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31.8.16

Wir schaffen das

Heute vor einem Jahr sagte die Bundeskanzlerin diesen Satz. Ob intuitiv oder gedrechselt? Ist mir nicht wichtig. Es ist ein großer Satz. Einer, der bleibt. Einer, der wahr ist. Einer, der vielen Menschen in meinem Umfeld wichtig ist — von denen nur wenige verdächtig sind, Angela Merkel vorher gemocht zu haben.

Für mich ist dieser Satz im letzten Herbst und Winter wichtig gewesen, auch persönlich wichtig; und bleibt es weiterhin. Wir waren in unserem Stadtdorf am Hamburger Rand gerade dabei, die Zivilgesellschaft zu organisieren für die bis dahin größte Unterkunft für Vertriebene. Da elektrisierte uns dieser Satz. 

Vielleicht ist es ähnlich wie für einen guten Freund damals die Ruckrede (die mir so gar nichts sagte, im Gegenteil). Er saß mit Freundinnen im Keller und machte einen Plan, der wenig später aufging und tatsächlich disruptiv war, eine gesamte Branche komplett veränderte. Sie hatten die Ruckrede an der Wand hängen und lasen sie jeden Morgen. 

Die Ruckrede ist wohl das Einzige, was von Herzog bleiben wird. Vielleicht ist es am Ende auch nur das (heute sehr große) Startup, das sie damals wesentlich motivierte. 

Wir schaffen das 
wird das sein, was von Merkel bleibt. Was viele motivierte. Zum Guten. Und zum Bösen. Eine Art defining moment für sowohl die Zivilgesellschaft als auch die autoritär-identitäre Massenbewegung, die dieses Wochenende einen weiteren Höhepunkt feiern wird. 

Tatsächlich finde ich diesen Satz so wunderbar, weil er die entscheidende politische Frage wie unter einer Lupe deutlicher macht: 
  • Wollen wir halbwegs optimistisch und mit Vernunft und unserem Kopf streiten um den richtigen Weg in die Zukunft, wollen wir also eine Demokratie – und glauben wir, dass Demokratie ein Weg ist, eine (gute) Zukunft zu schaffen? 
  • Oder wollen wir uns auf unsere Gefühle verlassen, wenn es darum geht, die empfundene Wirklichkeit zu beschreiben, wollen wir also eine autoritäre Alternative zur Demokratie – und glauben wir, dass die Zukunft ohnehin nicht gut ist?
Wir schaffen das
ist ein Satz, der für Vernunft, Streit und Demokratie steht. Dafür bin ich ein Jahr nach diesem Satz immer noch dankbar. 

10.12.11

Der Spin von SchülerVZ rund um den Flop-Button

Ich bin wirklich sehr froh, dass SchülerVZ am Ende eingesehen hat, dass ihre Pausenhof-App gar nicht geht. Es ist mir noch nie passiert, dass ich (mit ein oder zwei Ausnahmen und - selbstverständlich - einigen Trollen, die ich überwiegend gelöscht habe dieses Mal) eine so einhellige Zustimmung zu meiner scharfen Interpretation einer Sache, die mich aufregt, bekommen habe. Besonders von Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zusammenleben, aber nicht nur. Wie ein Kollege es so unfein ausdrückte, war die Sachlage hier wohl einfach nur eindeutig: "Der Bauer erkennt seine Schweinchen am Gang."

Vielleicht ganz kurz ein zeitlicher Abriss der letzten zwei Tage:
  • Am 8.12.2011 um 13:06 Uhr habe ich den ersten Tweet zu dem Thema geschrieben, die Resonanz darauf war so groß, dass ich um 13:28 Uhr meinen zornigen Blogpost online gestellt habe. Weil ich mich mit Johnny Haeusler von Spreeblick ohnehin oft über Kinder und Internet unterhalte, habe ich ihn zeitgleich auf das Thema hingewiesen - sein Beitrag hat dann die Geschichte so richtig ins Rollen gebracht. Weit über 10.000 Menschen haben allein bei mir den Beitrag angeguckt, die Erwähnungen bei Twitter, Google+ und Facebook waren Legion.
  • Rund 26 Stunden später (am 9.12.2011 um 15:11 Uhr) hat SchülerVZ dann die Pressemitteilung veröffentlicht, die ich hier dokumentiere - und einen Exit angekündigt. Damit ist das Thema nicht erledigt, es wird noch mehr nachkommen, von Medien, Eltern, Aktivisten. Vor allem aber sieht man an der Dokumentation, dass es nicht wirklich befriedigend ist - und dass SchülerVZ mindestens an einer Stelle in der Mitteilung versucht, einen Spin (so nennen wir PR-Leute den Versuch einer Umdeutung an der Kante zur Wahrheit) auf die Geschichte zu legen, der sogar für einen Spin das, was man landläufig so "Wahrheit" nennen würde, extrem überdehnt.
Darum hier die Pressemitteilung, die Anleitung der Pausenhof-App vom Vortag und ein Screenshot von der Situation in der App gestern Abend. Da ich keinen SchülerVZ-Account mehr in der Familie habe, endet meine Dokumentationsmöglichkeit damit. Die Situation vor dem Eingeständnis von SchülerVZ hatte ich ja schon am 8.12. dokumentiert.



Meine Punkte zu diesen Dokumenten und zur Gesamtsituation sind diese:
  1. Es gab den Flop Button, siehe die Screenshots. Dass man die Flops nicht sah, war erst bei längerer Nutzung zu merken. Mir scheint, die, die das abwiegeln, haben die App nicht getestet. Dass Mobbing nicht möglich gewesen sei, wie SchülerVZ in seiner Pressemitteilung behauptet, ist nicht wahr. Ich konnte es, wenn ich wollte.
  2. Es wurden nicht etwa Profilbilder bewertet sondern Personen. Hier sagt SchülerVZ in seiner Pressemitteilung nicht die Wahrheit. Sie schreiben, es gebe die "Möglichkeit, über Profilbilder von anderen schülerVZ-Mitgliedern ... abzustimmen". Unter 'VI. Top oder Flop' schreibt SchülerVZ jedoch in der Erklärung des Pausenhof-App, es sei möglich, "verschiedene Profile ansehen und diese per 'Daumen hoch' oder 'Daumen runter' bewerten." Könnt ihr oben nachlesen.
  3. SchülerVZ killt den Flop-Button, was ich gut finde. Die PM dazu ist das übliche PR-Geschwurbel, das wissen wir hier alle, kein Grund zur Aufregung. Dass sie durch konkludentes Verhalten anerkennen, dass sie falsch lagen, reicht mir grundsätzlich. Allerdings wünsche ich mir, dass sie zugeben, dass die Aufforderung an Kinder, andere Kinder als Flop zu bezeichnen, ein Überschreiten der Grenze ist. Ein Modell zur Rettung einer untergehenden Plattform (weil sie am Nutzermarkt nicht mehr nachgefragt wird) darauf aufzubauen, dass Kinder nun mal grausam sein können und oft auch grausam sind, halte ich für zynisch und eklig. Und dabei bleibe ich.
  4. Die Tonalität der Pressemitteilung spiegelt die Gesamthaltung der VZ Netzwerke Ltd. wider, die mir seit langem von einer Weigerung geprägt zu sein scheint, die Realität wahrzunehmen. Aber das ist mir ehrlich gesagt egal.
  5. Dass sie auf Druck reagieren, und das recht schnell (rund 26h), ist gut. Ich kann ja nicht nur meckern. Dass sie so reagieren, wie sie reagieren, zeigt aber auch, dass sie offenbar anders zu der Frage stehen, ob man sexualisiert und auf die Grausamkeit von Kindern spekulierend werben sollte, als ich es tue.
  6. Unklar ist mir, wie der Pausenhof funktionieren soll, wenn die zentrale Funktion wegbricht. Etwa so wie auf dem Screenshot von gestern abend? Das könnte ja nun wirklich nicht der Ernst sein, SchülerVZ, oder? Den gesenkten Daumen durch einen Pfeil nach rechts ersetzen? Vielleicht ist es ein Schnellschuss, um etwas zu tun, dann ist es ok. Aber vielleicht lohnt es sich, das weiterzuverfolgen.
Danke für alle Unterstützer. Danke für eure Tweets, Artikel, Anfragen. Es lohnt sich, auf die Barrikaden zu gehen und nicht einfach hinzunehmen, wenn ein Unternehmen die Grenze überschreitet.

8.12.11

Es wird Zeit, zu gehen, SchülerVZ



Ich habe mich geirrt. Das Jahr geht zu Ende und die VZs gibt es noch. Formal zumindest. Das, was man an Insiderdingen hört, lässt zwar vermuten, dass ich mich nur um wenige Monate vertan habe mit der Prognose, dass sie dieses Jahr aufgeben oder ihr Geschäftsmodell ändern, aber...

HALT.

Geschäftsmodell ändern? Vielleicht hatte ich doch recht. Zumindest bei SchülerVZ. Das Bild oben ist aus einer Mail, die sie heute an ihre Mitglieder verschickt haben, zumindest an die Inaktiven (andere kenne ich nicht). Offenbar will SchülerVZ die mehr oder weniger offizielle Mobbingplattform an deutschen Schulen werden, also ungefähr das Gegenteil dessen, was ich ihnen als Ausweg empfohlen hätte (denn hey, für sehr junge Kinder könnte es - in Zusammenarbeit mit den Eltern - spannend sein, in einem Netzwerk mit deutschen Moderatoren und deutschem Datenschutz zu sein oder so, naja, Chance vertan).

Um es ganz klar zu sagen: Damit überschreitet SchülerVZ eine Grenze, die sie niemals hätten überschreiten dürfen. Hat von denen eigentlich irgendjemand Kontakt zu Jugendlichen? Also im richtigen Leben jetzt? Mobbing ist kein Kavaliersdelikt. Mobbing ist eine der schlimmsten Formen von Gewalt, die im Alltag deutscher Schulen vorkommt.

Heute abend, wenn sie zu Hause sind, werde ich mich mit meinen (jugendlichen) Söhnen hinsetzen und sie werden ihre (selbstverständlich ohnehin inaktiven) Accounts bei SchülerVZ löschen. So einen Dreck wie dieses Pausenhofmobbing mache ich nicht mit, nicht mal passiv. Und ich rufe hier und via Twitter und Facebook alle Eltern auf, es ebenso zu machen. Eure Kinder, die sich damals mal bei SchülerVZ angemeldet haben, bevor sie zu Facebook gewechselt sind, wurden auf ein Portal umgezogen, das damit wirbt, dass man da super einfach und spaßig mobben kann. Das ist eklig. Fast noch ekliger als diese eklige Mediamarktwerbung mit diesem Konsumbaumdingens.

SchülerVZ, es wird Zeit für dich, zu gehen. Nicht, damit ich recht behalte. Sondern weil deine Zeit abgelaufen ist. Weil du in deiner Verzweiflung offenbar nur noch in die unterste Schublade greifen kannst. Im Sommer, mit deinen Porno-Chic-Mails an die Schülerinnen (weißt du noch, dieses Ding mit den Bildern, auf denen die jungen Leute fast nix anhatten), da dachte ich, es geht nicht mehr schlechter und weiter nach unten. Ich hatte mich schon wieder geirrt.

SchülerVZ, das Maß ist nun voll, das Fass ist nun übergelaufen. Ich bin beileibe kein Fanboy von Facebook und finde, dass die Kosten (Daten, Sicherheit, Cookies) dort langsam anfangen, den Nutzen nicht mehr aufzuwiegen. Aber mit dir, SchülerVZ, will ich nichts mehr zu tun haben. Nicht mal passiv. Und ich verbiete meinen Kindern, bei dir Mitglied zu sein. Da bin ich ganz altmodisch und autoritär. Stirb allein. Lass Menschen mit Hirn und Herz in Ruhe.

Edit 9.12.2011, 18.00 Uhr
Wir haben es geschafft: SchülerVZ killt den Flop-Button. Gut so.

Edit 10.12.2011, 10:00 Uhr
Alle neuen Punkte, meine Bewertung des Sieges der Pädagogik und der guten Sitten über SchülerVZ und eine Dokumentation der Pressemitteilung und der vorherigen Nutzungsbedingungen - siehe meinen zusammenfassenden aktuellen Post.

17.8.11

Und es ist doch wichtig, das mit Boetticher

Mein erster Reflex war: So what. Geht mich nichts an. Soll er doch eine 16-jährige Freundin haben.

Mein zweiter Reflex war: Die CDU ist gewohnt bigott - macht erst einen Ehebrecher zum Bundespräsidenten und schmeißt dann einen raus, der eine von der Normalität abweichende Beziehung führte.

Das hab ich auch gesagt, beispielsweise auf Twitter und so. Und bei aller persönlichen Sattelfestigkeit in moralischen Fragen rund um Beziehungen und Sexualität, die ich mir selbst bescheinigen würde, wäre die Tatsache, dass Boetticher das anders sieht, kein Grund, ihn abzulehnen. Ja, mir sind Schröder und Fischer mit ihrem nicht ausschließlich serienmonogamen Frauenverschleiß mehr als suspekt (und ich bin sogar davon überzeugt, dass ein großer Teil dessen, was ich weder politisch noch inhaltlich noch menschlich an ihnen ausstehen kann, mit ihrem skurrilen moralischen Kompass zusammen hängt). Aber ich trenne das irgendwie trotzdem.

Und dann dachte ich nach und las das eine oder andere (nein, nicht in Medien, da war nur abstrus von "Affäre" die Rede, was ich immer für eine Umschreibung von Bigamie hielt). Und hörte dies und das von Leuten, die in Schläfrig-Holstein besser vernetzt sind als ich, was mich erschaudern ließ. Und dann war ich erstmal still.

Aber dann las ich diesen abstrusen Beitrag von Richard Herzinger auf Welt Online, der von der üblichen betroffenheitsbesoffenen Clique weiter gereicht wurde, bis er auch bei mir ankam. Und da ist mir der Kragen geplatzt.

Denn trotz allem geht es hier nicht um Moral. Dachte ich auch erst, stimmt aber nicht. Es geht um Reife und um Persönlichkeit und um Haltung. Leider weiß ich nicht mehr, wer es war, der mich (auf Facebook) auf den Gedanken brachte, aber er stimmt. Ich habe ihn offline ausgetestet, er stimmt. Und darum schreibe ich ihn auf:

Ich habe jugendliche Söhne. Ich kenne 16-jährige Mädchen, weil die Jungs mit solchen rumhängen. Ich bin ungefähr so alt wie von Boetticher. Und ja, es kann passieren, dass da Mädchen sind, die flirten, sogar mit mir. Die sind 16, Hallo! Es wäre sogar denkbar, dass sie denken würden, sie wären in mich verliebt (ist mir nicht passiert, so weit ich weiß, aber das wäre rein theoretisch denkbar, wenn man mal von meinem Übergewicht absieht und davon, dass ich komisch bin).

Wie verquer müsste ich sein, wenn ich darin etwas anderes vermuten würde als jugendliche Experiementierlust und Schwärmerei?
Wie weit müssten mein Selbst- und mein Fremdbild auseinanderklaffen? Wie verantwortungslos müsste ich sein? Wie bekloppt sind die, die behaupten, ein Mann in meinem Alter und ein Mädchen im Alter meiner Kinder würden eine gleichberechtigte, symmetrische Beziehung führen können (denn das wäre sie, wenn es Liebe ist, Liebe geht nicht asymmetrisch)?

Meine Frage an von Boetticher ist keine moralische. Es ist eine nach seiner Reife. Und seiner Eignung zu einer Führungsaufgabe. Darum geht die Parallele mit Müntefering oder Kohl oder Seehofer oder sogar Wulff auch fehl. Ja, der eine oder andere mag viel älter sein oder moralisch viel verkommener. Aber außer Ole von Beust ist mir kein Fall bekannt (was nicht viel heißen soll), in der eine derart asymmetrische sexuelle Beziehung öffentlich wurde.

Und asymmetrisch meint hier: Der Erwachsene muss in einer Beziehung zu einem Kind oder Jugendlichen (und zwar in jeder Beziehung, ob wie hier in einer sexuellen oder unter normalen Umständen in einer lehrenden, erziehenden, arbeitenden) immer mehr Verantwortung für die Beziehung übernehmen als das Kind oder die Jugendliche. Selbst in einer auf Partnerschaftlichkeit angelegten Beziehung übernehme ich als (im Idealfall reiferer) Erwachsener ein Mehr an Verantwortung. Alles andere wäre unreif und schädlich.

Und darum bin ich nach einer knappen Woche nun doch der Meinung, dass es mehr als richtig ist, dass von Boetticher keine Führungsaufgabe mehr übernimmt. Weil sein Verhalten uns zeigt, dass er unreif ist, keine Verantwortung übernimmt, sich nicht von außen betrachten kann. Alles Eigenschaften, die mir persönlich wichtig sind bei einem, der das Amt anstrebt, das er anstrebte. Bei aller Leichtigkeit des Seins ist ein bisschen Ernsthaftigkeit nie schädlich. Und ein Kompass auch.

Sonst wird es so wie bei Schröder, Fischer oder von Beust. Das aber wäre eine andere Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden könnte...

3.5.11

persönliche Anmerkungen zu den Reaktionen auf bin Ladens Exekution

I. Vor Jahren fragte ich Freunde in New York, ob bin Laden noch wichtig sei. Es muss so 2007 oder 2008 gewesen sein. Mich hat die Reaktion überrascht, die - unabhängig von der politischen und religiösen Haltung der Freunde - sehr massiv und emotional war. Einige Menschen, die mir wirklich wichtig sind, haben seit September 2001 sehr regelmäßige Alpträume und sind nie wieder voll in den vor-9/11-Trott ihres Lebens gekommen. Fast alle sagten, dass ihr Leben erst wieder "normal" wäre, wenn bin Laden tot sei. Und das war lange nach 2001.

Auch wenn die meisten von uns hier noch wissen, wo sie am 11.9.01 waren und wie sie das zweite Flugzeug live haben in das WTC fliegen sehen, ist mir damals bewusst geworden, dass ich nie werde nachfühlen können, was dieser Tag bei denen ausgelöst hat, die ihn unmittelbar erlebt haben. Ich habe Freunde, die einen Zusammenbruch hatten damals, andere, deren Weltbild und Haltung sich verändert hat. Sehr beeindruckend war für mich immer, wie mein früherer Boss Richard Edelman von 9/11 erzählt hat und wie er beispielsweise dennoch seine Haltung zu Rache und Gewalt nicht änderte.

***

II. Mir persönlich ist der Freudenausbruch fremd, der sich in den USA ereignet hat. Aber ich kann ihn nicht verurteilen, finde das auch wohlfeil. Dass sich die USA als im Krieg mit "dem Terror" befindend sehen, kann ich nicht nachvollziehen, finde das auch falsch, auch wenn mich nachdenklich macht, dass dieses bis hinein in liberale und linke Kreise nicht groß in Frage gestellt wird. In der Diskussion mit rechten Amerikanern über die Exekution bin Ladens bin ich immer wieder an den Punkt gelangt, dass es tatsächlich darauf ankommt, ob man das, was da passiert, unter "Krieg" fasst oder nicht.

Und der Frage ist nicht einfach mit plumper antiamerikanischer Rhetorik beizukommen.

***

III. Grotesk und pervers finde ich die Reaktionen aus Europa, vor allem aus Deutschland. Nun gehöre ich nicht zu denen, die Angela Merkel viel zutrauen, aber der Satz
Ich bin heute erst einmal hier, um zu sagen: Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten.
zitiert aus der Mitschrift unter Bundesregierung.de ist so abgrundtief zynisch, dass es weh tut. Ähnlich die Einlassungen des Außenministers und der SPD, von meiner eigenen Partei (Grüne) habe ich nichts gefunden zu dem Thema. Allein die Kirchen, allen voran der Vatikan, haben die richtige Perspektive gewählt, wenn der Sprecher des Papstes erklärt
Der Tod eines Menschen ist für einen Christen niemals Grund zur Freude. Das gelte auch für den Tod von Osama Bin Laden.
zitiert nach Radio Vatikan. Ich mag mich streiten und bin mit vielen meiner Freunde auch nicht einer Meinung, was die Bewertung der Exekution angeht und die Freude, die sie in den USA ausgelöst hat - aber Kanzlern, Regierung und SPD überschreiten eine Grenze, die sie niemals überschreiten dürften.

***

IV. Als Berufskommunikator finde ich es wieder einmal mehr als faszinierend, wie die Obama-Regierung sich inszeniert. Vor allem in der Bildsprache, wieder einmal vor allem auf flickr. Großartig.

9.5.08

Tabus sind der Kitt der Gesellschaft

Es ist nicht sehr populär, Tabus in Ordnung zu finden. Tue ich aber trotzdem. Ich finde gerade nicht wieder, wo ich dazu mit Christiane vor einiger Zeit disutiert habe, ich bilde mir ein, das ist nicht lange her, naja.

Aber mir ist es immer wichtig gewesen, dass Tabus mehr als moralische Übereinkünfte oder moralische Stricke sind oder so. Tabus sind die Leitplanken, innerhalb derer ethisches Handeln auch für Nichtexperten und Nichtphilosophen verhandelbar ist, mal etwas sehr verkürzt gesagt.

Heute früh hörte ich einen beachtlichen Artikel von Susanne Gaschke aus der aktuellen Zeit (ich hab ja ab Freitags spätestens das aktuelle Zeit-Audiomagazin auf dem iPod), gerade hab ich gesehen, dass er es - zu Recht - auf Seite eins geschafft hat. Als sie auf die Funktion des Tabus zu sprechen kommt, wurde ichs ehr hellhörig, auch wenn mir der Zusammenhang und die Herleitung nicht so voll zusagt. In ihrem Beitrag über Amstetten schreibt sie:
Auf bestürzende Weise wird uns hier plötzlich klar, in welchem Maße Tabus der Kitt eines friedlichen Zusammenlebens sind, wie zentral – im Sinne des großen deutschen Soziologen Norbert Elias – die Verinnerlichung von »Fremdzwang« zu »Selbstzwang« für den Prozess der Zivilisation ist. Und wie unverzichtbar die Übereinkunft, dass »man« bestimmte Dinge niemals tut – eben Kinder zu vergewaltigen.
Beim entsetzlichen Extremfall sind sich schnell alle einig. Aber sonst zeichnen sich moderne westliche Gesellschaften eher durch eine souveräne Verachtung für Tabus aus. Inzest, wenigstens zwischen Geschwistern – warum nicht, wenn beide es wollen? Der Tod als öffentliches Spektakel – warum nicht, wenn der Aktionskünstler Gregor Schneider einen willigen Todkranken für seine Installation findet? Sex immer früher, Gewalt als übliche Zutat der Unterhaltungskultur, die Absage an jeglichen Bedürfnisaufschub – warum nicht, wenn die Leute, die Kunden es so wollen?
Der liberale Großtrend zur Tabuverachtung muss keineswegs zu den Untaten von Amstetten geführt haben. Solche Kausalitäten lassen sich sowieso niemals nachweisen. Die Leistung aller tapferen Tabubrecher sieht im Lichte dieser Untaten allerdings etwas weniger heilsam und fortschrittlich aus.

Inzest-Fall: An wieviel Horror haben wir uns bereits gewöhnt? | Nachrichten auf ZEIT online
Es ist leicht, im Sinne einer scheinbaren Liberalität Tabus als überkommene moralischer Regeln zu diffamieren, die wer auch immer uns aufdrücken will. Viel schwerer ist es, Regeln für alle verstandesmäßig zu begründen.

Tabus sind, so denke ich, tief in der Geschichte einer Gesellschaft verwurzelt, viele haben sich - wie beispielsweise die Unberührbarkeit von Kindern, die im Mittelalter noch nicht galt - erst langsam entwickelt. Tabus existieren, das fasziniert mich, jenseits unserer Rechtsnormen, auch weitgehend jenseits religiöser Normen. Wenn sie brechen, stimmt etwas Grundsätzliches nicht. Zunächst mit dem, der sie nicht kennt - aber auch mit denen, die sie aufgeben wollen.

Es muss nicht gleich das Tabu sein, Kinder oder Verwandte in die eigene Sexualität einzubeziehen. Schon das Tabu, jemanden, der am Boden liegt, weiter zu schlagen (um mal ein ganz einfacher, eigentlich "selbstverständliches" zu nehmen), wird ja von immer mehr Menschen nicht mehr gelebt.

Ich habe Angst vor einer Gesellschaft, in der es keine Tabus gibt.