm und Langeweile und langem Aufbleiben und ohne Eltern, die sich dauernd um uns kümmerten. Und es erschreckt mich, dass es auch in dieser von mir als wunderbar erlebten Kindheit zu den gleichen Exzessen und Verbrechen kam wie in den von Repression geprägten Umgebungen. Das ist nicht zu entschuldigen und wirft einen Schatten. Macht aber die Häme und den Hass von so Spinnern Publizisten wie Christian Füller nicht erträglicher. Vielleicht hatten die einfach keine so schöne Zeit?


7.8.13

Merkels Kinder

Obwohl ich von ihm nur auf einer Sommerakademie der Studienstiftung lernen konnte und er für mich ja sozusagen fachfremd ist, gehört Werner Durth zu meinen wichtigsten Lehrerinnen. Vor allem über Kontinuitäten in Lebensläufen und so weiter habe ich viel von ihm gelernt. Andere Geschichte. Und darüber, warum Diktaturen für Architekten großartig sind. Weil sie Spielräume schaffen. Germania planen zu dürfen, war für viele der späteren Stars der 50er sehr aufregend.

"Entwickler lieben Apple", sagte einer neulich zu mir, der sich mit einer kleinen Anwendung rumschlagen musste, die auf iPhone und Android funktionieren sollte. Alles sei klar geregelt und einheitlich. Das, was ich immer "Cuba" nenne: eine Diktatur, in der die Sonne scheint. In der ich mich wohlfühlen kann, wenn ich mich hinreichend anpasse. Apple ist Cuba.

Und die Technokratie Merkel'scher Prägung hat irgendwie auch was von Cuba. Und bringt merkwürdige Kinder hervor, die sich durch einen irritierenden Technik- oder Wissenschaftspositivismus auszeichnen. Was schließlich doch noch die Kurve kriegt zur "Alternative für Deutschland", über die ich eigentlich gar nicht schreiben wollte. An deren verstörenden Plakaten ich aber vorbei laufe jeden Tag.

Was mich rund um diese Hochschulprofessoren, die eine unscharf profilierte Expertenpartei gegründet haben, die gesamte Zeit umtreibt, ist etwas Ähnliches wie bei den Piraten (ja, wilde Umleitung, löst sich gleich auf, versprochen). Als jemand, dem intellektuelle Demut auch selbst sehr fremd ist, kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, wie jemand auf die Idee kommen kann, man müsse nur mal die richtigen, die schlauen Leute ranlassen, so richtige Expertinnen, und dann würde alles flutschen. Geht mir dauernd so.

Aber im Kern ist dies Technokratie oder Expertokratie. Und das Gegenteil von Demokratie. Ja, man kann sehr unglücklich werden angesichts von Demokratie. Ich auch, wenn ich sehe, dass die Massen mehr Angst vor einem Veggie-Day haben als vor der Abschaffung der Demokratie und Freiheit.

Das, was die "Alternative für Deutschland" mit den "Piraten" gemeinsam auszeichnet, ist doch gerade dieser Anspruch der Technokratie. Die Vorstellung, es gebe eine objektive, geradezu "naturgesetzliche" Wahrheit und einen richtigen Weg, der nur umgesetzt werden müsse. Lasst die Techniker oder die Wirtschaftswissenschaftlerinnen ran - und alles flutscht. Eine geradezu katholische Haltung, obwohl die auch schon ein bisschen von ihren naturrechtlichen Ansätzen abgerückt sind, wenn ich das richtig übersehe.

Das Interessante ist aus meiner Sicht, dass beide im Kern unpolitischen Protestparteien dabei gleichzeitig (1) die Sehnsucht vieler Menschen in meiner Umgebung nach mehr Kompetenz bedienen und (2) voll auf der Linie Merkels sind, die nahezu perfekt die Mischung aus asymmetrischer Demobilisierung und technokratisch-wissenschaftlich begründeter scheinbarer Alternativlosigkeit beherrscht.

So betrachtet sind Piraten und AfD beide "Merkels Kinder". Geprägt und politisiert von der Erfahrung unter ihrer Kanzlerinnenschaft, beide weitgehend ohne Gestaltungsanspruch, beide mit der Vorstellung, es gebe einen objektiv richtigen Weg. Also beide genau so, wie Merkel agiert und regiert. Ja, beide in unterschiedlicher Ausprägung, so unterschiedlich sogar, dass es schwer fällt, sie auch nur gemeinsam zu nennen - aber ich finde die Gemeinsamkeiten verblüffend. Zumal sie noch etwas gemeinsam haben: Ich finde es schwer erträglich, wie sie die Technokratie oder Expertokratie der Demokratie vorziehen. Und ich finde sie gleich unwählbar.

Eine Vorliebe für Cuba ist keine Frage des Alters. Und Pubertät auch nicht.

6.8.13

Ein neuer Baum

Nachdem einige von uns so langsam wieder aus der Schockstarre aufwachen und zornig werden, ich selbst ja auch neulich mit der Frage, ob das schon der Anlass zum Widerstand sei, finde ich es an der Zeit, einmal nach vorne zu denken.

Und dabei hilft ein Blick zurück. Ich zumindest kann mich noch an Zeiten liberaler Innenminister erinnern. Gerhard Baum beispielsweise. Mit der geistig-moralischen Wende des Helmut K. hörte das auf. Es kam Zimmermann.

Nun lässt sich nicht sagen, dass Liberale (Grüne und FDP) sich in Fragen der Sicherheitshysterie mit Ruhm bekleckert hätten, lest noch mal Nicos Text dazu. Dennoch möchte ich mir nicht ausmalen müssen, was 2002ff passiert wäre, wenn Schily nicht von den alten Parteifreunden hin und wieder ausgebremst worden wäre. Oder wenn jetzt nicht die Justizministerin wäre.

Wenn der Innenminister ("Verfassungsminister") im Gleichschritt mit dem Chef der Polizeigewerkschaft ein bekennender Verfassungsfeind ("Supergrundrecht Sicherheit") ist, nutzt es auch nichts, dass der breiten Mehrheit in diesem Land das Thema Freiheitsrechte am Allerwertesten vorbei geht. Allerdings finde ich es dabei eher niedlich, wenn auf Gestapo und Stasi verwiesen wird, um anzumerken, dass wir doch besonders sensibel sein müssten. Mein Verdacht ist ja eher, dass Gestapo und Stasi aus exakt dem Grund so gut funktionierten, aus dem sich auch jetzt das Desinteresse am Aushöhlen unserer Demokratie speist. Aber das ist vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Die die Frage der Legitimität von Widerstand aufwirft, die ich aber nicht stellen will und werde, weil sich alles in mir dagegen sträubt.

Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Und Parteien, denen die Verfassung wichtig ist, werden jeweils unter 15% bleiben. Aber: es sieht alles danach aus, als ob auch die nächste Regierung von einer dieser Parteien mitgetragen werden wird. Und hier sehe ich eine Chance. Ich wünsche mir, dass sowohl die FDP als auch die Grünen für eine Koalition darauf bestehen, die nächste Innenministerin zu stellen. Dass diese Ministerin wieder vor allem für den Rechtsstaat und die Verfassung zuständig ist und nicht nur für die Polizei. So von der Haltung her.

Wäre das nicht ein Deal? Vielleicht wäre es sogar ein Rettungsprogramm für die FDP (oh Gott und das von mir) - dass sie sich festlegt auf das Innenministerium, ohne das sie in keine Koalition geht. Und bei den Grünen werde ich auch für diese Idee werben.

Was denkt ihr?

15.3.13

Überschätzte Millennials

Eigentlich ist es verrückt. Denn ich bin nur rund 15 Jahre älter als sie. Das ist gerade mal die Zeit, die Secundus auf der Welt ist. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass Welten zwischen uns liegen. Den in Medien und Literatur so genannten Generationen X und Y.

Schaut euch nur mal den Zeit-Artikel aus der letzten Woche an, der sicher nicht nur in meiner Branche (Beratungsdings) viel ventiliert wurde. Von vielen Millennials las ich Dinge wie: "Guckt mal, so sind wird" oder "Liebe Unternehmen, wenn ihr was über uns wissen wollt". Alles gut. Und ja, ich habe auch sehr darüber geschmunzelt, diese Generation die "Generation Pippi Langstrumpf" zu nennen (was leicht unfair ist, denn die war auch eine Heldin aus unserer Kindheit).

Vielleicht passt es auch sogar besser als beabsichtigt. Denn Pippi macht sich die Welt nicht nur, wie sie ihr gefällt (was im Übrigen nur der Titelsong der Fernsehfilme ist und so inhaltlich in den Büchern gar nicht vorkommt - ich lese die seit über zehn Jahren dauerhaft meinen vielen Kindern nacheinander vor). Sondern verachtet auch Plutimikation. Denn warum sollte sie eine Frage beantworten, die das Frollein ja auch sich selbst beantworten kann. Erinnert ihr euch, oder?

***

Bis heute ist mir eine Schlüsselgeschichte ins Gedächtnis eingebrannt. Vor mehreren Jahren. Wir trafen uns. Eine Branchenkollegin, große, renommierte Agentur, die dafür zuständig war, mehrere Juniorinnenstellen zu besetzen. Sie ließ sich auf den Sessel plumpsen und war endgenervt: "Wo sind denn bitte die gut ausgebildeten, neugierigen Akademiker mit halbwegs akzeptablen Manieren, die uns alle versprochen haben?" Nach fünfzehn Gesprächen, zu denen die eingeladen worden waren, die die am wenigsten schlechten Bewerbungen schickten. Nicht eine Kandidatin dabei, die in Frage kam.

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Beinahe ebenso endgenervt schrieb ich selbst eine andere Schlüsselgeschichte schon vor rund zwei Jahren in dieses Blog rein. Über Menschen, die besoffen sind ob ihrer eigenen gefühlten Relevanz. Deren Selbstwahrnehmung ("Ich, Pippi, mache mir die Welt wie sie mir gefällt") und Fremdwahrnehmung ("Du, Pippi, vielleicht solltest du doch mal Plutimikation lernen") auf eine Art und Weise auseinander fällt, die mich immer noch ratlos macht.

***

Vielleicht ist es so und die Demografie spielt den Pippis in die Hände. Und vielleicht ruhen sich einige auch auf solchen feiernden Artikeln wie in der "Zeit" aus. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht arbeiten wir  X-erinnen einfach weiter, bis wir achtzig sind, bevor wir uns damit abärgern, Leuten Plutimikation beizubringen (oder auch nur zu erklären, warum es hin und wieder gut sein könnte, zu wissen, was das ist), die glauben, schon alles zu wissen. Vielleicht ist es auch so, dass die Millennials, wie viele in der Babyboomer-Generation, zwischen zwei leistungsbereiten Generationen zerrieben werden. Glücklich, ja. Aber verloren.

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Schon vor über zehn Jahren hatte ich einen Kollegen, der seine Stunden reduzierte. Er hatte es durchgerechnet. 20% weniger Gehalt (brutto) war ihm der eine freie Tag in der Woche wert. Und dann lernte er in der Zeit Segelfliegen. Der war ein Guter. Und ist es bis heute.

***

Es muss sich etwas ändern in der Organisation von Arbeit. Und das tut es auch. Das treiben aber gar nicht diese Millennials, die sich gerade für Trendsetter halten - sondern die Menschen, die Kinder bekommen und trotzdem weiter arbeiten (wollen und werden). Die leistungsbereit und leistungsfähig sind und organisiert und erwachsen. Die wissen, was sie können - und einen ungefähre Vorstellung haben von dem, was sie nicht können. Und davon, wie andere einschätzen, was sie können. All das gibt es auch unter Millennials. Ich kenne da auch viele, habe solche auch schon eingestellt. Und vielleicht ist es unfair, diesen Punkt so stark zu betonen. Aber mich stört es massivst, wenn in der Diskussion um die Generation Y, die Pippis, die Millennials immer so getan wird, als wären die (alle) gut ausgebildet oder gar gebildet (im Herzen und im Hirn) - und nur die böse Arbeit mache sie kaputt.

Im Gegenteil: Arbeiten ist gesund. Ich kenne niemanden, die Stress mit der Menge von Arbeit engführen würde. Wenn junge Leute, wie im Zeit-Artikel beschrieben und wie ich es teilweise auch beobachte, häufiger den Job wechseln als andere - dann kann das daran liegen, dass die Firma doof ist. Dann kann das aber auch daran liegen, dass sie selbst doof sind (oder überfordert oder sich für weiter hielten, als sie sind, etc). Das werfe ich ihnen nicht mal vor - denn ihre Ausbildung ist einfach oft ein Witz, wie sollen sie damit etwas können. Vor allem, wenn sie von der Hochschule kommen. Da können sie auch nichts für, denn die Hochschulen haben andere für sie zerstört.

***

Als älterer Mensch lerne ich viel von jungen Leuten. Von ihrem Blick auf die Welt, von ihrem Selbstbewusstsein, von dem, was sie sich erträumen. Darum frage ich sie, was sie wollen, wo sie hinwollen. Und ich bilde mir ein, dass - zumindest im beruflichen Kontext - einige junge Leute auch von mir lernen können. Das biete ich ihnen an.

Führung ist vielleicht komplizierter geworden, weil die alten Anreizsysteme out sind und teilweise ja auch wirklich nicht mehr funktionieren. Auch bei mir nicht. Und arbeiten ist an einer Stelle anstrengender geworden - weil es ein hohes Maß an intrinsischer Motivation erfordert. Das war immer schon so, wenn ich glücklich werden wollte bei der Arbeit. Aber heute ist es in den Fokus gerückt.

Darum stelle ich die überschätzten Millennials (und vor allem die, die sich selbst überschätzen) in der Regel vor eine ganz einfache Auswahl: Entweder ihr haltet euch für fertig. Dann seid ihr da angekommen, wo ihr beruflich im Leben ankommen könnt. Wer will schon Karriere, wenn es bequem und gemütlich ist. Oder ihr wollt lernen. Dann freue ich mich, euch als ein Coach dabei zu begleiten.

So oder so:
Hört auf, zu jammern.
Und lebt.
Oder tut was.

Dass ich ganz viele Millennials kenne, die das tun, freut mich sehr.

tl;dr
Ich bin ein alter Sack und finde, die Millennials werden maßlos überschätzt. Vor allem aber überschätzen viele von ihnen sich auf fast groteske Weise.

tl;tl;dr
Ich bin alt und ihr seid doof.

17.4.12

Warum Kristina Schröder gefährlich ist

Dass Kristina Schröder reaktionär sei, ist nicht nur so dahin gesagt. Gestern hat mich ihr Büroleiter Jürgen Müller auf Twitter dazu in ein spannendes Gespräch verwickelt. Am Ende sind 140 Zeichen aber zu kurz, um halbwegs zu begründen, wieso ich meine Meinung zu Frau Schröder in den letzten eineinhalb Jahren sehr ändern musste.

Die Gefährlichkeit von Ministerin Schröder kommt meines Erachtens aus eben ihrer reaktionären Haltung, die, wie es in den letzten Jahren in diesem Land üblich ist, in einer sanften Form des Populismus daher kommt. Ich halte sie übrigens für gefährlicher als den reaktionären Politirren Sarrazin, vor allem, weil sie fest verwurzelt in der Mitte ihrer Partei ist und nicht auf dem Altenteil.

Um das vorweg klar zu sagen: Gegen Konservative habe ich nichts. In vielen Dingen, vor allem religiös, bin ich auch konservativ. Ebenso sind es mein Familienbild und viele meiner moralischen Vorstellungen. Konservativ heißt, Dinge bewahren zu wollen und Veränderungen behutsam anzugehen. Das ist nicht ehrenrührig. Um es in Schröders politischem Feld zu benennen: Ursula von der Leyen ist eine Konservative. Reaktionär aber ist etwas anderes. Und das, wie Schröder über von der Leyen hinaus geht, ist aus meiner Sicht genau der Schritt von konservativ zu reaktionär.

Zwei typische Kennzeichen sind ein Hinweis auf reaktionäre Politik:
  1. In einer Konfrontation werden (bewusst oder aus Unkenntnis) Konfliktlinien aus der Vergangenheit genommen und dagegen protestiert - mit der Folge, in einen Zustand vor diesem Konflikt zurück zu wollen, also nicht nur bewahren sondern eben tatsächlich das Rad zurück drehen zu wollen.
  2. Die Protagonistinnen gerieren sich als unangepasste, dem Mainstream widerstehende Kämpferinnen mit einer "das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen"-Attitüde - die sich auf einen imaginären Feind bezieht, weil sie von Privilegierten der aktuellen Situation vorgebracht wird.
Beide Verhaltensweisen erleben wir bei Sarrazin, bei den radikalen Christinnen, die Eva Hermann unterstützen, bei der Tea Party in den USA - und eben bei Kristina Schröder. Alle diese Gruppen und Personen posieren in einer Volkstribunin-Haltung, wissen in Teilen die "schweigende Mehrheit" hinter sich, formulieren Gegnerinnen, die es nicht gibt.

Denn niemand verhindert, dass irgendwas gesagt werden darf (Sarrazin), niemand verfolgt in diesem Land Menschen, die ein christliches Familienbild vertreten (Hermann), niemand zwingt die Menschen in eine schwule Kultur (Tea Party) - und niemand verhindert in diesem Land, dass Frauen sich für Familienarbeit und gegen eine betriebliche Karriere entscheiden (Schröder).

Kristina Schröder scheint seit ihrem Abitur nicht mehr mit Feministinnen zu tun gehabt zu haben (siehe ihr berühmtes Abizeitungszitat). Denn sie blendet jede Form der feministischen und der Genderdiskussion der letzten 15 Jahre aus - und positioniert sich, Zeichen einer reaktionären Politikmethode und -agenda, entlang längst überholter und nicht mehr existenter Konflikte. Das muss sie auch, damit sie ihre Rebellinnen-Attitüde anlegen kann - denn sonst wäre die noch lächerlicher.

Was Schröder mit den (weiblichen) Ikonen der Tea Party gemeinsam hat, ist die tatsächlich ja schwer zu fassende Gleichzeitigkeit von klassischer Karriere (Michele Bachmann, Sarah Palin, Kristina Schröder) und dem Postulat, dass das sowohl jede Frau schaffen könne als auch nicht ihre Aufgabe sei. Sowohl habituell und kulturell als auch in ihren Privilegien gleichen sich diese drei Frauen. Und ebenso in ihrer Forderung, die Politik und der Staat möge sich aus allem raushalten. Denn wenn alles gut ist, wie es ist - wie es Schröder in der Genderfrage behauptet -, gibt es keinen Regelungsbedarf. In der Abschaffung der Politik gehen Reaktionärinnen schon immer über Konservative hinaus. Schröder sogar so weit, dass sie gegebenenfalls lieber zurück treten als politisch gestalten will (siehe die Quotenfrage).

Was Schröder wie ihre Schwestern im Geiste in den USA übersehen: Ja, sie sprechen viele, viele Menschen mit ihrer Art und ihren einfachen Lösungen für komplexe Wirklichkeiten an. Aber sie sind - vielleicht einfach der Preis der politischen Reaktion, sozusagen ihr Kollateralschaden - eben auch aus der Zeit gefallen und merken damit nicht, wie die nächste Generation (bei Palin und Bachmann) bzw ein großer Teil ihrer Generation (bei Schröder) längst andere Fragen diskutiert. Der Fehler, den wir dabei gemacht haben, ist, sie nicht ernst zu nehmen, weil ihre Themen so gestrig und so lächerlich auf uns wirken. Das rächt sich jetzt.

Aber wenn ich - ich arbeite ja in einem "Frauenberuf" - überall bei jüngeren Frauen eine Re-Radikalisierung (oder erstmalige Radikalisierung) in der Frauenfrage erlebe, dann scheine ich in einer anderen Welt zu leben als Frau Schröder und ihr Büroleiter. Eine große Zahl jüngerer Frauen in meiner Umgebung, die aus Agenturen in Unternehmen gewechselt sind beispielsweise, sind dort erstmals auf jene berühmte gläserne Decke gestoßen, die Schröder bestreitet. Davon waren sie überrascht. Und haben sofort gehandelt - und sich informell zusammen geschlossen. Über Unternehmensgrenzen hinweg. Online in geheimen Netzwerken. Und lesen im Untergrund auf einmal wieder neue feministische Literatur wie Laurie Penny und andere.

Frau Schröder ist gefährlich, denke ich. Aber die Reaktion hat bisher historisch nur sehr, sehr selten gewonnen. Nicht mal in Deutschland. Und schon gar nicht auf lange Sicht. Um die Zukunft meiner Tochter (und auch, ja, meiner Söhne) ist mir darum trotzdem nicht bange.

Und sehr gerne, Herr Müller, diskutiere ich das hier und offline und wo immer Sie wollen.

18.1.12

Rettet das Web, bevor Apps es töten

Passend zum #SOPA-Aktionstag und zum gerade heute aktuellen Thema Freiheit hier die letzte Folge der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Es ist vielleicht die politischste, "ideologischste" These dieses Jahr. Aber eine, an der sich die Haltung zum Web entscheidet und in der es mehr als in allen anderen um die Zukunft geht. Alle sechs Teile und die Thesen selbst habe ich mit dem gleichen Stichwort versehen, so dass ihr sie hier zusammengefasst findet.
Das Web ist tot? Apps sind die Zukunft? Das will ich doch nicht hoffen. Es wäre eine schreckliche Zukunft, in der ich nicht leben, lesen, reden und arbeiten wollte. Apps (ob auf dem iPhone, anderen Smartphones oder auf Facebook) sind praktisch. Wenn ich eine klar umrissene Aufgabe für sie habe. Fahrpläne. Das Ausleihen eines Fahrrades. Die Uhrzeit in Tokio. Ein Einkauf in meinem Stammladen. Aber Apps haben nichts zu tun mit dem Internet. Weder mit dem Inter noch mit dem Net im Internet.



AOL (die Älteren werden sich vielleicht noch an den Namen erinnern) starb irgendwann unter anderem daran, dass es ein Silo war, das seine Nutzer einsperrte. Super praktisch, denn ich konnte alles machen, was AOL dachte, dass ich es will: Shoppen, Mailen, Chatten, Bankgeschäfte, Nachrichten lesen und so weiter. Nur rauslinken konnte ich nicht.

Das Internet lebt von Hyperlinks. Davon, dass hinter jedem Satz, jedem Stichwort, jedem Zitat potenziell eine ganze weitere Geschichte liegt. Nicht umsonst fahren die Onlinemedien am besten, auch wirtschaftlich, die das begriffen haben. Die auch auf Seiten verlinken, die nicht auf ihrem eigenen Server liegen. Die kein Silo mehr sind, sondern verstehen, dass jede, die ich wegschicke, umso lieber wieder zu mir zurück kommt. So wie ich lieber auf eine Party im Café gehe als auf einem Boot. Ich muss die Gastgeberinnen schon sehr gut kennen, um mich auf einem Boot einsperren zu lassen, so dass ich die Party nur dann verlassen kann, wenn sie entscheiden, mal anzulegen.

Um Nachrichten zu lesen oder Websites aufzurufen, brauchen wir keine App. Das geht genauso gut über eine gute Website, über eine, die auch auf dem kleinen Display meines mobilen Internetzugangsgerätes gut aussieht. Klar, wenn ich eine Website betreibe, die dem Anachronismus huldigt, auf 1024 Pixel Breite fest eingestellt zu sein, habe ich ein Problem, dann denke ich vielleicht über eine App nach, für Facebook oder für das iPhone. Aber wir reden hier ja über die Zukunft. Und nicht über das Jahr 2002.

Einer der großen alten Denker rund um das Web und Erfinder so kluger Dinge wie RSS (remember, those where the days) Dave Winer hat im Dezember sehr gut und schlank zusammen gefasst, warum Apps nicht die Zukunft sein können, egal, was die so genannten Technologie-Leitmedien schreiben:
The great thing about the web is linking. I don't care how ugly it looks and how pretty your app is, if I can't link in and out of your world, it's not even close to a replacement for the web. It would be as silly as saying that you don't need oceans because you have a bathtub. How nice your bathtub is. Try building a continent around it if you want to get my point.
Modernes Webdesign und moderne Technik hinter Websites ermöglichen uns, wunderbare Dinge zu bauen, die toll im Browser aussehen, ganz anders und trotzdem sehr gut auf dem kleinen Touchscreen in meiner Hand, und die großartig als Tab unserer Facebook-Seite funktionieren, wenn wir sie als iframe einbauen.

Im Grunde ist der App-Boom ja ohnehin absurd. Erst sagen sie, das Web werde omnipräsent und mobil und sozusagen das immer verfügbare Nebenbeimedium. Und dann schaffen sie das Netz und die Vernetzung ab und reduzieren das Thema auf Datenübertragung und Interaktion auf Displays?

Das Besondere am Internet ist sein eingebauter Hang zur Gleichheit aller Inhalte. Aus denen sich dann - nicht als Demokratie, aber im Kern schon als Meritokratie - die relevanten und besseren Inhalte herausschälen können. Hyperlinks untergraben die Autorität. Auch die von Apple. Oder des Spiegel. Oder der Marken. Apps dagegen sind autoritär. Denn sie entscheiden für ihre Nutzerinnen, was diese sehen, machen, erleben dürfen.

Kurzfristig mag es verlockend sein, als Unternehmen, als Marke, als Service auf dieses autoritäre Modell zu setzen, selbst wenn ich es nur als von Apple oder Facebook geliehene Autorität umsetzen kann. Aber schon 2012 wird der Gegentrend einsetzen und werden die Nachteile überwiegen. Denn hinter das verlinkte und verlinkende Internet kommen wir nicht mehr zurück. Und das ist auch gut so.

15.11.11

Das vorletzte Signal

Die guten meiner Kindheit und Jugend gehen alle. So ist das, wenn man selbst auch älter wird. Jetzt also der Degenhardt. War das eine Eilmeldung der Tagesschau wert? Ja, das war es. Ist es traurig? Weiß nicht, denn erstmal bin ich dankbar, dass es ihn gab.

Ich kannte ihn nicht persönlich, er war auch nicht einer von denen, die ich regelmäßig hörte. Aber er gehörte dazu. Für mich wie Erich Fried, wie Dorothee Sölle, wie Alfred Schulz. Die ich alle gut kannte und die auch alle tot sind. Irgendwie gehörte er in diese Reihe. Wahrscheinlich bin ich einer der Jüngsten, die noch wissen, wer er war und was er war und warum er für uns wichtig war. Der Zornige, Wilde, Einfache unter den Mutmachern.



Und Dem Scholz bin ich dankbar für dieses Lied und dieses Video. Nach so etwas habe ich den ganzen Tag unbewusst und im Hinterkopf gesucht. Denn ich wollte nicht den Gassenhauer bringen.

5.9.11

Rücksicht, Vorsicht oder Rückgrat?

Es ist schon etwas her, aber es macht mich immer noch ratlos. Also schreibe ich es - ohne eine Antwort zu haben, was ja bei mir eher ungewöhnlich ist - einmal hier rein. Denn ein Erlebnis eines meiner Söhne vor einigen Wochenenden lässt mich nicht los. Sein Freund und er wurden nur durch das beherzte Eingreifen einer Lehrerin mit viel Erfahrung mit Untersch Jugendlichen mit anstrengendem Sozialverhalten davor bewahrt, von mehreren Jungs in ähnlichem Alter im Freibad verprügelt zu werden.

Sie machten, was Jungs so machen im Freibad. Rumhängen, hin und wieder ins Wasser springen - und Mädchen hinterher gucken. Kann man doof finden, ist aber so. Nur dass dann einige andere Jungs sich ihnen in den Weg stellten, als sie da entlang schlenderten. Denn die meinten, mein Sohn und sein Freund hätten die Schwester des einen dieser Kerle angeguckt. Was wahrscheinlich wahr ist. Denn die schien ganz ansehnlich zu sein.

Dass eine Frau, auch mit Erfahrung im Umgang mit solchen Jugendlichen, dazwischen ging, war ein Glück und nicht selbstverständlich. Dass sie dann einige Zeit später verhindert hat, dass die Jungs einen von ihnen auf der Toilette verprügelten, noch weniger.

Meine erste Reaktion war: Ist ja auch schön blöd, einer Türkin hinterher zu gucken. Weißt doch, was da passiert. Und meine zweite Reaktion war: Das stimmt vielleicht aus Gründen der Vorsicht, aber irgendwie kann das nicht richtig sein.

Es gehört zur Sozialisierung von Mädchen dazu, dass sie lernen, sich gegen dumme Sprüche und Blicke zu wehren. Und egal welche Haarfarbe: Mir scheint, dass das den meisten, die das wollen, auch gut gelingt. Darauf können sich meine Jungs verlassen. Und sonst bekommen sie von denen eins auf die Nase, was ich ok finde (im weitesten Sinne).

Müssen sie Rücksicht auf die Wünsche der Brüder dieser Mädchen nehmen? Oder aus Gründen der Vorsicht darauf verzichten, sie anzugucken? Oder doch das Rückgrat haben, es zu tun, auch wenn sie vielleicht verprügelt werden, falls sie nicht schnell genug laufen können? Oder Freibäder meiden, weil da - wie es ein Freund von mir neulich formulierte - "eh nur Gesocks rumläuft"?

Würde der Bademeister ihnen helfen oder darauf hinweisen, dass sie ja nun wissen könnten, dass die Jungs da etwas empfindlich sind? Wieso habe ich genau das eigentlich zuerst gedacht, als ich von dem Vorfall hörte?

1.2.11

Zwei kurze Anmerkungen zu #jan25

I. Profilneurotiker unter sich

Ich war mir nicht sicher, wie ich die Idee von Richard Gutjahr finde, nach Kairo zu reisen, als ich darüber erstmals las. Aber je länger er da ist und es in seinem Blog dokumentiert, desto mehr sehe ich, warum er es getan hat. Thomas Knüwer hat dazu das Nötige gesagt.

Was aber gar nicht geht, sind die Profilneurotiker, die die Frage diskutieren, ob er ein "richtiger" Journalist sei. Hallo? Das sind die gleichen, die sonst immer sagen, wie toll Blogs und Blogger sind und wie wichtig und wie sehr Journalisten und klassische Medien versagen. Wisst ihr, wie egal mir ist, ob er "richtiger" (was immer das sein mag und wer immer das entscheiden können dürfen soll) Journalist ist oder nicht? Er schreibt eine Livereportage. Und zwar, bisher, eine gute. Besser als das meiste, was ich neben groben Überblicken bisher gelesen habe.

Mein erster Weg, als es in Tunesien losging, war zu meinem tunesichen Reittrainer. Mein erster Blick, wenn mich Israel aktuell interessiert, ist Lilas Blog. Und mein Augenmerk gilt jetzt dieser Livereportage. Neben den dürren Überblicken, ich bin ja nicht doof.

Legt euch mal wieder hin, ihr Bedeutungsdeuter. Pah.

***

II. Es macht mir auch Angst

Ich bin froh, dass Menschen ihr Leben in die Hand nehmen und für Demokratie, Freiheit und eine Reformation (wenn das denn so ist) streiten. Ich bin froh über jeden Despoten, der abtreten muss. Ich denke, dass hier das nordafrikanische 1989 passiert, dazu später bestimmt mal mehr.

Aber so, wie 1989 in Europa zu tollen Dingen führte und zu schrecklichen, so wird es auch "dort" sein. Ich habe Angst vor dem, was da passiert. Nicht zu viel, aber doch auch Angst. Weil die Festung Europa und die Szenarien, über die wir schon in den frühen 80ern, als die Mauern am Mittelmeer errichtet wurden, geredet haben, auf einmal da sind. Weil ich nicht weiß, was das für Israel bedeutet, was da passiert. Weil sich in die Freude die Sorge mischt.

Noch ist es diffus. Darum nur kurz notiert.

Update 3.2., 10:30 Uhr
Noch zwei Bemerkungen nachgeschoben. Zum einen bin ich froh, dass Richard Gutjahr rechtzeitig wieder ausgereist ist aus Kairo und nicht den Helden spielt - und damit all denen, die ihm genau das unterstellten und darauf hinwiesen, dass das der Unterschied zu "klassischen" Journalisten sei, Lügen straft. Darum auch hier seine Bilder vom Mobilgerät der letzten drei Tage:



Und zum anderen bin ich traurig, dass meine Angst begründet war. Das auch noch kurz erläutert: Ich meine nicht nur die Sorge, ob die Machthaber den europäischen oder den chinesischen 1989er Weg gehen, das ist in vielen Ländern noch völlig unklar. Sondern auch die Sorge, dass auch in Europa 1989 ja nicht alles superfriedlich und in die Demokratie führte. Rumänien, Jugoslawien, Belorus, Ungarn, Polen, Tschechien - die Wege waren sehr, sehr unterschiedlich und nicht überall so, wie man sich das in einer idealen Welt vorgestellt hätte. So wird es auch in Nordafrika und im vorderen Orient sein (und das hat nichts mit dem Raunen zu tun, das die öffentlich-rechtlichen TV-Sender so oberpeinlich den ein oder anderen bekannten Spinner gerade verbreiten lassen. Darum hier noch mal der Appell: Stoppt Peter Scholl-Latour und gönnt ihm seinen Ruhestand.)

6.12.10

Zu WikiLeaks: Freiheit? Terror? Oder Transparenz?

Ich habe mir zu vielen Aspekten noch keine abschließende Meinung gebildet. Ich bin mir sogar sicher, dass sich meine Meinung oder Haltung zu diesem Thema weiter verändern wird. Das hier sind dann eher die ersten Pflöcke, an denen ich die Schnüre aufziehen will, die die Leitplanken bilden könnten, an denen ich das Thema weiter erkunden will. Klingt sperrig? Ja, ist es auch. Denn weder will ich Verschwörungen wittern, wo die Wirklichkeit brutal genug ist, noch liebe ich Aktionismus, der nicht auf Fakten beruht. Nun denn...
Update 7.12., 9:30 Uhr
Mit leicht anderem Fokus aber ziemlich genau den gleichen Fragen und sogar ersten Antworten hat Clay Shirky, den ich für sein klares Denken ohnehin sehr schätze, vor ein paar Stunden über Wikileaks geschrieben. Lest das!

Update 8.12., 13:00 Uhr
Sehr itneressant auch diese Analyse in der Süddeutschen, warum das, was da rund um WikiLeaks passiert mindestens naiv-romantisch, ich würde sogar sagen: reaktionär ist.
WikiLeaks ist eine gute Idee. Einen Ort zu haben (auch wenn er kein Ort ist, was übrigens Amazon doppelt merkwürdig dastehen lässt), an dem Menschen geheime Dokumente recht gefahrlos (also zumindest recht gefahrlos für sich selbst) veröffentlichen können, ist gut. Im US-Kontext gibt es die Tradition des whistleblowing, die Leute, die das machen, wenn es drauf ankommt, sind Helden - anders als hier bei uns, wo sich beispielsweise Arbeitnehmer immer noch ernsthaft strafbar machen, wenn sie das tun. Die Enron-Aufdeckung wäre hier nicht möglich gewesen, aber das nur mal am Rande.

Einerseits.

Andererseits lebt Kommunikation auch davon, dass es die Unterscheidung von öffentlich und privat gibt. Und dass nicht jemand anders entscheidet, dass eine Kommunikation, die ich leiste, öffentlich ist.

Gerade wenn Skandale weiterhin aufgedeckt werden sollen, wenn Wikileaks eine wichtige und Transparenz fördernde Einrichtung sein oder bleiben soll, darf, denke ich, die Grenze dessen, das jemand aus der privaten Kommunikation in die öffentliche bringt, nicht so überdehnt werden, wie es jetzt, so habe ich den Eindruck, geschieht.

"Transparenz" oder "Freiheit" ohne Rücksicht auf Verluste - das wäre in der Tat Terror. So wie die Inquisition und die stalinistischen Schauprozesse Terror waren. Und bevor jemand über diesen Vergleich aufheult: Die Inquisition wurde gestartet, um Seelen zu retten, also recht eigentlich aus Menschenfreundlichkeit (auch wenn das quasi sofort pervertiert wurde). Die Schauprozesse wurden gestartet, um der Wahrheit Wege zu bahnen, um ein Gegenmodell der instransparenten Geheim"justiz" zu haben (auch wenn die unmittelbar in echten Terror mündeten).

Ich habe irgendwo gelesen, dass in den Cables, um die es aktuell geht, Namen von Menschenrechtsaktivisten in Terrorländern stünden. Wenn das so ist, dann wäre es fahrlässig und nach meiner Auffassung Terror, was da passiert ist. Denn Freiheit wird immer durch die Freiheit der anderen begrenzt. Freiheit, die sich nicht um die anderen schert, ist Terror. (Und ich benutze dieses Wort, obwohl es in grotesker Weise von Regierungen genutzt wird.)

Dennoch wird gerade aus einer Mücke ein Elefant gemacht. Interessant ist doch, wer bisher "zu Schaden" gekommen ist durch die Cables. Allein mit dem deutschen Beispiel wird ja doch deutlich, wie lächerlich die Kritik ist und wie sehr es die richtigen trifft.

"Wikileaks is like Pirate Bay; something that I don't like but have to defend because of the collateral damage caused by attacking it." (Simon Phipps auf Twitter)

Das trifft es recht gut. Das Argument von Amazon ist lächerlich, siehe den Link oben zu Dave Winer, wenn sie das meinen, was sie als Pressestatement sagen. Zugleich und jenseits aller Aufgeregtheit zeigt das, was gerade mit Wikileaks passiert aber auch, wie wenig die alten monolithischen Strukturen "das Web" aufhalten können.

Insofern ist alles das, was ich gerade beobachte, ermutigend. Sowohl dass die Frage diskutiert wird (und jenseits des Boulevards, ob nun der Regierungen, der Massenmedien oder der Netzaktivisten), wo die Balance zwischen verantwortlicher Freiheit und freiheitlichem Terror zu finden ist, als auch die langsam sich setzende Erkenntnis, dass "das Web" nicht einzufangen ist, machen mich froh.

Es geht nicht um die "Freiheit des Netzes", wie es manche jetzt hochstilisieren. Die Schlacht ist - zumindest für die digitale Elite, die allein sich für diese Frage interessiert - entschieden. Es geht darum, ob die Freiheit zu Demokratie oder zu Terror führt (und WikiLeaks kann zu beidem beitragen).

Wer WikiLeaks als Plattform kritisiert, hat imho gar nichts, aber wirklich gar nichts begriffen. Wer es als Instrument der Demokratie bejubelt, hat ebenso wenig begriffen. WikiLeaks ist eine geniale Idee und ein gut funktionierendes System, das in Zeiten, in denen (nicht nur in den USA) die recherchierende und freie Presse in der Krise ist und nicht mehr so funktioniert, wie sie sollte, einen anderen Ort schafft, an den sich Informanten wenden können. Der nicht zensierbar ist, der nicht abgeschaltet werden kann (weil er auf verteilten Servern, Torrents, beruht, den niemand völlig kontrollieren kann). Was sich mit diesen Informationen (und mehr ist es zunächst nicht) machen lässt, werden wir sehen. Transparenz, daran sei noch einmal erinnert, ist auch kein Wert an sich. Beispielsweise kann viel Transparenz zu einer so hohen Komplexität führen, dass sie faktisch zu einem Herrschaftsinstrument wird - weil die Beherrschten den Eindruck gewinnen, der Komplexität nicht gewachsen zu sein (übrigens eine Situation, in der wir uns imho in vielen Bereichen zurzeit befinden, und die ich als totalitär bezeichne).

Meine These (noch einmal) ist: WikiLeaks und die Informationen da sind weder gut noch böse, weder ein Instrument der Freiheit noch des Terrors. Können aber, ebenso wie Transparenz, alles dieses werden, je nachdem was jemand damit macht.

10.11.10

Und das mir. Zur Verteidigung von Frau Schröder (@kristinakoehler)

Erst gebe ich zu, dass ich Schäuble für vieles mochte (außer für seine Politik), dann will ich - mit Sicherheit gegen den aufgeregten Mainstream meiner Partei - auch noch die Schröder verteidigen. Was ist nur mit mir los? Aber nachdem ich das Interview der Ministerin mit dem Spiegel gelesen habe, kann ich zwar über manche boulevardeske Verkürzung den Kopf schütteln, aber nicht halb so sehr wie über die grotesken Vorwürfe, die dazu auch noch nahezu spitzfindig substanzlos sind. Eine gute Zusammenstellung dieser flachen Repliken beim Genderblog übrigens, danke Till für den Hinweis.

Ja, ich habe auch über die Diktat-Kiste den Kopf geschüttelt, wo jeder weiß, dass heute gar keine Diktate mehr geschrieben werden, wenn die Lehrerin auch nur ein winziges bisschen Ahnung von zeitgemäßer Didaktik und Pädagogik hat. Ja, ich habe auch herzlich gelacht über eine Formulierung wie "die Frauenbewegung", aber ich habe lange genug auf dem Boulevard gearbeitet, um zu wissen, wie dessen Mechanismen sind (und dass ein Ministerininterview nicht den gleichen Ansprüchen genügen muss wie eine akademische Genderforschung).

Aber: Zum einen sagt die Schröder explizit, dass sie "dem Feminismus" faktisch ihren Job verdankt (letzter Satz des Interviews), das heißt, dass all die Dolchstoß-Rhetorik ihrer Kritikerinnen wohl ein Zeichen ist, dass diese das Interview gar nicht gelesen haben. Und zum anderen hat Schröder einfach Recht in ihrer (ja, verkürzenden) Darstellung der praktischen Folgen der zweiten Feminismus-Welle.

Und die kruden Sex-Passagen? Leute, lest mal einige der radikalen US-Feministinnen der 70er und 80er Jahre, bei denen männliche Homosexualität als die Krone des Patriarchats bezeichnet wird (weil die Männer die besten Männer für sich selbst reklamieren), in denen homosexuelle Frauen, die patriarchal geprägte Rollenmuster in ihre Beziehungen übernehmen, als schwul benannt werden etc. Sicher ist es blauäugig, diese Strömung überzubewerten, aber es ist genauso absurd, sie zu leugnen. Und mehr als "Es gab in der Tat eine radikale Strömung" sagt die Schröder ja auch nicht. In den Passagen über Alice Schwarzer beispielsweise sagt sie nichts von dem, was ihr von den Kritikerinnen unterstellt wird. Ich habe es wirklich gesucht, aber nichts. Komisch.

Ich selbst habe diese radikale feministische Strömung vor allem in der theologischen Prägung studiert und erlebt, beispielsweise Mary Daly und ihr in meiner Generation immer noch extrem wirkmächtiges Standardwerk "Gyn/ecology". Was mich eher wundert, ist, dass eine so viel jüngere Frau immer noch von dieser Richtung weiß und von ihrem Einfluss. Naja. Wenn ich die Kritik an Schröder lese, frage ich mich, ob von den Kritikerinnen noch jemand diese Autorinnen kennt (und - und zwar ernsthaft, wirkliches Interesse - ob Daly & Co heute noch rezipiert werden und immer noch einen so großen Einfluss haben).

Mal mit einer Analogie versucht:
Mir kommt die Schröder so vor wie die schicke Obere-Mittelschicht-Mutter, die sich eine Gemüsekiste liefern lässt, nur Fleisch vom Demeterhof kauft, mit dem Fahrrad zum Kinderturnen fährt, drei Mal im Jahr zu McDonald's geht und auf die "Öken" schimpft - obwohl die Durschnittsdeutsche sie als reiche Ökotussi bezeichnen würde. Also so, wie nahezu jede Frau in meinem privaten Umfeld. Nahezu jede (auch linke und grüne) Frau in eben diesem meinem Umfeld hat auch ähnliche Haltungen "zur Frauenbewegung" und zu dem, was ich hin und wieder den "sozialdemokratischen Emanzipationsterror" genannt habe.

Schröder kommt zu einer anderen (politischen) Schlussfolgerung als ich in Fragen von Quote und gender pay. Aber die Beschreibung der Realität und der Ursachen ist nicht so falsch, wie ihre Kritikerinnen behaupten.

Und die Jungs. Welche Häme begegnet der Schröder zu ihren kritischen Fragen, ob Schule heute noch jungskompatibel sei. Ich kenne nicht eine Lehrerin (und ich kenne nun wirklich viele), die nicht zustimmte, dass Schule heute sehr viel mehr auf Mädchen zugeschnitten ist als auf Jungs. In den großen Doppeljahrgängen, die dieses Jahr in Hamburg Abitur gemacht haben, gab es an etlichen Schulen keinen einzigen Jungen, der es unter die ersten zehn, teilweise sogar unter die ersten fünfzehn geschafft hat. Das ist eine Tatsache. Und das hat - und hier irrt Frau Schröder - nichts mit Fußball oder Ponys zu tun, sondern damit, dass die Fähigkeiten, die in den letzten Jahren über Schulerfolg entschieden, ungleich verteilt sind. Offene Unterrichtsformen, die die Partei von Frau Schröder lange vehement bekämpft hat (in den 90ern, als diese Unterrichtsformen in Norddeutschland schon nahezu flächendeckend in den Grundschulen eingeführt wurden, hat es in Baden-Württemberg noch Verwarnungen gegeben, wenn jemand damit experimentierte), haben hier ein wenig Abhilfe geschaffen, aber zu leugnen, dass es unterschiedliche Lern- und Verhaltensweisen zwischen Jungs und Mädchen gibt, kam ja nun doch schon mit den Knöpfstiefeln aus der Mode.

Über einen Satz in Schröders Interview habe ich mich sehr gefreut, weil es meiner Wahrnehmung entspricht, der ich seit Jahren - wenn auch nicht so konsequent wie mein "role model" Mark Heising - versuche, gegen die zu kämpfen, die Leistung als "Arbeit mal Zeit" definieren und Sesselpupen für Engagement halten:
Für mich wäre der Mann ein Vorbild, der eine Führungsposition innehat und dabei den Mut besitzt zu sagen: Wir halten das Meeting um 16 statt um 19 Uhr ab, ich möchte nämlich gern meinen Sohn ins Bett bringen.
Edit:
An einem konkreten Beispiel diskutiere ich mit dem schlauen Thilo Specht, was ich an den Kritikerinnen von Frau Schröder kritisiere, nämlich das unterkomplexe Denken, das sie ihr vorwerfen ;)

10.2.10

Wer das Internet für überwiegend schädlich hält, muss ein Menschenfeind sein

Christian Stöcker von Spiegel Online hat vorgestern einen großartigen, knackigen und allgemein verständlichen Vortrag gehalten, dessen 13 min sich jede und jeder einmal kurz antun sollte. No further comment. Full ACK.



(via Carta, gefunden über buzz, ist es also doch zu was gut, dieses neue Googleding)