23.8.13

Es war eine schöne Zeit

Das war es wirklich. Wie die eine oder andere nachrechnen kann, war ich in den 70er Jahren Kind und in den 80er Jahren Jugendlicher. Die 70er sind gerade in der merkwürdig verrutschten Pädophilie-Debatte ähnlich verzerrt wie die 80er in der über politische Bewusstwerdung und Frauendings.

Dabei war es eine tolle Zeit, in die ich hineingeboren wurde. Und eine tolle Szene. Und manchmal denke ich wehmütig, dass ich meinen Kindern gönnen würde, einiges davon zu erleben wie ich es erlebt hatte als Kind. Auch wenn ich weiß, dass vieles von heute aus betrachtet (oder auch nur aus dem Blickwinkel von schon nur zehn Jahre Jüngeren) sehr merkwürdig und fremd anmutet.

Jede wird wohl einige besonders starke und nachhaltige Erinnerungen an Kindheit und Jugend haben, nehme ich an. Bei mir sind sie sehr geprägt von den Menschen, mit denen meine Familie befreundet war, und den Bewegungen, in denen ich aufwuchs. Beides hat mich, wie ich heute weiß, sehr geprägt. Interessanterweise kommt dieses immer mehr zu tragen, je älter ich werde.

Da ist zum einen der Feminismus der zweiten Welle der Frauenbewegung. Frauen und Männer, oft die Männer, mit denen die Frauen, die in meiner Umgebung das Thema vorantrugen, verheiratet waren und ein neues Leben ausprobierten. Eine neue Sprache. Meine eigene Familie war da eher am Rande, denn das mit dem Leben ging so nicht. Meine Mutter hasste den Beruf, in den sie ihr Vater in den 60ern gedrängt hatte - und gab den so früh es ging auf. Also als ich geboren wurde. Und während unsere Familie (Vater, Mutter, Sohn Tochter, Vater voll berufstätig, Mutter "zu Hause") äußerlich geradezu klassisch für die frühen 70er war, waren es eben Frauen wie meine Mutter und ihre Freundinnen, die sich mit der "Frauenfrage" massiv auseinandersetzten. Die den unideologischen Teil der Kinderladenbewegung prägten. Die ehrenamtlich aktiv wurden. Diese Zwischengeneration. Etwas zu jung für die 68er, vor allem aber da schon mit Verantwortung für Kinder als andere sich radikalisierten und in den Untergrund gingen. Von solchen war nur immer mal die Rede, kennengelernt habe ich keine (mehr).

Vielleicht ist es nicht ganz typisch für Menschen in meinem Alter, vielleicht, weil meine Eltern so jung waren als ich kam. Aber ich habe tatsächlich in der Familie und im Freundinnenkreis und in den Bewegungen, in die meine Eltern uns Kinder immer mitgenommen haben (Bunte Liste, Dritte-Welt-Arbeit, Anti-AKW- und Anti-Gorleben-, später die Friedensbewegung), einen Umgang und eine Sprache kennen gelernt, die anders waren als das, was ich dann erleben musste, als ich erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche verließ. Ende der 90er. Eine Selbstverständlichkeit von - wie es damals hieß - "geschlechtergerechter Sprache" beispielsweise. Es war eine schöne Zeit, in der ich feministische Lebens- und Gesellschaftsentwürfe als den Normalzustand erlebte und kennen lernte. Die normal waren und darum nicht kämpferisch oder aggressiv. In denen ich unter dem Tisch sitzend und spielend schon früh die Diskussionen verfolgte und aufsaugte. Das ist es wohl auch, was mich heute so ungeduldig macht. Und was in den letzten Jahren zu meiner Reradikalisierung führte in diesen Fragen. Dass meine Kindheit so wirkt, als wäre sie aus der Zukunft. Wenn ich mir die jungen Leute anhöre oder die älteren, die offenbar lange unter einem Stein lebten.




Und dann auch das andere Thema. Ich nenne das ja gerne analog zum Fachbegriff, mit dem bezeichnet wird, wie wir unsere Pferde halten, "Robustkinderhaltung". An Wochenenden mit Freundinnen und Freunden und der weiteren Familie waren wir Kinder auf uns gestellt, butscherten rum, machten Feuer, kenterten mit selbstgebauten Flößen auf den Dorfteichen, waren laut, dreckig und sehr oft nackt.

Heute kommt es mir komisch vor, wenn Kinder oder gar Erwachsene nackt oder fast nackt in der Gegend rumrennen. Damals war das normal. Zumindest in unseren Szenen. Die übrigens nicht links-grün waren. Sondern kirchlich. Mit einer Faszination für Befreiungsbewegungen. Und einer Aversion gegen Uniformen. Von den Parkas wurden die Flaggen abgetrennt. Ich bin mir relativ sicher (so sicher, wie ich mir bei etwas aus der Kindheit sein kann), dass in unseren Szenen undenkbar und unakzeptabel war, was als Exzesse und Verbrechen an Kindern in der Debatte über Pädophilie in linken und liberalen Ecken in den 70ern und 80ern zu Tage kommt. Und ich habe auch kein Verständnis dafür. Zugleich ist für jüngere Menschen und ältere, die den Aufbruch in eine andere Freiheit (und das war der Kontext ja tatsächlich, in dem es dann ebenfalls - wie überall - Perverse und Verbrecher gab) nicht mitmachten, wahrscheinlich schwer zu verstehen, dass es eine Zeit gab, in der Körperlichkeit nicht sofort mit Sexualität einherging. Ein lahmer Abklatsch davon ist vielleicht heute noch, dass es in meiner Umgebung durchaus üblich ist, einander in den Arm zu nehmen. Auch Männer andere Männer und Männer Frauen - ohne dass das sexuelle oder erotische Konnotationen hat.

Natürliche Körperlichkeit ohne Pornochick. Schwer vorzustellen aus heutiger Zeit. Aber nichts, wofür sich jemand entschuldigen muss oder was ich im Nachhinein als unangenehm empfände. Für uns war es beispielsweise auch selbstverständlich, mit Mädchen zu spielen. Was für Jungs heute oft undenkbar ist, sobald sie in die Schule kommen.

Es war eine schöne Zeit, voller Freiheit und Dreck und Lärm und Langeweile und langem Aufbleiben und ohne Eltern, die sich dauernd um uns kümmerten. Und es erschreckt mich, dass es auch in dieser von mir als wunderbar erlebten Kindheit zu den gleichen Exzessen und Verbrechen kam wie in den von Repression geprägten Umgebungen. Das ist nicht zu entschuldigen und wirft einen Schatten. Macht aber die Häme und den Hass von so Spinnern Publizisten wie Christian Füller nicht erträglicher. Vielleicht hatten die einfach keine so schöne Zeit?


7.8.13

Merkels Kinder

Obwohl ich von ihm nur auf einer Sommerakademie der Studienstiftung lernen konnte und er für mich ja sozusagen fachfremd ist, gehört Werner Durth zu meinen wichtigsten Lehrerinnen. Vor allem über Kontinuitäten in Lebensläufen und so weiter habe ich viel von ihm gelernt. Andere Geschichte. Und darüber, warum Diktaturen für Architekten großartig sind. Weil sie Spielräume schaffen. Germania planen zu dürfen, war für viele der späteren Stars der 50er sehr aufregend.

"Entwickler lieben Apple", sagte einer neulich zu mir, der sich mit einer kleinen Anwendung rumschlagen musste, die auf iPhone und Android funktionieren sollte. Alles sei klar geregelt und einheitlich. Das, was ich immer "Cuba" nenne: eine Diktatur, in der die Sonne scheint. In der ich mich wohlfühlen kann, wenn ich mich hinreichend anpasse. Apple ist Cuba.

Und die Technokratie Merkel'scher Prägung hat irgendwie auch was von Cuba. Und bringt merkwürdige Kinder hervor, die sich durch einen irritierenden Technik- oder Wissenschaftspositivismus auszeichnen. Was schließlich doch noch die Kurve kriegt zur "Alternative für Deutschland", über die ich eigentlich gar nicht schreiben wollte. An deren verstörenden Plakaten ich aber vorbei laufe jeden Tag.

Was mich rund um diese Hochschulprofessoren, die eine unscharf profilierte Expertenpartei gegründet haben, die gesamte Zeit umtreibt, ist etwas Ähnliches wie bei den Piraten (ja, wilde Umleitung, löst sich gleich auf, versprochen). Als jemand, dem intellektuelle Demut auch selbst sehr fremd ist, kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, wie jemand auf die Idee kommen kann, man müsse nur mal die richtigen, die schlauen Leute ranlassen, so richtige Expertinnen, und dann würde alles flutschen. Geht mir dauernd so.

Aber im Kern ist dies Technokratie oder Expertokratie. Und das Gegenteil von Demokratie. Ja, man kann sehr unglücklich werden angesichts von Demokratie. Ich auch, wenn ich sehe, dass die Massen mehr Angst vor einem Veggie-Day haben als vor der Abschaffung der Demokratie und Freiheit.

Das, was die "Alternative für Deutschland" mit den "Piraten" gemeinsam auszeichnet, ist doch gerade dieser Anspruch der Technokratie. Die Vorstellung, es gebe eine objektive, geradezu "naturgesetzliche" Wahrheit und einen richtigen Weg, der nur umgesetzt werden müsse. Lasst die Techniker oder die Wirtschaftswissenschaftlerinnen ran - und alles flutscht. Eine geradezu katholische Haltung, obwohl die auch schon ein bisschen von ihren naturrechtlichen Ansätzen abgerückt sind, wenn ich das richtig übersehe.

Das Interessante ist aus meiner Sicht, dass beide im Kern unpolitischen Protestparteien dabei gleichzeitig (1) die Sehnsucht vieler Menschen in meiner Umgebung nach mehr Kompetenz bedienen und (2) voll auf der Linie Merkels sind, die nahezu perfekt die Mischung aus asymmetrischer Demobilisierung und technokratisch-wissenschaftlich begründeter scheinbarer Alternativlosigkeit beherrscht.

So betrachtet sind Piraten und AfD beide "Merkels Kinder". Geprägt und politisiert von der Erfahrung unter ihrer Kanzlerinnenschaft, beide weitgehend ohne Gestaltungsanspruch, beide mit der Vorstellung, es gebe einen objektiv richtigen Weg. Also beide genau so, wie Merkel agiert und regiert. Ja, beide in unterschiedlicher Ausprägung, so unterschiedlich sogar, dass es schwer fällt, sie auch nur gemeinsam zu nennen - aber ich finde die Gemeinsamkeiten verblüffend. Zumal sie noch etwas gemeinsam haben: Ich finde es schwer erträglich, wie sie die Technokratie oder Expertokratie der Demokratie vorziehen. Und ich finde sie gleich unwählbar.

Eine Vorliebe für Cuba ist keine Frage des Alters. Und Pubertät auch nicht.

6.8.13

Ein neuer Baum

Nachdem einige von uns so langsam wieder aus der Schockstarre aufwachen und zornig werden, ich selbst ja auch neulich mit der Frage, ob das schon der Anlass zum Widerstand sei, finde ich es an der Zeit, einmal nach vorne zu denken.

Und dabei hilft ein Blick zurück. Ich zumindest kann mich noch an Zeiten liberaler Innenminister erinnern. Gerhard Baum beispielsweise. Mit der geistig-moralischen Wende des Helmut K. hörte das auf. Es kam Zimmermann.

Nun lässt sich nicht sagen, dass Liberale (Grüne und FDP) sich in Fragen der Sicherheitshysterie mit Ruhm bekleckert hätten, lest noch mal Nicos Text dazu. Dennoch möchte ich mir nicht ausmalen müssen, was 2002ff passiert wäre, wenn Schily nicht von den alten Parteifreunden hin und wieder ausgebremst worden wäre. Oder wenn jetzt nicht die Justizministerin wäre.

Wenn der Innenminister ("Verfassungsminister") im Gleichschritt mit dem Chef der Polizeigewerkschaft ein bekennender Verfassungsfeind ("Supergrundrecht Sicherheit") ist, nutzt es auch nichts, dass der breiten Mehrheit in diesem Land das Thema Freiheitsrechte am Allerwertesten vorbei geht. Allerdings finde ich es dabei eher niedlich, wenn auf Gestapo und Stasi verwiesen wird, um anzumerken, dass wir doch besonders sensibel sein müssten. Mein Verdacht ist ja eher, dass Gestapo und Stasi aus exakt dem Grund so gut funktionierten, aus dem sich auch jetzt das Desinteresse am Aushöhlen unserer Demokratie speist. Aber das ist vielleicht noch einmal eine andere Geschichte. Die die Frage der Legitimität von Widerstand aufwirft, die ich aber nicht stellen will und werde, weil sich alles in mir dagegen sträubt.

Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Und Parteien, denen die Verfassung wichtig ist, werden jeweils unter 15% bleiben. Aber: es sieht alles danach aus, als ob auch die nächste Regierung von einer dieser Parteien mitgetragen werden wird. Und hier sehe ich eine Chance. Ich wünsche mir, dass sowohl die FDP als auch die Grünen für eine Koalition darauf bestehen, die nächste Innenministerin zu stellen. Dass diese Ministerin wieder vor allem für den Rechtsstaat und die Verfassung zuständig ist und nicht nur für die Polizei. So von der Haltung her.

Wäre das nicht ein Deal? Vielleicht wäre es sogar ein Rettungsprogramm für die FDP (oh Gott und das von mir) - dass sie sich festlegt auf das Innenministerium, ohne das sie in keine Koalition geht. Und bei den Grünen werde ich auch für diese Idee werben.

Was denkt ihr?