23.11.20

Pastorale

 

Noten, Pastorale
Schon im Studium war "pastoral" latent ein Schimpfwort. Sozusagen das, was wir unbedingt zu vermeiden suchen würden, wenn wir denn predigen. Was in gewisser Weise schräg war, denn der Beruf, den wir damals fast alle anstrebten, nannte sich "Pastorin". Heute heißt er auch in meiner Kirche "Pfarrerin". Pastorin kommt aus dem Lateinischen und meint Hirtin. Was ja wiederum etwas mit dem Beruf zu tun hat. Und in dem Sinne wäre pastoral eigentlich auch ganz ok, denn dann meinte es ja so was wie fürsorglich, aufpassend, achtsam und so. 

Aber wenn wir reden, dann ist pastoral nicht gut. Meistens meint meine Blase damit etwas, das ich als leicht gesungen, überakzentuiert, fast etwas affektiert in der selbstreferenziellen Emotionalität bezeichnen würde. Im Grunde wisst ihr wahrscheinlich, was ich meine.

Als ich in einige Reden auf dem digitalen Parteitag meiner Partei (der Grünen) reinhörte, fiel mir auf, dass ich – selbst wenn ich die Inhalte gut fand und den Rednerinnen normalerweise gerne zuhöre – viele Reden als pastoral empfand. Das hat mich gewundert. Ich weiß, dass viele, anders als ich, mit dem gefühligen, unscharfen Ton von Robert Habeck beispielsweise nicht viel anfangen können. Ich dagegen schon. Emotional und intellektuell spricht er mich auf eine Weise an, wie es bis dahin nur Björn Engholm damals vermochte, der interessanterweise einen ähnlichen Tonfall hatte. Aber auf dem Parteitag war es ja nicht nur er, der so sprach.

Merkwürdigerweise war selbst Annalena Baerbock, die sonst einen ganz anderen, zupackenden Ton hat, ähnlich. Zuerst hatte ich den Verdacht, dass sie die gleiche Sprechtrainerin hatten, die sie auf den Parteitag vorbereitete. Kann auch gut sein – erklärt es aber nicht. Und erklärt vor allem nicht, wieso sie beide so pastoral klingen.

Predigen ohne Publikum

Mein Verdacht ist, dass es eher daran liegt, dass sie quasi ohne Publikum sprechen. Denn das wäre das, was sie mit Predigten gemeinsam haben. Die Reden auf einem digitalen Parteitag sind so wie Predigten in der Kirche – wo Predigerinnen im Grunde in einen (quasi) leeren Raum reden. 

Vor allem aber: ohne irgendeine sichtbare Reaktion, kein Jubel, kein Klatschen, kein sichtbares Mitgehen. In den Kirchen, in denen ich zu Hause bin, wird Predigten gelauscht. Punkt. Und vielleicht beim Rausgehen noch ein lobendes Wort hinterlassen. Wenn es hoch kommt, gucken wir interessiert hoch auf die Kanzel. Oder lächeln mal ganz schwach. Aber eigentlich zeigen wir keine Reaktion. Wie bei einer Rede in einem Webinar oder einer virtuellen Konferenz.

Ich habe mich schon oft gefragt, wieso Predigten meistens so anders, so viel künstlicher in ihrer Emotionalität und Intensität sind als "normale" Reden. Es ist mir vorher nie in den Sinn gekommen, aber ich glaube inzwischen wirklich, es liegt am Publikum. Oder eben daran, dass es still ist oder fehlt.

Selbst merke ich es ja auch. Ich denke, dass ich als Redner ganz ok bin, zumindest oft, zumindest bekomme ich hin und wieder dieses Feedback. Und ich merke, dass mir das Reden ohne (sichtbares, reagierendes, körperlich spürbares) Publikum schwerer fällt. Dass es mich verunsichert und ich dazu neige, mehr abzulesen und – ja tatsächlich wie beim pastoralen Stil – dazu neige, überzuakzentuieren. Wenn das ein Wort ist, das als benutzbar gelten kann. Ihr wisst, was ich meine.

Menschen, die wie Annalena und Robert oft wirklich gute Rednerinnen sind, und bei denen ich merke, dass sie mit dem Publikum in eine Beziehung treten, werden etwas blutleer, wenn sie in den leeren Raum sprechen. Und sehen aus, als ob die den Teleprompter nutzen, also ihre Rede ablesen – wo sie sonst oft stundenlang frei reden (können). Sie werden pastoral.

Lustigerweise habe ich durch den digitalen Parteitag der Grünen mehr über das Predigen gelernt als über digitale Parteitage. Oder, wie ein geschätzter Kollege und Mit-Christ antwortete, als ich diesen Gedanken teilte: Ich glaube, ich werde in Gottesdiensten künftig mehr klatschen.

19.8.20

Home (ins) Office?

In den vergangenen Wochen habe ich mit vielen Menschen über die Erfahrungen der letzten Monate gesprochen und darüber, was wir daraus gelernt haben. Was gut ging, was nicht so gut ging. Was erfolgreich war – und woran wir jeweils gescheitert sind. Die Gespräche waren mit sehr unterschiedlichen Menschen: Coaches, Geschäftsführerinnen andere Agenturen, Geschäftsführerinnen von "Bürounternehmen" und solchen von Unternehmen mit Werkstätten, Redakteurinnen, Freelancerinnen, Lehrerinnen. Nur mal beispielsweise. Die meisten waren in Europa, einige in Nordamerika, wenige in Asien. Zugleich habe ich über meinen Ansatz für Führung ("Freiheitsdressur"/Führen und Folgen in Freiheit) nachgedacht und ob und wie er sich in der Pandemie verändert hat. Gerade auch, weil bei mir ja ein beruflicher Wechsel anstand von der geschäftsführenden Gesamtverantwortung in eine internationale Führungsrolle, die eher über Vorbild als über Macht funktioniert. Und dann las ich den Text des von mir sehr geschätzten Thomas Knüwer, der weissagt, dass der Run aufs Home Office als "Nächstes Normal" der nächste modische Managementfehler sei. Vorab: Ich stimme ihm überwiegend nicht zu. Jedenfalls nicht so.

Wie viele andere habe ich zusammen mit meinem Führungsteam im März entschieden, dass die gesamte Firma ins "Remote Working" geht, wir waren eher früh dran und haben auch keinen Probelauf gemacht. Und wie sehr viele andere haben wir festgestellt, dass das Arbeiten funktioniert. Es entstand eine Art Anfangseuphorie mit sehr vielen Experimenten, wie wir, wie die "Tischgemeinschaften" in der neuen, zerstreuten Situation ihr gewohntes Umfeld nachbauen können. Die ersten Wochen habe auch ich fast ununterbrochen in Videogesprächen verbracht. Irgendwann kam dann die neue Idee, Telefongespräche zu führen und mich dabei zu bewegen, dazu.

Mir geht es bei diesem Text allerdings nicht um die eigenen Erfahrungen – sondern um die Frage, die ich mit vielen gerade diskutiere und die auch Thomas anspricht: Ist das, was wir aus guten Gründen und mit viel Phantasie und Anstrengung für die Pandemie geschaffen haben, ein Zukunftsmodell? Wird Arbeiten, zumindest für uns Büro-/Computer-/Telefon-/Meetings-Arbeitende so auf Dauer sein? Was macht das mit uns, mit unserer Art, wie wir miteinander umgehen? Was macht das mit Führung?

Kasa Fue / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

Denn ich beobachte mit einer gewissen Faszination, wie unterschiedlich in den letzten Wochen die langsame und kontrollierte Öffnung der Büros war. Also nicht die Konzepte, die waren fast überall sehr ähnlich. Sondern wie unterschiedlich und auf den ersten Blick zufällig die Reaktion der Mitarbeitenden darauf war. Einige Kolleginnen erzählen, dass quasi niemand zurück gekommen ist. Auf einer Fläche, wo vorher dreißig bis achtzig Leute arbeiteten, sind jetzt meistens zwei oder drei (obwohl inzwischen bis zu 50% da sein dürften). Andere berichten, dass sie Schichtdienste einführen mussten, weil fast alle das Bedürfnis hatten, zurück zu kommen. Und wieder andere, dass es in der gleichen Firma von Stadt zu Stadt, von Büro zu Büro unterschiedlich sei. Das einzige Muster, das zu erkennen ist, hängt mit der Wohn- und Lebenssituation zusammen. Und teilweise mit dem Alter, wobei das ja oft zusammenhängt. Mein Eindruck ist allerdings – anders als Thomas vermutet –, dass es nicht etwa die Millenials sind, die als erstes zurück wollten, sondern oft die Jüngeren und die etwas Älteren. Aber das ist eher anekdotisch als gemessen.

Es gibt ein paar Dinge, die ich erstaunlich finde und die ungewöhnlich unproblematisch sind aus meiner Sicht. Zum Einen sind auch lange und intensive Meetings – sei es für Managemententscheidungen oder für die Entwicklung von Ideen und Programmen – in verteiltem Arbeiten problemlos möglich. Gerade die, die sonst eher stiller sind und Meetings nicht so stark dominieren, kommen, so habe ich den Eindruck, besser zu Wort und haben einen größeren Anteil. Zum Anderen berichten mir viele (und ist es auch meine Erfahrung), dass die Integration von Neuen und das Einarbeiten und Ins-Team-Finden zwar anders aber nicht schlechter oder schwieriger ist. Und zum Dritten ist der Informationsfluss eher größer als kleiner, weil eben doch recht viel schriftlich passiert oder aufgezeichnet wird (bei großen Videokonferenzen), also sehr viel asynchronerer Austausch passiert, was logischerweise besser ist, wenn das Ziel ist, dass möglichst viele möglichst viel wissen.

Aber ich sehe auch vor allem zwei Dinge, die wir lösen müssen, wenn es in das "Nächste Normal" geht - und die sich nicht einfach durch "Nachbauen" dessen, was wir vorher kannten, erreichen lassen:

Anreize, zusammen zu kommen

Noch geht es darum, den "Sog" in die Büros zu verhindern. Also bis zum vorläufigen Ende der Pandemie (oder bis zu einer Situation, die wir zum nächsten Normal erklären) Wege zu finden, die es aus Sicht der Mitarbeitenden nicht "nötig" machen, regelmäßig im Büro zu sein. Das läuft ganz gut an.

Aber was machen wir, wenn die Mitarbeitenden nicht mehr kommen wollen? Wenn sie den Eindruck haben, es ginge auch gut so (und sie ja auch Recht haben damit)? Wenn wir aber hin und wieder Orte brauchen, an denen wir uns auch riechen und anfassen und in Bewegung sehen. Ich nehme an, dass wir dazu kommen werden, insbesondere interne Weiterbildung anders zu verstehen und mit Aktivitäten an einem Ort zu verbinden. Im "Büro" zusammen zu kommen (oder wo auch immer), wird, denke ich, anders sein müssen als einfach nur das zu arbeiten, was wir auch gut oder besser woanders machen können. Denn mal ehrlich: für das, was ich überwiegend allein mache, gibt es objektiv keinen Grund, ins Büro zu kommen.

Was ist die nächste Iteration der Luxusverpflegung der großen Tech-Firmen oder des Frühstücks der Agenturen, beides ja eingeführt, damit die Menschen (pünktlich) ins Büro kommen? Ich rechne nicht damit, dass uns zwei Mal im Jahr die große Alle-Hände-an-Deck-Firmen-Versammlung reicht oder die zwei Feste, so es die noch gibt in der angespannten wirtschaftlichen Situation vieler Firmen in der immer länger währenden Pandemie. Wie müssen Büros sein und was muss da passieren, damit Mitarbeitende da hin kommen?

Wo kommen wir zusammen, um uns von anderen Seiten zu erleben als von vorne im Video? Mir geht es nicht um Freundschaften oder Gemeinschaft – die sind für die eine oder andere auch wichtig, aber das zu schaffen oder dafür Räume zu haben, ist meines Erachtens nicht Aufgabe eines Unternehmens. Zu wissen, dass wir in die gleiche Richtung laufen, und uns zu vergewissern, dass die anderen, die da mitlaufen, auch ok sind und uns nichts Böses wollen – das ist allerdings Aufgabe eines Unternehmens. Ich denke, dass eine Grundhaltung hermeneutischen Wohlwollens heute notwendig ist für einen Unternehmenserfolg (oder zumindest für einen längerfristigen Erfolg). Und die ersten Anzeichen sind da, dass ein fast nur virtuell geführtes und arbeitendes Team eher anfälliger für politisches Handeln ist und für (negative) Eigendynamiken in neuen und kaum noch sichtbaren informellen Systemen.

Management by walking around

Das informelle System zu lesen und bespielen zu können, ist nach meiner Erfahrung und Überzeugung eine Schlüsselqualifikation heutiger Führung. Auch wenn sie nicht so radikal verstanden wird, wie ich es tue mit meiner Idee "Freiheitsdressur" (dazu später mal mehr), ist zeitgemäße Führung ohne "walking around" nicht denkbar. Ja, das wird oft belacht. Aber eine Führung, die sensibel für das ist, was an Dynamik im Team oder unter den Menschen, die da arbeiten, passiert, die also das informelle System erkennt, kann sehr viel besser mit Delegation und mit "weichen" Parametern arbeiten als eine, die im Einzelbüro sitzt und sehr beschäftigt ist. Mal etwas holzschnittartig formuliert.

Ich kann zumindest für mich sagen, dass ich bisher keinen Weg gefunden habe, das informelle System unter den Bedingungen des Remote Working in gleicher, sicherer Weise zu lesen. Die Kleinigkeiten wahrzunehmen und daraus ein Bild zu formen. Führung aber ist in den meisten Fällen darauf angewiesen, sich dieses Bild zu formen, weil sie ganz selbstverständlich nicht automatisch in Gespräche einbezogen wird. Platt gesagt: es erzählt einem nun mal niemand was. 

Darum denke ich, dass Thomas zwar irrt mit seiner Einschätzung, dass Remote Working, dass Home Office beispielsweise Karrieren in größeren Unternehmen erschwert (anders macht, klar, aber nicht erschwert). Und dass seine relativ pauschale Kritik an der aktuellen Sau, die durchs Dorf getrieben wird, auch am Kernproblem vorbei geht. Aber: ja, ich stimme da zu, wo er die Einschätzung hat (oder haben sollte), dass dieses Nächste Normal mit mehr Arbeit außerhalb von Büros nicht mit den Führungsmethoden der Zeit vorher zu bewältigen ist. Ich bin nur wahrscheinlich optimistischer, dass wir es schaffen können, vor allem auf die zwei Fragen oben Antworten zu finden. Wenn wir sehen, dass sie offene Fragen sind (und hier bin ich dann wieder bei ihm im latenten Pessimismus, denn dazu müssen wir ja so ehrlich zu uns selbst sein, zu sehen, wo die Fragen offen bleiben und auch was wir gerade nicht können oder wo wir gerade scheitern).

Lernen von Handwerk und Gewerbe

Und darum noch ein anderer Aspekt angerissen, der oft zu kurz kommt. Ja, wir reden hier (und die meisten mit denen ich rede) sehr von Büro-/Computer-/Telefon-/Meeting-Arbeit. Das ist nur ein Teil der Arbeit in diesem Land und überall. Von Lehrerinnen höre ich, wie schwer bei ihnen beispielsweise dieses Remote Working umzusetzen war. In Fabriken und Werkstätten werde ich weiterhin überwiegend zusammen kommen, wenn ich arbeite, im Einzelhandel, im Krankenhaus oder in ärztlichen Praxen.

Aber: es gibt auch schon heute und gab vor der Pandemie viele Bereiche, in denen Remote Working normal war. Und die wir Büro-Leute nicht gesehen haben. Handwerk beispielsweise. Wo die Mitarbeitenden allein oder zu zweit unterwegs sind, oft nicht einmal morgens in die Firma kommen sondern direkt mit dem Werkstattwagen von zu Hause starten und dort auch wieder enden. Mit den gleichen Herausforderungen, die wir auf einmal auch haben. Vertrieb, ebenso (und vielleicht auch ein Grund für die Skandale in Vertriebsorganisationen in den letzten Jahren, wenn sie die Antworten auf die Fragen oben übertrieben). So was aber anzusehen und davon zu lernen, wird sich lohnen. Vielleicht sind einige von diesen Berufen und Unternehmen ja viel weiter als wir dachten.

10.8.20

Da sein

Wenn ein Leben sich dem Ende zuneigt, geht es nicht darum, sich zu verabschieden. Das dachte ich irgendwie immer, aber das stimmt nicht. In der einen Woche, die meine Großmutter zum Sterben gebraucht hat, ging es viel mehr darum, da zu sein. Für sie da zu sein. Ihr Hand zu halten. Ihr in ihrer Angst und beim Loslassen Sicherheit und Ruhe zu geben.

Als meine Mutter vor zwölf Jahren starb, war es Nacht, sie ist nicht mehr aufgewacht und war vorher viele Jahre lang nicht mehr da. Zwei Jahr vor ihrem Tod schrieb ich was darüber. Als mein Großvater vor eineinhalb Jahr starb, habe ich ihn ins Krankenhaus begleitet und mit ihm gemeinsam die Entscheidung getroffen, dass er die Operation wagt, die er nicht überstanden hat. So dass er im Grunde starb, wie er lebte – abrupt, im Wissen, dass er sterben will und wird, allein.

Und so war es für mich und auch für die Meinen das erste Mal, dass wir jemanden intensiv in den Tod begleitet haben. 


Das war eine harte Woche, vor allem emotional, aber eine, die für sie und für uns wichtig war. Und ich bin dankbar, dass wir es gemacht haben und uns nicht einfach nur verabschiedeten. Wir haben sie ja auch die letzten Jahre, die sie nicht mehr selbstständig leben konnte, begleitet. Vor Corona zwei- bis dreimal wöchentlich, oft auch so, dass wir sie zu uns geholt haben, dass sie ein bisschen am Leben teilhaben konnte. Glücklicherweise in den letzten Wochen wieder ein bisschen, einmal war sie sogar noch wieder bei uns zu Hause.

Da sein. Am Ende war es vor allem das. Mit ihr singen und beten und ihr versichern, dass hier alles abgeschlossen ist und wir sie gehen lassen. Ihr helfen, den Ausgang zu finden. Sie erinnern, dass sie auf ihre Tochter und ihren Mann nicht hier warten muss und kann – sondern dass sie auf sie warten, drüben.

Meine Großmutter. Die immer selbstbestimmt sterben wollte, die in den 70ern und 80ern klare Vorstellungen davon hatte, wie sie ihrem Leben zur Not selbst ein Ende setzen könnte. Und die am Ende nicht loslassen konnte. Die noch nicht sterben wollte, als klar war, dass ihr Körper und ihr Geist nicht mehr können. Aber doch Gott vertraute, dass er sie holen werde, wenn es sein soll.

Da sein war wichtig in dieser Zeit, das war deutlich zu spüren. Und das war Lohn genug, wenn es denn welchen braucht. Und dass sie sich Zeit gelassen hat, hat den anderen ermöglicht, sich von ihr zu verabschieden. 

Und als der letzte Urenkel, der die Woche über außerhalb arbeiten musste, schließlich da gewesen war, konnte sie gehen. Und hat es auch sofort gemacht. Sie hatte auf ihn gewartet, der eine Zeit lang bei den Urgroßeltern gewohnt und sich um sie gekümmert hatte, bevor sie ins betreute Wohnen gehen konnten und mochten. 

Eine intensive Woche. Mitzuerleben, wie sie wartete, wie das Leben weniger wurde, mühsam. Wie ihre herzensgute Fröhlichkeit immer weniger zu sehen war, auch wenn fast bis zum Schluss noch etwas durchschien. Danke, liebe Großi, dass du mehr als 50 Jahre für mich da warst. Danke, dass du alle Irrungen und Wirrungen unserer Leben immer mit Liebe und Bestätigung begleitet hast. Bis zum letzten Tag fragtest du, ob es allen gut geht, ob wir glücklich sind. Und ja, wir sind es. Wir sind traurig, dass du tot bist. Aber wir sind glücklich, dass wir dich auf diesem Weg begleiten durften. Und werden da sein, wenn du später in dieser Woche deine allerletzte Reise antrittst, die dich zurück an die Seite deines Mannes führt, mit dem du weit über 70 Jahre jeden Abend Hand in Hand eingeschlafen bist.

Und ich bin unendlich dankbar, dass ich eine so wundervolle Frau an meiner Seite habe, die diesen Weg mit mir gegangen ist. Und Kinder, die ihn mitgegangen sind. Wie bin ich gesegnet. Du hast das gewusst und es mir jedes Mal gesagt, wenn wir uns sahen.

10.6.20

Alerta

Ich lebe am Rande einer Kleinstadt. Diese Kleinstadt ist sehr lebenswert und interessanterweise sehr divers. Sie hat eine der letzten größeren Militär-Kasernen und eine Polizei-Kaserne. Sie hat mehrere Wohnanlagen für Alte. Etliche Schulen jeder Geschmacksrichtung für eine ganze Region. Etliche lokale Handwerksbetriebe und Geschäfte haben sich zu einer "Faire-Welt"-Initiative zusammen geschlossen. 14- und 15-jährige Mädchen organisieren eine der großen Fridays-for-Future-Gruppen in der Region. Ein Volksentscheid gegen ein Inklusionshotel in bester Lage ist sang- und klanglos gescheitert.

Das alles ist noch nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der Nazi-Aufkleber an Laternenpfählen überhand nahmen. In der sich Nazis im Straßenbild breit machten. In dieser Zeit lebte ich nicht hier, ich war nie in dieser Kleinstadt. Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Und aus anderen Gegenden. Mitte der 80er war ich kurze Zeit Antifa-Koordinator im letzten Juso-Kreisvorstand, den es in meinem Hamburger Bezirk gab.

***

Als vor ein paar Jahren die Rechten eine Kampagne gegen Antifaschistinnen fuhren und sich die meisten so genannten "Bürgerlichen" nicht schnell genug von ihnen distanzieren konnten – was sie ja bis heute machen –, ist einer Freundin, die damals schon in jener Kleinstadt lebte, der Kragen geplatzt.

Damals, erzählt sie, gab es ein paar junge Leute in der Stadt mit Lederjacken und bunten Haaren und Springerstiefeln. Die nannten sich Antifa. Und wenn sie und ihre Freundinnen, alle aktiv in der evangelischen Kirchengemeinde der Kleinstadt, loszogen, um unter merkwürdigen Blicken der meisten Einwohnerinnen die Nazi-Aufkleber von den Laternenpfählen abzupulen, waren diese jungen Leute die einzigen, die sich ihnen anschlossen. Und wenn sich auf der anderen Straßenseite ein paar von den Nazis aufbauten, die offen zum Straßenbild der Kleinstadt gehörten, dann waren diese jungen Leute da. Mal einfach nur so. Mal in Bewegung.

Sie war die jüngste der Frauen damals. Und keine der grauhaarigen Freundinnen ließ oder lässt etwas auf die Antifa kommen. Ohne Antifa, sagen sie, wäre diese Kleinstadt heute noch ein gefährliches Pflaster für sie, für Christinnen. Ohne Antifa hätten sich in den Jahren danach nicht die ersten Ladenbesitzerinnen zusammengeschlossen, um eine Initiative für Schutzräume und dann später für Fairen Handel zu bilden. Es waren (meist ältere) Frauen der evangelischen Kirche und die jungen Leute der Antifa, die die einzigen waren, die der beginnenden Dominanz der Nazis im Stadtbild etwas entgegensetzten.


***

Sich von "der Antifa" zu distanzieren, halte ich für dumm, unpolitisch und gefährlich. Und "man" muss es sich auch leisten können. Denn seit den 80ern gab und gibt es nicht viele andere, auf die sich verlassen kann, wer Nazis entgegentritt. Fast überall (im Westen) waren es damals Aktive aus Kirchengemeinden zusammen mit jungen Leuten, die keine Angst davor hatten, dass es vielleicht auch mal wichtig sein könnte, sich (körperlich) zu wehren. Und als 2015 in unserem Stadtteil am Rand von Hamburg die größte Unterkunft für Vertriebene eingerichtet wurde und die Nazis aus den Nachbarstadtteilen ankündigten, das nicht zuzulassen, waren es junge Leute mit Lederjacken und bunten Haaren, die die Nächte im Gewerbegebiet verbrachten. Und das evangelische Gemeindehaus bewachten, das das Basislager der Helferinnen war. Und sonst niemand.



***

Im ersten Kreisvorstand der Jungen Sozialdemokraten, der unseren letzten Juso-Kreisvorstand ablöste, gab es selbstverständlich keinen Koordinator für Antifa-Arbeit mehr. Ich weiß sehr genau, auf wen ich mich verlassen kann, wenn ich von Nazis bedroht werde. Und das ist ganz sicher niemand, der oder die sich von "der Antifa" abgrenzen zu müssen meint.




21.5.20

Why Bildung matters und Diversity rulez

Als jemand, der als Geschäftsführer eine kreative Agentur führt (disclosure zu diesem Text am Ende), gucke ich wahrscheinlich noch mal anders auf den offen und zutiefst rassistischen Werbeclip, den Volkswagen diese Woche auf Instagram ausgespielt hat. Nicht nur als politischer Mensch und Eine-Welt-Aktivist sondern auch als jemand, der Kreativität und Kampagnen entwickelt, beurteilt, an Kundinnen verkauft und verteidigt. Und mein Entsetzen ist in professioneller Hinsicht noch größer als in politischer und ethischer.

Ich werde den Film nicht teilen und weiter verbreiten. Aber es schon krass, dass mir beim ersten Ansehen sofort vier zutiefst rassistische Details ins Auge sprangen. Ich war sozusagen in der Situation, in der ich auch beruflich oft bin: Aufmerksames Ansehen, sonst zur Abnahme, hier zur Beurteilung. Also etwas mehr als eine Konsumentin, etwas weniger als eine Kundin.

Es ist schlichtweg nicht möglich, diese rassistischen Symbole nicht zu sehen, wenn ich - das mag allerdings die Voraussetzung sein - eine gewisse Bildung habe und schon einmal vom Thema Stereotype und Rassismus gehört habe. Und genau das ist aus meiner Sicht das Problem.

Das ist nicht zufällig „passiert“

Ich halte es nicht für möglich, dass in einer Agentur und in einer Marketingabteilung so ein Film durch Zufall entstehen kann. Ok, dass die weiße Hand, die einen schwarzen Menschen in ein Haus mit dem Namen Petit Colon schubst, genau in dem Moment das Erkennungssymbol der amerikanischen White Supremacy Bewegung formt, in dem das N-Wort aufblitzt, das mag Zufall sein. Aber alles andere „passiert“ nicht einfach.


Wie es um Bildung, Herzensbildung und Diversity in dem Team bestellt ist, das für Volkswagens Instagram zuständig ist, zeigt auch die Antwort auf die Kritik in diesem Kanal (anders als auf Twitter, wo Volkswagen zwar spät aber halbwegs angemessen reagiert, und beim zuständigen Vorstand, der sich klar und deutlich äußert – auch, wenn es selbstverständlich nicht nur semantisch sondern auch von der Haltung völliger Unsinn ist, sich selbst zu entschuldigen, denn man kann nur um Entschuldigung bitten, Anfängerfehler und auch eine Bildungsfrage, sorry). Auf Instagram brutale und absurde Schuldumkehr plus null Einsicht, dass der Spot objektiv rassistisch ist.


Eigentlich sind nur zwei Szenarien denkbar und beide sind grauenvoll. Und lassen Schlüsse zu, wie meines Erachtens Agenturen sich organisieren sollten, damit das nicht passiert.

Was kann da passiert sein?

Entweder jemand hat mit rassistischem „Humor“ und rassistischen Popkultur-Symbolen gespielt und niemand von denen, die Verantwortung tragen, Abnahmen machen, Milestones freigeben, hat es gemerkt. Oder die Entscheiderinnen haben diesen Rassismus bewusst eingesetzt, weil sie eine Zielgruppe anpeilen, die dafür offen ist - und unterschätzt, dass es andere empört. Das, was ich über die (neuen) Zielgruppen für den neuen Golf weiß, schließt das zweite Szenario glücklicherweise aus.

Bleibt die Kombination aus bewusstem Rassismus und dem Unvermögen aller Seniorinnen, das zu stoppen. Dafür spricht auch, wie die Instagram-Antwort von Volkswagen aussieht. Denn jede Agentur, die seriös ist, wird einen Rassismus-Vorwurf sofort sehr hoch eskalieren. Das heißt, diese Antwort von VW ist, denn ich gehe davon aus, dass Instagram von einer seriösen Agentur betreut wird, mindestens auf Managing Director/Geschäftsführer-Ebene „abgesegnet“ worden, wahrscheinlich auch von einer Leitungsfunktion beim Kunden. Dass keinerlei Problembewusstsein zu erkennen ist (also für das echte Problem, den Rassismus, nicht für das Problem der Kritik), ist ja tatsächlich erschütternd und nur mit einer Kombination aus mangelnder Bildung der Führung und keiner Diversität im Team erklärbar, wenn ich keine Bosheit unterstellen will.

Agenturen, die so was fabrizieren, haben ein echtes Problem

Ich bin überzeugt, dass so etwas in einer Agentur, die organisatorisch und personell achtsam aufgestellt ist, verhindert werden kann. Prozesse, Rassismen, die unterschwellig in Konzepte und Kreation „sickern“, zu entdecken, sind meines Erachtens in jeder Agentur nötig. Denn gerade in nicht divers geformten Teams (und damit haben wir Agenturen in Europa und Nordamerika immer noch ein Problem) ist es wichtig, „unconscious bias“ zu kontern.

Während einige der rassistischen Elemente des Volkswagen-Films auch ohne so einen Prozess aufgefallen wären, wenn gebildete Vorgesetzte involviert gewesen wären, kann ich mir schon vorstellen, dass die weiße Hand und der schwarze Mann „durchrutschen“ können. Um das zu verhindern, muss ich mich anstrengen. Denn auch ich, der sich seit mehr als 30 Jahren mit Eine-Welt-Fragen, Kolonialismus und Rassismus beschäftigt, habe da immer noch blinde Flecke, in denen mir Dinge nicht auffallen. Und in denen ich Worte und Bilder benutze, die in der rassistischen Tradition stehen, die Europa seit der Aufklärung entwickelt hat.

Unstereotype

Darum bin ich so ein großer Anhänger der Unstereotype Allianz und setze das Framework und die Checklisten in meiner Arbeit ein. Und eine Konsequenz aus dem rassistischen Desaster dieses Films ist, dass ich sie verpflichtend in den Agenturen mache, in denen ich Geschäftsführer bin. Der Konzern, zu dem meine Agenturen gehören, ist Mitglied in dieser Allianz, die eine Initiative der Vereinten Nationen ist. Darüber bin ich sehr glücklich – und die Ergebnisse, die das Framework, das im letzten Jahr in Cannes vorgestellt wurde, in der konkreten Arbeit bringt, sind ziemlich gut. Ich finde es absurd, dass in deutschen Kreativ- (und PR-) Preisen anders als in vielen internationalen die Kriterien der Unstereotype Allianz noch immer nicht als Schwelle eingezogen sind, über die Einreichungen müssen. Und dass mir keine deutsche Agentur bekannt ist, die regelmäßig (also als Standardprozess) diese Kriterien anwendet [falls es welche gibt, freue ich mich über Hinweise; und auch wir werden es ja erst jetzt verpflichtend machen].

Darum ist es so zwingend notwendig, dass wir in der Weiterentwicklung unserer Agenturen darauf achten, dass gemischte Teams entstehen: nach Herkunft, Geschlecht, Alter und Diskriminierungserfahrungen. Da haben die allermeisten von uns massiven Nachholbedarf. Erster Schritt ist, das anzuerkennen – und Prozesse in Gang zu setzen, einerseits, dieses zu ändern, und andererseits, in der Übergangszeit andere Perspektiven zu simulieren oder von extern reinzuholen. Auch dazu kann die Methodik der Unstereotype Allianz helfen übrigens.

Bildung

Da ich mit dem Thema Bildung gestartet bin und das mein Lieblingsthema ist: auch das ist wichtig. Teilweise lässt es sich über altersgemischte Teams zumindest in Ansätzen angehen, weil Erfahrung und jahrelange Beschäftigung mit politischen und Gerechtigkeits-Themen formale Bildung sicher ersetzen und ergänzen können. Ich halte es für möglich (oder wahrscheinlich), dass Teile des Teams, das diesen rassistischen Film entwickelt hat, die Symbole und den Rassismus nicht gesehen haben. Das ist auch individuell nicht unbedingt das größte Problem in dieser Situation (wenn auch bitter für die Betroffenen), wenn die eigene Expertise keine Bildung oder Herzensbildung verlangt. Aber irgendwo in so einem Team müsste mindestens eine Person sein, die entweder genug Bildung oder genug Erfahrung hat, um dies zu erkennen. Es ist ein anderes Thema, aber eben einer der Gründe, wieso Social eben nichts allein für die #diesejungenleute ist.

Edit 17.15 Uhr: Inzwischen hat DDB sich zu dem rassistischen Film geäußert und Maßnahmen zur Veränderung angekündigt. Ich wünsche den Kolleginnen dabei Erfolg. Finde ich gut.


disclosure: Ich führe als Geschäftsführer eine Agentur, die zu einem der Teams gehörte, die sich um den Etat für den neuen Golf beworben hatten. Ich habe noch nie für Volkswagen gearbeitet, wir arbeiten aber für andere Automobilhersteller aus Deutschland, Italien, England, Indien, USA, Korea (und vielleicht noch für andere). Ich wüsste nicht, dass ich jemanden persönlich kenne, der oder die an diesem Film oder der Kampagne gearbeitet hat, ich weiß nicht, welche Agentur Instagram für Volkswagen betreut[Edit 17.15 Uhr].

25.2.20

Die Mitte

Wenn die Mitte der Gesellschaft woanders ist,
als die Partei glaubt, die sich "die Mitte" nennt.
In Hamburg ist die CDU ja mit dem denkbar liberalsten Spitzenkandidaten angetreten, der auffindbar war. Und trotzdem hat sie ganz erheblich an die Grünen und recht stark an die SPD verloren. Quasi nichts mehr aber an die Faschisten. Das ist gerade angesichts des Kandidatenschaulaufens für die Parteivorsitz, das heute so richtig losging, einsichtsvoll.

Ja, Hamburg ist ein bisschen besonders, weil es eben auch "nur" eine Stadt ist. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Hamburg auch das erste Bundesland war, in dem Rechtsextreme 20% geholt haben - und dann sogar mit FDP und CDU zusammen regieren durften. Zugleich zeigt sich aber hier in einem echten Wahlergebnis, was sich in Umfragen und Trends auch in NRW oder Schleswig-Holstein zeigt: Das "Sortieren" am rechten Rand es politischen Spektrums ist fertig. Die AfD hat den autoritär-radikalen Teil der ehemaligen Wählerinnen der CDU (und auch der SPD übrigens) abgeholt, selbst eine weitere Radikalisierung ändert daran nichts, im Gegenteil.

Sicher war Hamburg auch deshalb eine besondere Situation, als zum ersten Mal der Verdacht, den die Mitte und das linke Spektrum hatte, nämlich, dass die CDU vielleicht nicht ganz fest und sicher als Schutz gegen die Faschisten stünde, als also dieser Verdacht sich bestätigt hat in Thüringen und durch die Werteunion.

In unserem Land ist die Erfahrung der meisten Menschen in der Politik, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Das Problem für Parteien ist dabei allerdings immer gewesen, rauszufinden, wo denn genau diese Mitte liege. Denn die ist ja nicht statisch oder dadurch "definiert", wo Parteien, die sich "die Mitte" nennen, behaupten, dass die Mitte sei.

Hamburg gibt nun einen ganz guten Hinweis darauf, dass die CDU – und hier vor allem der Teil in der CDU, der sich "konservativ" nennt (was noch mal ein ganz anderes Problem ist, aber dazu gleich) – offenbar nicht mehr wirklich die Mitte abbildet. Denn weiterhin werden Wahlen in der Mitte gewonnen. Dort, wo die Menschen, die wählen, die Mitte sehen. Also dort, wo die Wählerinnen hingewandert sind von der CDU.

Wenn man sich politische Überzeugungen und Programme anschaut, ist es ja gerade nicht so, dass die CDU, wie ihr rechter Flügel behauptet, nach links gerutscht sei - sondern dass SPD und CDU gemeinsam seit der Schöderregierung nach rechts gerutscht sind, während die Mitte der Gesellschaft sich in den letzten Jahren (offenbar unbemerkt von SPD und CDU) etwas nach links verschoben hat. Und so kommt es dann offenbar, dass sich Menschen, die sich als Mitte empfinden und Mitte sind, von der CDU zu den Grünen wenden.

Dass die CDU sich gleichzeitig eben nicht nach links sondern auch rechts entwickelt hat, sieht man meines Erachtens auch sehr gut daran, dass Menschen in der CDU sich konservativ nennen, die man früher als reaktionär bezeichnet hätte (die Gruppe um Dregger galt in der Kohl-Zeit nicht als konservativ sondern als reaktionär, auch innerhalb der Partei). Und die, die früher konservativ geheißen hätten, auf einmal innerhalb der Partei als liberal gelten.

Wenn also jetzt die reaktionären Kräfte gemeinsam mit libertären versuchen, die Partei weiter nach rechts zu verschieben – und die desaströse Kandidatur-Pressekonferenz von Merz heute spricht ja dafür, dass seine Leute das wollen –, dann bewegt sie sich immer weiter weg aus der Mitte. Die Mitte der Gesellschaft aber wird sich immer eine Partei suchen, die ihre Überzeugungen abbildet. Das hatte Schröder erkannt. Das hat Merkel umgesetzt. Das wird Baerbock zu nutzen wissen.

24.2.20

Warum es ein gutes Zeichen ist, dass die Prognose bei der AfD so daneben lag

Nun sind die Faschisten doch drin geblieben in Hamburg bei der Bürgerschaftswahl. Und das, obwohl beide 18-Uhr-Prognosen sich ziemlich sicher waren, dass Hamburg sie rausgewählt hat. Das ist doof, denn das Signal, dass der Spuk zu Ende gehen könnte, wäre schon schön gewesen. Aber es ist auch nicht dramatisch, denn sie haben verloren. Und über 70% der Hamburgerinnen haben Parteien gewählt, die stabil und ohne zu zucken gegen Faschisten stehen und standen.

Dennoch finde ich es bemerkenswert, wie stark die Prognose daneben lag – ganz anders als bei den anderen Parteien. Zur ersten Prognose waren sich die Forscherinnen recht sicher, dass es nicht reichen wird. Um zu verstehen, wieso das ein gutes Zeichen ist, genügt ein Blick auf das Instrument Prognose:

Die 18-Uhr-Prognosen entsteht ja aus so genannten Nachwahlbefragungen. Da werden also noch keine ersten Stimmzettel angeguckt – sondern es werden Wählerinnen in einigen Wahllokalen nach ihrer Wahl befragt, wen sie gewählt haben. Als ich noch in Hamburg wohnte, war das beispielsweise in einem Wahlbezirk in unserem Wahllokal am Stadtrand der Fall. Mit den Ergebnissen dieser Befragung schätzen die Forscherinnen dann das Ergebnis. Und diese Schätzung ist traditionell recht gut. Bei den letzten Wahlen (im Osten vor allem) auch bei den Faschisten.

Wer sich mit Befragungen beschäftigt, weiß, dass es Dinge gibt, die Menschen auch in einer relativ geschützten Umgebung nicht gerne zugeben. Es gibt dann immer welche, die auf so genanntes sozial erwünschtes Verhalten zurückgreifen. Sprich: einfach die Unwahrheit sagen. Die Wahl von Faschisten gehört zu den Dingen, die viele nicht zugeben mögen. Darum werden die Zahlen bei der Prognose eben nicht eins zu eins übernommen – sondern mit Erfahrungswerten modelliert.

Offenbar haben in Hamburg so wenige Leute zugegeben, die Faschisten gewählt zu haben, dass selbst die Korrektur noch nahelegte, dass sie unter 5% bleiben. Heißt also: anders als im Osten und anders als bei den letzten Wahlen in Hamburg haben sie sich deutlich mehr geschämt und wussten deutlich besser, wen und was sie da wählen.

Es waren also zu einem großen Teil eben keine Protestwählenden mehr, sondern echte Rechtsradikale, die wissen, dass rechtsradikal sein nicht als normal und akzeptabel gilt.

Ausgrenzung wirkt! 

Denn nicht zugeben zu mögen, dass ich Faschisten toll finde, ist der erste Schritt. Rechtsradikale Meinungen sind so lange kein "Problem", so lange sie nicht zur Wahl von Faschisten führen (also klar sind sie ein Problem, aber wir können mehr oder weniger damit leben, haben wir ja auch in den 80ern und 90ern, als diese Leute überwiegend nicht wählten oder eben eine der beiden großen Parteien, wofür ich immer dankbar war).

Offenbar ist in Hamburg gelungen, was die AfD ja auch am Abend in jedes Mikrofon klagte: sie auszugrenzen. Und während schon länger klar war, dass "mit Nazis reden" oder "die Sorgen Ernst nehmen" als Konzept gescheitert war, hat Hamburg gezeigt, dass Ausgrenzen funktioniert. Weniger als jemals seit ihrem Aufstieg wurden die Faschisten gewählt. Erstmal haben sie keinen Zuwachs erzielt sondern verloren. Und erstmals haben sich die Menschen geschämt, die sie gewählt haben. Sie sind wahrscheinlich unverbesserlich. Aber alle die, die dazu gehören wollen, denen wichtig ist, dass ihre Nachbarinnen und Familien sie für "noch ok" halten, die sich als Mitte der Gesellschaft erleben - alle diese wählten diesmal keine Faschisten (mehr). Und das ist ein wirklich, wirklich gutes Zeichen.

7.2.20

#unverzeihlich

Bei Angela Merkel sind es oft die kleinen, beiläufigen Dinge, die wirken. Das war bei ihrem vielleicht berühmtesten Nebensatz vom Wir und vom Schaffen so. Und das war so, als sie die eigentliche Dimension des Dammbruchs benannte, den CDU und FDP in Thüringen ausgelöst haben: dass es unverzeihlich ist.

Unverzeihlich. Das ist ein hartes Wort, das so gar nicht zu pragmatischer Politik zu passen scheint. Unverzeihlich heißt, dass selbst dann, wenn jemand um Entschuldigung bittet und einräumt, dass es ein Fehler gewesen sei – dass selbst dann keine Vergebung erfolgen kann. Weil es nicht verziehen werden darf. Weil es unverzeihlich ist.

Was Merkel hier macht, ist größer noch als die schnellen, klaren und unmissverständlichen Worte von Söder und Ziemiak unmittelbar nach der Tat. Worte, für die ich dankbar war und die mir großen Respekt eingeflößt haben. Und zu deren Klarheit sich bis heute beispielsweise Lindner nicht durchringen konnte. Merkel geht einen Schritt weiter. Und das wird kein Zufall sein.

Machen wir es konkret am Beispiel eines Regierungsmitglieds, das viele (auch viele nicht-konservative) Menschen in meinem beruflichen und privaten Umfeld gut finden: Dorothee Bär, mit der ihr euch so gerne fotografiert und die ihr ob ihrer Digital- und Social-Media-Kompetenz bewundert. Sie gratulierte (spontan) freudig zum Dammbruch. Legte auf Nachfrage (nicht mehr so spontan) explizit nach. Löschte das später. Und nannte es einen Fehler. Fehler passieren. Meine Leute wissen, dass ich ihnen bei Fehlern nicht den Kopf abreiße, wenn sie aktiv mit ihren Fehlern umgehen. Es ist gut, um Entschuldigung zu bitten.

Es gibt aber Fehler, die sind unverzeihlich. Und Angela Merkel hat meines Erachtens Recht, wenn sie  den Dammbruch so qualifiziert. Denn es ist unverzeihlich, dieses nicht sofort zu sehen. Es ist eben nicht nur unüberlegt – sondern niemand, die einen funktionierenden Kompass hat, die einen antifaschistischen Autopilot hat, würde selbst unter Fieber oder Drogen feiern, wenn sich jemand von Nazis in ein Amt wählen lässt. Das kann nur passieren, wenn es keine innere Brandmauer gegen Faschisten gibt. Oder wenn jemand Faschisten nicht für Faschisten hält (wie die Funktionärinnen meines Berufsverbandes, die nicht verstehen wollten, wieso ich die Einladung eines Faschisten als Festredner nicht so super finde).

Unverzeihlich heißt, dass einer Bitte um Entschuldigung nicht entsprochen wird. Punkt. Oder, wie es in einem meiner Lieblingsfilme heißt: Im Urlaub kauft man Lederjacken zu weit überhöhten Preisen. Aber man verliebt sich nicht in faschistische Diktatoren.