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15.11.22

Das Ende der Mehrheit

Vor einigen Wochen habe ich in Österreich einen Vortrag halten dürfen – zum Jubiläum einer lutherischen Kirche, die in ihrer Gegend, wie überall in Österreich, in einer sehr kleinen Minderheit ist. Es war für mich ein Anlass, weiter über mein schon lange in immer neuen Varianten ventiliertes Thema der Minderheiten-Mehrheit, also der Veränderung der Gesellschaft, wenn es keine Mehrheit mehr gibt, nachzudenken. 

Die Rede, die fast eine halbe Stunde dauerte und die ich im Parlament der Bundeslandes Niederösterreich halten durfte, dokumentiere ich hier leicht adaptiert, also etwas von den sehr spezifischen Passagen bereinigt, die sich auf die konkrete Kirche und ihre Situation bezogen. Am Tag nach der Rede habe ich mit rund vierzig Menschen noch einen Workshop zu dem Thema gestaltet, was weiteres sehr wertvolles Feedback bedeutete, das in das Nachdenken und Weiterschreiben einfloss und einfließt.

Viele viele bunte Schokolinsen

10.5.22

Schreiben wie Sprechen

Als ich ab Mitte der 90er Jahre Radio gelernt und dann gemacht habe, hat sich meine Sprache verändert. Ich kam aus dem Studium ins Studio. Und von einer leicht vernerdeten, ziemlich arrogant-überkandidelten Sprache zu einer, die einfach, klar und verständlich ist. Witzigerweise hat es mich nachhaltig für die Langform verdorben, dass ich Geschichten in maximal 90 Sekunden erzählen musste. So lang war damals ein BmE, Beitrag mit Einspieler.

Das eigentlich Besondere aber an der Sprache, die ich im und für das Studio lernte, war, dass sie direkt und persönlich wurde. Mit relativ viel Druck, mit Rhythmus, mit Klarheit. Gesprochene Sprache schreiben, heißt diese Disziplin. Und in meinem speziellen Fall kam noch etwas dazu: als einer, der im Privatradio, also im auf Unterhaltung optimierten Sprachprogramm von Musiksendern, für die A-Themen zuständig war (Arme, Ausländer*innen, Arbeitslose, Afrika und so weiter), eine (An-) Sprache zu finden, die einerseits sensibel genug war, um unsere Themen zu tragen – und andererseits in den Gesamtduktus der Sender passte, in denen wir unsere Sendungen via Drittsenderecht hatten. Ich machte ja Kirchenfunk, bezahlt und verantwortet von der evangelischen Kirche, aber im Konsens mit Sendern wie RSH und Radio Hamburg.

Es ist eine erzählende Sprache, die so entsteht. Eine, die jeweils eine einzelne Hörerin in den Blick nimmt. Darum ist Radio auch so anders als andere Medien. Und darum bereitet Radio so gut vor auf Sprechen und Schreiben in Social Media und in dieser Zeit gerade, die von direkter und persönlicher Ansprache lebt.

Mirkofon in einem Radiostudio

Inspiriert von dieser Radio-Sprache ist eine Sprache für Vorträge und für Texte entstanden, die nicht schreit, aber dennoch Druck entwickelt; die nicht predigt, aber dennoch verändern will; die nicht die Vielen anspricht sondern jede einzelne*n – so eine Sprache kann berühren und kann Menschen bewegen. Und: so eine Sprache verändert auch die Inhalte und die Haltung, mit der ich spreche. Weil der Druck und das Direkte eben auch verhindern, dass ich mit Worten und Sprache verschleiere, was ich sagen müsste. Wenn ich geradeaus spreche, habe ich eine sehr viel größere Klarheit. Wenn ich nicht doziere sondern mich unterhalte, habe ich fast automagisch einen Hang zu differenzieren.

Schon als Robert Habeck das erste Mal Landesminister wurde, war ich ob seiner Sprache und seinem Sprechen sehr aufgeregt. Fand ihn nicht nur intellektuell unglaublich anregend (so sehr wie seit Engholm niemanden mehr in der Politik), sondern auch neu. Und in den letzten Monaten erleben wir das auf der großen Bühne. Ich denke, dass Habeck so anders wirkt, so viel Zustimmung für seine Art der Kommunikation bekommt, hängt mit genau dieser Sprache zusammen. Und das, obwohl ich am Beginn der Corona-Pandemie mit ihren virtuellen Parteitagen und so weiter sehr den Eindruck hatte, dass ihm "Radio" schwer fällt, also das Sprechen mit einer Einzelnen, ohne Reaktion aus dem Publikum. Das hat er inzwischen unglaublich gut gelernt.

Habecks schnörkellose Sprache, verbunden mit dem rhythmisch-poetischen Sprechen, seine direkt zu erlebende Suche nach der richtigen Formulierung, sein lautes Nachdenken – all das prägt einen neuen Stil. Und ich bin davon überzeugt, dass es auch einen neuen Stil für andere prägen wird, die professionell schreiben und sprechen. Ich nenne das "Schreiben wie Sprechen". Gesprochene Schriftsprache. Oder geschriebene gesprochene Sprache. Es ist eine Kunstform, die mir vielleicht so auffällt, weil ich mich daran – anders als Habeck, logisch – ebenfalls seit vielen Jahren versuche.

Ich höre von Menschen, für die ich Texte schreibe und Geschichten erzähle, dass sie genau dieses gerade suchen und wollen: eine Sprache und ein Sprechen und Schreiben, das davon inspiriert ist, wie Habeck Dinge erklärt und Menschen mitnimmt. Und ich höre von vielen anderen, die für ihre Kund*innen schreiben, dass das überall gefragt wird. Das finde ich toll. Denn es ändert so viel in der Kommunikation, wenn sich immer mehr Menschen darum bemühen, Jargon und stereotype Sprachbilder zu vermeiden. Geradeaus zu schreiben und zu sprechen. Schreiben und Sprechen dichter zusammenzurücken. Eben zu schreiben wie sie sprechen. Und auch so zu sprechen.

Wenn Robert Habeck die schreibende Kommunikationszunft zu besserer Sprache inspiriert: ist das nicht wunderbar?


 

23.11.20

Pastorale

 

Noten, Pastorale
Schon im Studium war "pastoral" latent ein Schimpfwort. Sozusagen das, was wir unbedingt zu vermeiden suchen würden, wenn wir denn predigen. Was in gewisser Weise schräg war, denn der Beruf, den wir damals fast alle anstrebten, nannte sich "Pastorin". Heute heißt er auch in meiner Kirche "Pfarrerin". Pastorin kommt aus dem Lateinischen und meint Hirtin. Was ja wiederum etwas mit dem Beruf zu tun hat. Und in dem Sinne wäre pastoral eigentlich auch ganz ok, denn dann meinte es ja so was wie fürsorglich, aufpassend, achtsam und so. 

Aber wenn wir reden, dann ist pastoral nicht gut. Meistens meint meine Blase damit etwas, das ich als leicht gesungen, überakzentuiert, fast etwas affektiert in der selbstreferenziellen Emotionalität bezeichnen würde. Im Grunde wisst ihr wahrscheinlich, was ich meine.

Als ich in einige Reden auf dem digitalen Parteitag meiner Partei (der Grünen) reinhörte, fiel mir auf, dass ich – selbst wenn ich die Inhalte gut fand und den Rednerinnen normalerweise gerne zuhöre – viele Reden als pastoral empfand. Das hat mich gewundert. Ich weiß, dass viele, anders als ich, mit dem gefühligen, unscharfen Ton von Robert Habeck beispielsweise nicht viel anfangen können. Ich dagegen schon. Emotional und intellektuell spricht er mich auf eine Weise an, wie es bis dahin nur Björn Engholm damals vermochte, der interessanterweise einen ähnlichen Tonfall hatte. Aber auf dem Parteitag war es ja nicht nur er, der so sprach.

Merkwürdigerweise war selbst Annalena Baerbock, die sonst einen ganz anderen, zupackenden Ton hat, ähnlich. Zuerst hatte ich den Verdacht, dass sie die gleiche Sprechtrainerin hatten, die sie auf den Parteitag vorbereitete. Kann auch gut sein – erklärt es aber nicht. Und erklärt vor allem nicht, wieso sie beide so pastoral klingen.

Predigen ohne Publikum

Mein Verdacht ist, dass es eher daran liegt, dass sie quasi ohne Publikum sprechen. Denn das wäre das, was sie mit Predigten gemeinsam haben. Die Reden auf einem digitalen Parteitag sind so wie Predigten in der Kirche – wo Predigerinnen im Grunde in einen (quasi) leeren Raum reden. 

Vor allem aber: ohne irgendeine sichtbare Reaktion, kein Jubel, kein Klatschen, kein sichtbares Mitgehen. In den Kirchen, in denen ich zu Hause bin, wird Predigten gelauscht. Punkt. Und vielleicht beim Rausgehen noch ein lobendes Wort hinterlassen. Wenn es hoch kommt, gucken wir interessiert hoch auf die Kanzel. Oder lächeln mal ganz schwach. Aber eigentlich zeigen wir keine Reaktion. Wie bei einer Rede in einem Webinar oder einer virtuellen Konferenz.

Ich habe mich schon oft gefragt, wieso Predigten meistens so anders, so viel künstlicher in ihrer Emotionalität und Intensität sind als "normale" Reden. Es ist mir vorher nie in den Sinn gekommen, aber ich glaube inzwischen wirklich, es liegt am Publikum. Oder eben daran, dass es still ist oder fehlt.

Selbst merke ich es ja auch. Ich denke, dass ich als Redner ganz ok bin, zumindest oft, zumindest bekomme ich hin und wieder dieses Feedback. Und ich merke, dass mir das Reden ohne (sichtbares, reagierendes, körperlich spürbares) Publikum schwerer fällt. Dass es mich verunsichert und ich dazu neige, mehr abzulesen und – ja tatsächlich wie beim pastoralen Stil – dazu neige, überzuakzentuieren. Wenn das ein Wort ist, das als benutzbar gelten kann. Ihr wisst, was ich meine.

Menschen, die wie Annalena und Robert oft wirklich gute Rednerinnen sind, und bei denen ich merke, dass sie mit dem Publikum in eine Beziehung treten, werden etwas blutleer, wenn sie in den leeren Raum sprechen. Und sehen aus, als ob die den Teleprompter nutzen, also ihre Rede ablesen – wo sie sonst oft stundenlang frei reden (können). Sie werden pastoral.

Lustigerweise habe ich durch den digitalen Parteitag der Grünen mehr über das Predigen gelernt als über digitale Parteitage. Oder, wie ein geschätzter Kollege und Mit-Christ antwortete, als ich diesen Gedanken teilte: Ich glaube, ich werde in Gottesdiensten künftig mehr klatschen.

2.4.13

Disziplin

Kuddel heißt eigentlich Kurt, wie das so ist bei uns in Hamburg. Und wohnt seit mehr als sechzig Jahren im gleichen Block wie mein Opa. Ist allerdings zehn Jahre älter, wird also dieses Jahr noch 98. Meine Mutter und Kuddels Tochter sind zusammen zur Schule gegangen, sie ist jetzt in Amerika verheiratet und ja nun auch schon weit jenseits der 60, aber das ist eine andere Geschichte.

Kuddel ist seit etwas über 25 Jahren Witwer. Und hat eine eiserne Disziplin, wie das früher hieß. Jeden Tag geht er mit seinem Stock zum Einkaufen. Direkt um die Ecke zu Penny, etwas weiter zu Aldi - oder er steigt bei Penny in den Bus und fährt die eine Station zu Rewe. Und dann kocht er auch noch jeden Tag.

Seine Tasche für's Krankenhaus hat Kuddel immer im Flur stehen, denn er geht oft ins Krankenhaus, also lässt sich oft dahin fahren. Sozusagen das Gegenteil meines Opas, der nicht mal zu seiner Ärztin geht.

Mein Opa duzt Kuddel und redet mit ihm, wenn sie sich auf der Straße treffen, was sie oft tun, denn mein Opa muss jeden Tag ein-, zweimal raus, möglichst einmal mit dem Rad. Solange das noch geht. Sie duzen sich, weil es so ist bei Arbeitern in der Generation, zumal mein Opa zwar bald ins kleinbürgerliche Milieu aufstieg als technischer Zeichner - aber nie auf Kuddel herabblickte, der als Maler bei der Genossenschaft arbeitete, in deren Wohnungen sie beide seit ihrem Wiederaufbau und bis heute wohnen. Ob meine Großmutter Kuddel kennt, weiß ich nicht übrigens. Seine Frau kannte sie sicher, damals, in der ersten Hälfte der Fünfziger, als die Mädchen zusammen zur Grundschule gingen, bevor sie auf verschiedene Schulen verteilt wurden.

Aber obwohl es kaum jemanden gibt, mit dem mein Opa mehr geredet hat außerhalb der Arbeit in den letzten gut sechzig Jahren, würde er Kuddel nie als Freund bezeichnen. Andersrum auch nicht. Denn beide sind introvertiert. Mein Opa bewundert Kuddels Disziplin und lacht über seinen Glauben an Ärztinnen und Krankenhäuser. Und das war es.

Denn nach der Arbeit sind meine Großeltern immer erstmal eine Stunde im Wandsbeker Gehölz spazieren gegangen. Und später, als sie dann ein Auto zusammengespart hatten, in den Rausdorfer und dann in den Trittauer Forst gefahren, mindestens dreimal in der Woche.

Ich fand meinen Opa früher immer sowohl schräg als auch faszinierend. Und konnte lange nicht fassen, was es ist. Und was es auch mit mir ist, dass ich nicht eigentlich schüchtern bin (sondern auch mal laut und meinungsstark und dickköpfig, alles Dinge, die ich von ihm habe), aber eben Distanz halte zu vielen Menschen.

Als die wunderbare Kaltmamsell die Introvertierten entdeckte, wurde mir einiges klar. Auch, warum mein Opa damals von einem auf den anderen Tag aufhören konnte mit arbeiten, ohne es zu vermissen oder sich ein Hobby zu suchen. Er liest nicht mal gern (außer den Spiegel). Und hat sich auch noch nie mit Kuddel getroffen.

17.9.12

Reiten und Führung

Der eine oder die andere weiß ja, dass ich ein begeisterter Reiter bin. Noch nicht so ewig, denn wie die meisten reitenden Männer, die ich kenne, war ich am Anfang Mit-Reiter meiner Frau und Turniertrottel für eines meiner Kinder. Vor rund 25 Jahren saß ich dann also erstmals auf einem Pferd, fein durch die Lüneburger Heide juckelnd. Und als wir vor fast genau sieben Jahren wieder anfingen, war ich dann auch recht bald wieder dabei, seit ziemlich genau einem Jahr habe ich mein eigenes Pferd, mein Riesenteddypferdchen, hier kuschelnd mit meinem Sohn:

Secundus kuschelt mit Vordís

Was ich über die Jahre beim Reiten gelernt habe (abgesehen von der Binsenweisheit, die sicher viele Eltern von reitenden Jugendlichen bestätigen können, dass Kinder, die reiten, oft etwas leichter oder besser oder ausgeglichener oder so durch die Pubertät kommen), ist vor allem eine schöne Kombination aus Demut und Führungsstärke. Eine Kombination also, die ohnehin sehr hilfreich ist und gut tut und zur Grundausstattung von Führungskräften dazu gehören sollte, wenn es gut läuft.

Das Faszinierende an der Freizeit (oder dem Arbeiten, je nach Belieben) mit Pferden ist ja, dass dieses Tier einerseits so sehr viel größer und gewaltiger und schwerer und kräftiger ist als ich. Selbst für unsere kleinen, netten Islandpferde gilt dies ja, noch viel mehr für die großen, die dazu auch oft noch schreckhafter sind. Und dass es andererseits so bereitwillig nach Führung und Anlehnung sucht und diese auch dankbar annimmt, wenn nicht irgendwas irgendwann einmal komplett falsch gelaufen ist mit dem Tier.

Ich bin beileibe kein guter Reiter. Aber mit ein bisschen Übung schaffe sogar ich, dass ein Pferd mir zuhört und macht, was ich will. Wenn ich es weiß. Also, was ich will. Denn genau das ist das Geheimnis. Und genau das ist es, was Reiten so sehr mit Führung gemeinsam hat.

Etwas holzschnittartig gesagt, braucht das Pferd klare Ansagen von mir. Keine groben, nicht mit Gewalt oder Kraft - aber klare Ansagen und die Sicherheit, dass ich es schon richtig machen werde. Wie sonst sollte es rückwärts gehen, obwohl es weiß, dass da irgendwann ein Zaun kommt. Wie sonst sollte es in einen Bach gehen, obwohl es nicht weiß, was da unter der Wasseroberfläche lauert.

Was mich immer wieder mit Erstaunen erfüllt, ist das große Bedürfnis meines Pferdes, es richtig zu machen, mir zu gefallen in gewisser Weise. Darauf einzugehen, was ich von ihm will, wenn es denn versteht, was ich will. Und genau das ist es, was ich erstmal lernen musste: Wie ich nicht nur weiß, was ich will - sondern auch noch ausdrücken kann, was ich will, auf eine Weise, die mein Pferd versteht. Denn der wunderbare Satz, dass man beim Reiten lernen müsse, nicht mit dem Kopf sondern mit dem Arsch zu denken, stimmt ja einfach.

Pferde sind gutmütige Tiere. Aber sie sind Fluchttiere. Ihr "natürlicher" Instinkt ist es, wegzulaufen, wenn etwas merkwürdig ist. Darum brauchen sie so viel Sicherheit, darum sprechen meine Reittrainerinnen von "Anlehnung", von der Kombination aus "Versammlung" und "Losgelassenheit", wenn sie beschreiben, was ich für mein Pferd erreichen soll. Und die Parallele zur Führung eines Teams, eines Unternehmens und so weiter schenke ich mir einfach, sie ist allzu offensichtlich.

Wenn ich dem Tier Sicherheit gebe und es mir vertraut, dass ich es nicht in die Irre führe, wenn ich vermittele, zu jedem Zeitpunkt gelassen zu wissen, wo es hin geht - dann wird es fast immer machen, was ich will. Wenn ich unsicher bin, wird es auch unsicher, verspannt sich, macht Fehler.

Zu lernen, dieses große, großartige, sensible, ängstliche Tier zu führen, ist für mich sehr beglückend gewesen. Dass ich mit Hintern und Schenkeln helfen kann und die Zügel nur noch brauche, weil ich die Hände ja irgendwo lassen muss. Mich zugleich auszuliefern (denn hey, wenn es will, kann mein Pferd immer noch machen, was es will, ich habe faktisch keine Chance gegen es, wenn es drauf ankommt) und zu wissen, dass ich mich nicht ausliefere. Gegenseitig zu vertrauen, obwohl Vertrauen in ein Tier an sich absurd ist. In einer Extremsituation, wenn das Pferd durchgeht, zu realisieren, dass nur eine paradoxe Intervention hilft, die Situation zu meistern (hier: treiben und es dazu zu bringen, dass es eher noch schneller wird, anstatt an den Zügeln zu reißen und Gegendruck aufzubauen).

Nicht alles das kann ich wirklich oder gar immer. Und die Angst da oben ist mir durchaus und immer noch vertraut. Wie bewundere ich dann meinen Sohn und seine Freundinnen, die auf ihren Pferden groß geworden sind und machen können, was sie wollen - draufspringen, turnen, tanzen, ohne Sattel und Zügel galoppieren. Denen ihre Tiere so vertrauen, weil sie genau von einander wissen, was sie machen, wollen und können.

Aber ich denke - und damit komme ich am Ende doch noch ein einziges Mal auf das Thema Führung zurück -, dass Reiten eine gute Übung für Menschen ist, die führen wollen oder müssen. Und dass Menschen, denen Führung leicht fällt oder die es zumindest können, wohl auch Reiten lernen können. Meine Vermutung wäre sogar, dass ich an der Art, wie sie sich beim ersten Kontakt mit Pferden "anstellen", zu einem guten Teil sehen kann, wie sie führen im "richtigen Leben". Und dass Übungen auf und mit Pferden für das Lernen von Führung mehr bringen als viele andere Kurse, die gerade modern sind.

Vielleicht sollte ich wirklich mal Managementkurse anbieten. Auf und mit Pferden. 

23.3.12

Der Ekel vor dem s

Jede hat ihren blinden Fleck. Etwas, das, gegen alle vermeintliche Vernunft, den Kragen platzen lässt und wo, wie meine Frau es formulieren würde, Toleranz eben mit z endet. Bei mir sind es drei Kleinigkeiten, über die ich schwer bis nicht hinwegsehen kann: falsche Kommata, der falsche Gebrauch von Fremdwörtern - und das Lispeln.

Es ist nicht so, dass ich froh darüber bin, denn es ist schmerzhaft, weil es dir überall begegnet. Aber mich ekelt Lispeln, es löst bei mir tatsächlich körperliche Schmerzen aus. Vielleicht, weil ich mein Leben lang gesungen habe und eine Sprechausbildung genießen durfte, vielleicht, weil ich mit Dagmar Ponto eine wirklich sehr, sehr gute Sprechtrainerin hatte (deren größter beruflicher Erfolg wohl diese eine bauernschlaue lispelnde Ikone der 90er ist, die sie bildschirmtauglich gemacht hat). Vielleicht, weil meine Frau Sprachheilpädagogin ist und ich schon früh wusste, dass kaum ein Sprechfehler so einfach und erfolgreich therapierbar ist wie eben das Lispeln. Ich kann schon Ulrich Wickert nicht zuhören, bei dem viele andere noch nicht mal hören, dass er lispelt.

Meine These ist, dass es eine Zumutung ist, jemanden mit diesem mit etwas persönlicher Anstrengung so gut behebbaren Sprechfehler ins Fernsehen zu lassen. Dass selbst eine mögliche thematische oder gar intellektuelle Brillanz nicht rechtfertigt, jemanden Lispelndes auf ein Podium zu holen oder einen Vortrag halten zu lassen. Sollen die schreiben oder eben eine Sprechtherapie oder Sprechausbildung machen, wenn sie unbedingt öffentlich reden wollen.

Ein weiteres Problem ist entstanden mit Tonabspielgeräten mittlerer Qualität, bei denen s-Laute, die noch nicht gelispelt sind aber unsauber und mit mehr Zischen als üblich versehen, zu einem Lispeln werden in den Ohren der Zuhörerin. Das werde ich wohl ertragen müssen, auch wenn es mich quält.

Heute morgen begann ich voller Vorfreude das Audiomagazin der aktuellen Ausgabe der "Zeit" - unter anderem, weil die "Zeit", ganz anders als die "brand eins" in der Audioversion, die grausame Pausen in den Sprechfluss geschnitten hat, normalerweise wirklich gut gesprochen und gut produziert ist. Und dann wird schon das Inhaltsverzeichnis von einer neuen, recht jungen Stimme gesprochen, die unerträglich lispelt. Der Schock war körperlich. Und das hektische Wechseln der Kopfhörer und der Einstellungen des im iPhone eingebauten Equalizers (jaja, ich weiß) halfen nichts.

Und selbst bei Kindern ist lispeln nicht niedlich. Übrigens.

8.3.12

Powerpointdadaismus zum Privacy Divide

Wenn ich Gäule sehen will, gehe ich in den Zoo, twitterte jemand. Und das Tolle war: Die Frau hat mir ihren zweiten Tweet ever gewidmet. Es hat also funktioniert. Anfang der Woche war ich bei den Digital Days 2012 der "Horizont" in der Trendzone mit einem Vortrag zum Privacy Divide. Und anstatt einfach Symbolbilder zum Vortrag zu zeigen, habe ich einmal Powerpointdadaismus praktiziert, um die Konditionierung von Auditorien auszutesten - und ob dieses konkrete Auditorium in der Lage ist, einem Vortrag zu folgen trotz Powerpoint.

Aber weil die Folien nicht selbsterklärend sind, habe ich dann mal einen so genannten screencast bei Slideshare gemacht - und das Manuskript, das es auch online zu lesen gibt, eingesprochen. Hier:



Das Thema ist mir übrigens tatsächlich wichtig. Und ich bin mir sicher, dass dieser Privacy Divide unser Leben und unser Arbeiten als Kommunikatorinnen bestimmen wird...

16.2.12

Wahnsinn und Wertschätzung

Ein paar Splitter aus dem Alltag der digitalen Kommunikation.

***

Eigentlich nur verlinkt, dieser wunderbare Text des mit großem Abstand besten Redners aus dem deutschen Digital-Konferenz-Fortbildungszirkus, Martin Oetting. In dem er den Begriff Fartbreeze prägt, um die Absurdität der Shitstorm-Krakeeler zu verdeutlichen. Damals, ihr wisst schon, als Sascha dieses Wort noch nicht popularisiert hatte, da gab es noch welche. Geht mal rüber zu Martin zum Lesen, kommt danach gerne wieder. Und vor allem: Glaubt keiner, die von einem Shitstorm faselt, wenn Kundinnen oder Spinnerinnen oder Süchtige oder Erleuchtete sich konzertiert beschweren und für drei Tage eine Facebook-Seite kapern. Und erinnert euch daran, dass es nur einen einzigen Fall weltweit gab, in dem eine Onlineerregung zu einem messbaren Umsatzrückgang führte. Und nicht mal da gab es eine einzige nachhaltige Wirkung. Damals, als in der arabischen Welt das Gerücht online aufkam, Philip Morris lasse die Zigaretten für den arabischen Markt in Israel produzieren. Glaubt dem Opa einfach mal, wenn er vom Krieg erzählt.

***

Ich bin ja kein großer Freund von Fortbildungen zu "Social Media", wisst ihr ja schon. Aber wenn, dann gibt es ungefähr eine gute Institution, denke ich. Kein Wunder, dass Martin da auch immer mal wieder spricht. Ich auch übrigens. Und auch, wenn der eine oder die andere auch weitere Angebote sinnvoll finden mag - ob das sein kann, könnt ihr sehr einfach feststellen, wenn ihr mal fragt, wie die ihre Referentinnen und Lehrerinnen bezahlen. Kleinere oder mittlere dreistellige Summen werden ja oft noch unterschritten und auch das ist schon frech. Den Gipfel erlebte ich diese Woche, als ein Anbieter eines neu zu schaffenden Weiterbildungsportals im Agenturbereich doch allen Ernstes fragte, ob ich, wenn ich ohnehin einen Vortrag halte, nicht noch gleich eine elaborierte Kurzversion für sie machen könne, die würden sie dann aufzeichnen, so mit Kamera, und als Lehrfilm nutzen. Nein, ein Honorar gebe es nicht, ja, die Teilnehmerinnen am Portal müssen dafür bezahlen. Aber da seien ja auch Studentinnen dabei, das sei doch für mich interessant. Nö.

***

Da kam diese Seminareinladung auf den Tisch. "Aus Kunden Fans machen" so ungefähr. Gemeint war Facebook. Und nicht etwas eine Verbesserung der Produktqualität. Kinners, das ist nicht euer Ernst, oder? Das ist ein bisschen 2010, doo. Andersrum wird ein Schuh draus: "Aus Fans Kunden machen". Das ist das Thema dieses Jahres. Und das macht auch echt Spaß.

9.9.11

Social Media And The Human Voice

One of the things I love most at my job are workshops and talks. I think I learn even more from my audiences than they learn from me, because it's always important to get confronted with real peoples' concerns and findings and experiences. Even if you "live" social media like I do for about ten years now,- and even more if you often meet and talk with other social media guys, you will never get the real value and the real changes social brings to your internet experience if you are not in regular and close contact to them who some of my internet friends call "offliners".

This might be one reason why I am not an evangelist (at least anymore) and have some strong concerns regarding Facebook and privacy and data protection (or a realistic view at this as I would call it). Nevertheless I am convinced that social media has not only value for our private lifes but also for communications. OK, this is not surprising anymore. But the goal today is not anymore to - well - bring brands and companies into social media but to have a closer look at platforms and tools and their value for different communicational needs.

Saying this I tend to look at Facebook e.g. not because it's social media but although there are conversations (that are more often than not collatoral damage of a communication program involving Facebook). And at blogs (yes, still at blogs) for reputational and SEO purposes.

Taking the point of view of the average internet user (and before that: getting to know this point of view) helps to move into action. My experience is that consultants and agencies are able to realize the more digital and social projects the earlier (as in years) they stopped being evangelists. What doesn't mean having stopped educating the communications community.

Next week I'm giving a short talk at the annual IBTTA conference in Berlin called "Social Media and the Human Voice: Building Reputation Through True Engagement in a Changing Environment". And here is the "slides":

23.6.11

Did u hear me?

Für das Jahr 2011 habe ich vorausgesagt, dass mindestens StudiVZ so am Ende sein wird, dass es entweder verschwinden oder den Weg Mypaces gehen wird, also sein Modell verändern, kein Netzwerk mehr sein will. Das haben sie ja dann auch schneller als gedacht untermauert, als sie zum 1.4. eine Vermarktungsgemeinschaft geschaffen haben. Auf den einen oder die andere wirkte das, als ob zwei Halbtote sich zusammen tun, damit es so aussieht, als ob sie lebendig wären. Aber gut, jeder, wie er mag.

Diese Woche sind nun zwei Dinge passiert, die mich meine These verändern lassen:
Ich bin überzeugt, dass nicht nur StudiVZ dieses Jahr verschwinden wird - sondern auch SchülerVZ.
Um die wirklichen Größenverhältnisse der Social Networks in Deutschland festzustellen, nutze ich den doubleclick ad planner.
Grund: In Statistiken, die auf der IVW beruhen, sind nicht nur die VZs (also Studi-, Schüler- und Mein-VZ) nicht vernünftig ausgewiesen (sondern nur völlig unbrauchbar für Kommunikationsagenturen gemeinsam als "VZ Netzwerke") - sondern Facebook gar nicht. Der ad planner hat seine eigenen Probleme, aber für die Entwicklung von Monat zu Monat und für den Vergleich der Seiten untereinander ist er brauchbar, denn die Fehler und Schwächen gelten ja für alle Seiten, die er ausweist.
Und der zeigt für den Mai dramatische Entwicklungen:
  • StudiVZ ist inzwischen sogar hinter Xing (!!) zurück gefallen und erreichte nur noch 2,4 Mio Visits.
  • SchülerVZ verliert erstmals seit langem im Mai dramatisch an Visits.
  • Allein von März bis Mai verliert SchülerVZ über 30% und StudiVZ noch einmal rund 25% bei den monatlichen Visits.
  • meinVZ ist inzwischen nach Visits das "größte" der VZ-Netzwerke.
  • Facebook ist inzwischen nach Visits zweimal größer als alle anderen Netzwerke in Deutschland zusammen.
  • Auch wenn die Vermarktung der VZs und die IVW und einige Mediaagenturen, die noch mit der VA 2010 (!) operieren, beispielsweise behaupten, SchülerVZ sei eine relevante Onlineplattform für Jugendliche, bin ich da inzwischen nicht mehr nur skeptisch. Und finde es zunehmend absurd, eine Kampagne für das zweite Halbjahr 2011 (um mal ein Beispiel zu nehmen) auf solchen Zahlen zu entscheiden, wenn aktuelle Zahlen nahelegen, dass die VZs weiterhin und radikal abzuschmieren scheinen.

    Aber heute früh ist dann etwas passiert, das noch viel deutlicher als alles andere bisher zeigt, dass auch SchülerVZ am Ende ist. Siehe den Screenshot einer Mail von SchülerVZ hier, die offenbar an alle Mitglieder geht, ebenso wie gestern nahezu gleichlautend (!) an StudiVZ und meinVZ - nur mit etwas anderen Bildern. André Vatter nannte das schon gestern Abend den Start des Ausverkaufs. Und er hat Recht. Und als Vater, dessen ältere Kinder eine kurze Zeitlang dort aktiv waren und noch immer einen toten Account dort haben, setze ich noch eines drauf: Wer so Kinder anspricht, bekommt von mir Hausverbot.

    Bisher konnte ich diejenigen Eltern verstehen, die sagten, dass sie SchülerVZ als im Vergleich zu Facebook geschütztere Umgebung bevorzugen für ihre Kinder. Communitymanagement und so, u know. Jugendschutz. Ethikstandards. Und nun?

    Wie groß muss die Verzweiflung der VZs sein, wenn sie alles über Bord werfen, was sie hätte retten können oder was ihnen hätte helfen können, sich in die Nische "Kinder unter 14" zurück zu ziehen - also in die Nische, in der sie eine theoretische Überlebenschance gehabt hätten (denn ab 14 ist SchülerVZ aufgrund seiner faktisch maximal nationalen Ausrichtung ohnehin irrelevant für alle Kinder, die auf eine weiterführende Schule mit Fremdsprachenangebot gehen, Austausche, Reisen und so).

    Dann geht halt sterben. OK. Aber hört wenigstens auf, unsere Kunden zu verwirren.

    5.3.11

    Digital Day Präsentation

    Ich finde ja die Wiesbaden-Tagungen sehr schön, durfte diese Woche auf den Horizont Digital Days reden. Und weil Ralf Schwartz einen dazu irgendwie passenden Dilbert ausgegraben hat, sei der noch vorangestellt. Die Pflichtapp für alle Social Media Berater.

    Dilbert.com

    Jedenfalls sind dieses hier die Folien, die ich gezeigt habe - was denkt ihr dazu?

    31.8.10

    Feuern Sie Ihren Social Media Berater / Fire Your Social Media Consultant

    Heute halte ich einen neuen Vortrag, der allerdings thematisch nicht so neu ist. Wer in der letzten Zeit den einen oder anderen Text von mir gesehen hat, weiß, dass ich dazu neige, mit der eigenen Zunft kritisch umzugehen. Oder mich abzusetzen. Wie man es nennen will. Jedenfalls spreche ich beim Social Media Summit 2010 über das Thema "Feuern Sie Ihren Social Media Berater". Meine zehn Thesen dazu (denen ich als nullte noch voranstelle, dass jeder gefeuert werden sollte, der Top-10-Check-Dingens-Listen schreibt) sind diese:
    (Unten auch die Folien dazu. Und falls ich mich an mein grobes Manuskript halten sollte, stelle ich das nachher auch noch hier rein. Update: Manuskript unten)
    1. Feuern Sie ihn, wenn er die gleiche Geschichte als seine erzählt, die Sie schon kennen.

      Fire him, if he tells all the old stories as if they were his own.
    2. Feuern Sie ihn, wenn er Sie nicht als erstes nach Ihrer Kommunikationsstrategie fragt.

      Fire him, if your communications strategy is not the first thing he wants to know.
    3. Feuern Sie ihn, wenn er meint, Sie müssten Ihr Business neu denken.

      Fire him, if he says you have to rethink your entire business.
    4. Feuern Sie ihn, wenn er sagt, Sie müssen auf jeden Fall auf Facebook sein.

      Fire him, if he says you must be on Facebook.
    5. Feuern Sie ihn, wenn er erst 2005 oder noch später angefangen hat zu bloggen.

      Fire him, if he started his blog in 2005 or later.
    6. Feuern Sie ihn, wenn er von Digital Natives redet.

      Fire him, if he talks about Digital Natives.
    7. Feuern Sie ihn, wenn er Ihnen mit Kryptonite oder Jack Wolfskin Angst machen will.

      Fire him, if he tries to frighten you with Kryptonite or Jack Wolfskin.
    8. Feuern Sie ihn, wenn er Jugend für ein Qualitätsmerkmal hält.

      Fire him, if he thinks youth is a quality.
    9. Feuern Sie ihn, wenn er bei Ihnen im Kapuzenpulli auftaucht.

      Fire him, if he shows up in a hoodie.
    10. Feuern Sie jeden, der sich Social Media Berater nennt.

      Fire every guy who calls himself a Social Media consultant.





    Der kanadische Kollege Alex Blom hat übrigens gerade einen ähnlichen Post geschrieben, den ich empfehle...

    Update 21.2.2011
    Das Video, das auf der Konferenz angefertigt wurde, kann ich nun auch einbinden, einfach mal der Vollständigkeit wegen, auch wenn es schon lange her ist. ok?