27.5.11

Noch mal zu Digital Natives

Und warum man jedem (jedem!) misstrauen sollte, der oder die von ihnen redet. (oder ihn feuern). Die wunderbare Kaltmamsell schreibt dazu immer mal wieder. Und fasste es Mittwoch sozusagen abschließend zusammen:
Dass eine Generation nur ein Leben mit Internet und seine Kommunikationsformen kennt, heißt ziemlich wenig. Die meisten dieser jungen Leute befassen sich mit genau einer Online-Plattform, allerhöchsten noch mit einer zweiten. Sie führen ihr Online-Leben fast ausschließlich auf Facebook – warum sollten sie also von irgend einem anderen Aspekt des Internets Ahnung haben, am Ende noch reflektiert oder technisch fundiert? Meine Generation zum Beispiel sind alle TV natives – deshalb kenne ich noch lange nicht den Unterschied zwischen Satellitenübertragung und terrestrischer, weiß ich noch lange nicht, wie ich Werbung im Fernsehen schalte oder kann auch nur Auskunft über die Zusammensetzung des Rundfunkrats Auskunft geben.
Amen.

Dann bitte noch weiterlesen dort, denn sie zeigt auch einen gangbaren Weg, was wir stattdessen sagen sollten. Und damit gebe ich aus dem Elfenbeinturm zurück in die Wirklichkeit.

24.5.11

Politik als Prozess verstehen

Schon wieder was politisches, sozusagen grün-internes. Weglesen, wer nicht an grünen Diskussionen interessiert ist, bitte....
Immer noch am Strang, wie eine Volkspartei Neuen Typs aussehen kann, die die Grünen faktisch durch Wahlerfolge geworden sind - für die sie aber noch ihre Rolle suchen. In Hamburg sind wir ja dabei, uns zu überlegen, wie wir aus der Niederlage lernen können, was wir anders machen wollen. Im grottenschlechten Intranet habe ich nun mal einen ersten groben Entwurf für eine formulierte Haltung gemacht, den ins Wiki gestellt - und hoffe, dass er kräftig verändert werden wird. Damit ich hinterher noch nachvollziehen kann, von aus er sich wohin entwickelt hat (weil Versionsdingens in diesem Wikidingens so eine Sache ist), stelle ich ihn auch hier rein und zur Diskussion. Zumal ich eh finde, so was sollte von Anfang an nicht nur intern sondern auch mit anderen diskutiert werden, aber damit bin ich bei der GAL noch ein bisschen zu alleine...

***

Unsere Wurzeln sind Bürgerbewegungen und engagierte Menschen außerhalb der Parlamente, denen wir eine Stimme geben wollten. Das ist uns gelungen. Heute erleben wir, dass dieses Engagement wieder zunimmt, auch wenn viele die Engagierten als "Wutbürger" diffamieren.

Die GAL ist und wird sein der Anwalt und Moderator der Bürgergesellschaft in dieser Stadt. Das hat unmittelbare Auswirkungen darauf, wie wir in Zukunft Politik als Prozess verstehen und gestalten werden.

Zukunftsentwürfe anbieten

Die GAL nimmt Abschied von Projekten und Wahlversprechen. Wir sehen unsere Aufgabe in der Entwicklung und Diskussion von Zukunftsentwürfen für diese Stadt und dieses Land. Wir bitten Wählerinnen und Wähler um Zustimmung für zwei Punkte:
  • Unsere Vorstellung, wie Leben, Arbeiten, Wirtschaften, Lernen in dieser Stadt und diesem Land aussehen sollen.

  • Unser Versprechen, den Weg hin zu diesen Entwürfen mit den Menschen gemeinsam konkret und real werden zu lassen.

  • Konkretionen mit den Menschen gemeinsam entwickeln

    Wir haben verstanden: Die Umsetzung unserer Ideen und Ziele war zu unserer letzten Regierungszeit in Hamburg nicht immer so, dass die Mehrheit der Hamburgerinnen und Hamburger mitgehen konnte oder wollte.

    Die GAL wird ihr Regierungshandeln darum künftig anders gestalten:
  • Wir werden unser gesamtes Regierungshandeln, das Handeln unserer Abgeordneten und Mandatsträger so transparent gestalten, wie es rechtlich zulässig ist. Wo das geltende Recht der Offenheit zu enge Grenzen setzt, werden wir uns für Änderungen einsetzen.

  • Wir verstehen Politik als gemeinsamen Prozess der Parteien, der Verwaltungen und der Bürgerinnen und Bürger. Wir werden darum dafür sorgen, dass alle Unterlagen, Studien und Entwürfe, die zur Entscheidungsfindung nötig sind und vorliegen, der Öffentlichkeit zugänglich sind.

  • Anstatt Projekte zu kommunizieren, laden wir alle Bürgerinnen und Bürger ein, sich an ihnen zu beteiligen.

  • Geschwindigkeiten und Nachhaltigkeit

    Der GAL ist bewusst, dass ihr Weg, Politik als Prozess zu begreifen, Veränderungen langsamer und mühsamer machen kann. Denen, die vorne weg gehen, wird es manchmal zu langsam sein, ebenso wie uns selbst. Aber wir nehmen uns und der Stadt diese Zeit.

    Nur so werden wir dazu kommen können, nachhaltige Lösungen und Umsetzungen zu schaffen, die nicht schon Wochen nach ihrem Beschluss "nachgebessert" werden müssen. Unser Verständnis von "ordentlich regieren" in der heutigen Zeit ist,
  • Entscheidungen früh zu öffnen,

  • alle Informationen, die wir selbst brauchen, um eine Entscheidung zu fällen, auch allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich zu machen, und

  • alle Entscheidungen vollständig zu protokollieren und langfristig nachvollziehbar zu machen.
  • 20.5.11

    Kleine Freuden

    Heute habe ich gehört, dass der Opa eines Freundes bei der Uraufführung von Mahlers 8. Sinfonie war, 1910 in München. Ist das nicht irre? Ich selbst warte seit fast 30 Jahren darauf, die einmal live zu hören, heute wird es so weit sein. Und dieser Freund geht da auch hin, haben wir gestern durch Zufall festgestellt. Das hat was von Popkonzertfeeling der 80er: In den letzten zwei Wochen stellen wir fest, dass in unserem Freundeskreis noch zwei weitere Paare in dieses Konzert gehen. Ich mein, wann hat es so was schon mal gegeben? Aber ok, das liegt daran, dass es ungefähr so ist, als wenn - sagen wir mal - Pink Floyd im Stadion spielen, da würden wohl auch viele aus der Generation meiner Eltern hingehen. Mahlers Achte ist sozusagen der Megaact für alle, die Musik aus der sinfonischen, spätromantischen Epoche mögen, sozusagen die größte denkbare Schnittmenge aus früher Moderne und Klassik. Was ich mich freue!

    ***

    Zu sehen, wie junge Leute, die durch "meine Schule" gegangen sind, diese Ideen weitertragen und in die Unternehmen ausschwärmen und gute und spannende Jobs bekommen - das freut mich fast noch mehr als jedes gelingende Projekt für einen Kunden, auf das ich stolz sein kann. Und das macht mich tatsächlich glücklich.

    ***

    Aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich meine Kinder beispielsweise über Facebook sozusagen politisch organisieren und Widerstand verabreden und einüben, finde ich rührend und großartig. Das macht mir auch Hoffnung, dass die Zeit der grauenhaft angepassten Drückebergerjugend vorbei sein könnte. ¡No pasarán!

    19.5.11

    Aufarbeitung und Neuorientierung bei den Hamburger Grünen

    Anfang April habe ich meine ersten Gedanken zur Neuausrichtung der Grünen ("Volkspartei Neuen Typs") schon einmal aufgeschrieben, sie sind auch Teil des so genannten "Aufarbeitungsprozesses", den der Landesverband angestoßen hat. Das alles wird nun im grauenvollen technisch hinterwäldlerischen unbenutzbaren Intranet der Partei, dem Wurzelwerk, diskutiert. Dort wollte ich neulich auch schon mal meine Gedanken rund um die konkrete Neuorientierung (und zugleich eben Aufarbeitung der Niederlage) formulieren, als - $%&% - es abschmierte und ich alles verloren hatte. Nicht noch mal. Darum hier ein paar Dinge dazu. Nie wieder substanzielle Texte oder solche, die mir wichtig sind, in diesem kranken Wurzelkakkwerk.

    I. Niederlagen der Hauruck-Politik
    Wir reden bei den Hamburger Grünen von drei wichtigen Niederlagen in der letzten Regierungszeit (die dann zusammen mit 1. einem nicht hinreichend begründeten Ende der Koalition und 2. einem unterirdischen Wahlkampf zu der vierten, der Wahlniederlage führten): Moorburg, Schulreform und Stadtbahn. Einige Mitstreiterinnen sehen die getrennt. Ich sehe eher die Gemeinsamkeiten.

    Denn gemeinsam war allen drei Projekten, dass wir sie für "realisierbar" hielten. Moorburg, sagte unser späterer Staatsrat, Experte, weil Umweltjurist, ist noch verhinderbar. Die Schulreform in den Verhandlungen durchgesetzt und durch Verwaltungshandeln realisierbar. Ebenso die Stadtbahn. Alles dieses war, im Prinzip, problemlos. Und alle diese Projekte waren insofern zutiefst unpolitisch. Und zwar in dem Sinne, dass wir es versäumt haben, sie politisch zu begleiten.

    Genau das meine ich, wenn ich das Verhalten und die Haltung der führenden Grünen zum Regierungshandeln als "fundamientalistisch" bezeichne, als "realpolitischen Exzess". Denn die Haltung war - vielleicht nicht bewusst, aber in der Konsequenz und Praxis: Wir sind jetzt vier Jahre am Drücker, hauruck.

    Diese Haltung ist grandios gescheitert und wurde abgestraft. Interessanterweise haben andere, wir Hamburger noch nicht irgendwie, daraus gelernt: In Baden-Württemberg unternehmen die Grünen einen Politikversuch, der komplett anders ist. Nicht hauruck, wir sind am Drücker sondern eher: Hier sind unsere Angebote, was denkt ihr dazu? Sollen wir es so machen?

    II. Konsequenzen
    Merkwürdigerweise scheuen sich die meisten bei den Grünen davor, Konsequenzen zu benennen, die es hat, wenn so etwas erkannt wird. Vielleicht (eher: Ganz sicher) werden mir nicht alle in der Analyse folgen, dass unser Hauptproblem die Hauruck-Politik war. Aber wenn das stimmt (was ich glaube), dann hat das Konsequenzen. Und die meine ich genau so radikal, wie sie klingen: Wer in Hamburg bei den Grünen Verantwortung hatte für die Hauruck-Politik, kann die Partei nicht in die neue Zeit mitführen. Für diesen altbackenen Politikstil Schröders ("basta") ist heute kein Platz mehr. Zumindest nicht bei den Grünen, wenn sie sich dauerhaft über 20% etablieren wollen.

    Die neue Haltung einer Grünen Volkspartei Neuen Typs muss meines Erachtens eine solche wie in Baden-Württemberg sein. Die muss noch näher formuliert werden, da beteilige ich mich dran, so weit sind wir aber noch nicht ganz. Aber sie wird von Hauruck weg gehen. Und offene Diskussionen innerhalb der Partei und mit den anderen Menschen führen. Angebote machen, aber keine Projekte versprechen. Politisch werden, statt fundamentalistisch realpolitische Projekte mit Hilfe der Verwaltung durchzusetzen.

    Wenn wir diesen Schritt gehen, dann mit solchen Frontleuten, die für einen solchen Weg stehen wollen und können. Und wer explizit für den alten Hauruck-Stil steht (ich sehe beispielsweise und mindestens Anja Hajduk, Christa Goetsch und Jens Kerstan), wird ohnehin bei einer solchen Neupositionierung der Partei nicht in vorderer Front mitwirken wollen, das wäre ja verlogen und unauthentisch. Hat also nichts mit "Köpfe rollen lassen" zu tun, sondern mit der Verantwortung für ein gescheitertes, fundamentalistisches, altes Politikkonzept.

    III. Teilhabe
    Es geht also meines Erachtens um ein Politikkonzept der Teilhabe. Wir Grünen haben nun, rund 30 Jahre nachdem wir begonnen haben, die Politik in diesem Land zu verändern, die Chance, auch zu verändern, wie die führenden Parteien Politik machen. Und wie wir mit unseren Positionen und Personen umgehen. Wie wir die Balance finden zwischen der Offenheit für die Menschen und ihre Meinungen - und dem Anspruch, Vorschläge zu machen und auch umzusetzen, die vielleicht ein bisschen weiter sind als der Rest der Gesellschaft. Wenn das Hauruck nicht mehr geht, wird es nur über Teilhabe gehen. Zu jedem Zeitpunkt, früh, vollkommen.

    Wir werden unsere Frontleute weniger daran messen können, was sie von unserem Programm lupenrein umgesetzt haben, sondern eher daran, ob sie das Maß an Teilhabe, das sie angekündigt haben, einhalten. In Stil und Haltung. Ich bin eher bereit, jemandem zu "verzeihen", die ein Projekt nicht durchsetzen konnte aber dafür geworben und diskutiert hat, als jemandem, die es auf Deubel komm raus versucht hat. So ungefähr. Köpfe rollen zu lassen, weil fundamentalistische Projekte an der Wirklichkeit der Menschen und ihren Bedürfnissen scheitern (siehe Schulreform in Hamburg), ist furchtbar 90er.

    Politik war eigentlich ja schon immer die Kunst, das Wünschenswerte zustimmungsfähig möglich zu machen. In den 80ern und frühen 90ern lag unser (grüner) Schwerpunkt auf dem Wünschenswerten. Seit Mitte der 90er auf dem Möglichen. Heute - und das ist dann der Entwicklung zur Volkspartei geschuldet - wird unser Schwerpunkt auf dem Zustimmungsfähig liegen. Und das, davon bin ich überzeugt, geht nur über Teilhabe, Offenheit, volle Transparenz.

    Unsortierte Gedanken zur #next11

    Ich mag die next. Schon immer. Seit ich damals als Gast auf der next10years war, als sie als so eine Art Geburtstagsfeier von Sinner Schrader begann. Es ist eine der ganz wenigen Dingens, auf die ich gerne gehe, auch wenn ich nicht spreche. Oder so. Und das, obwohl ich inhaltlich noch nie wirklich begeistert war.

    ***

    Ich war sehr dagegen, dass die next nach Berlin umzieht. Ich weiß, warum das so ist, kann das auch nachvollziehen (international und so), finde es aber nicht überzeugend. In die gleiche Richtung geht, dass ich die radikale lingua franca Policy lächerlich latent ulkig finde. Eine langweiliger, schlechter Vortrag wird in einer Sprache, die der Vortragende quasi nicht beherrscht, nicht viel besser für die Zuhörer, die diese Sprache nur teilweise sicher beherrschen.

    Anders ist es mit mitreißenden Vorträgen und Dialogen, die inspirieren. Davon habe ich einige gehört, bei weitem nicht nur von Amerikanern (um das Scheinargument im Keim zu ersticken).

    ***

    Data Love war ein tolles Thema, das tatsächlich in die Zukunft gucken wollte und sehr deutlich den großen Trend abbildet, aus dem die nächsten disruptiven Businessmodelle kommen werden (hear my words). Was mich irritiert hat, war, dass bei den Vorträgen, die ich gehört habe, entweder "Data" oder "Love" im Vordergrund stand, es aber nicht so sehr verbunden war - und ihr könnt euch vorstellen, welche spannender waren. Die Panels und die Vorträge, in denen Menschen voller Begeisterung waren für das, was sie tun, voller Liebe und Engagement, waren dann wirklich inspirierend - ich selbst habe eine gute Handvoll Themen und Ideen für meine Kunden und mich mitgenommen, was mehr ist als auf jeder anderen Konferenz die letzten Jahre. Bei vielen Vorträgen aus dem internationalen Strang lohnt es sich, sie auch als Konserve noch mal zu sehen.

    Nur: dafür brauche ich Sprecher, die ein wichtiges Kriterium erfüllen - und das hat nur ein Teil auf der next erfüllt: Sie müssen den unbedingten Willen haben, ihre Zuhörer nicht zu langweilen. Das geht. Selten, aber das geht. :)

    ***

    Trotzdem - und das hängt mit dem letzten Punkt zusammen, wenn ich mir zu erklären versuche, wie manche der Sprecher eingeladen worden sein können - bleibt der Eindruck, dass sich die next nicht entscheiden kann, ob sie eine Zukunftskonferenz sein will oder eine Kundenbespaßung von Sinner Schrader, bei der "wir anderen" Teil der Bespaßung sind. Das klingt böser, als es gemeint ist - ist ja ok, wenn ich davon was habe (und das habe ich). Nur changieren die Tage irgendwie immer noch zwischen diesen Polen. Das finde ich so mittelgut.

    ***

    Ich persönlich mag die Station nicht. Sie verbindet alles, was ich an Berlin nicht mag (und wer mich kennt, weiß, dass ich Berlin so ziemlich gar nicht mag). Zu groß, zu unkomfortabel, zu laut, zu arm. Die Akustik ist selbst in den Vortrags"räumen" unterirdisch. Die Toiletten sind schon morgens muffig und feucht, da sie im Keller liegen, über den Rest des Tages schweigen wir mal lieber. Unwürdig und schlimm.

    Dafür war die next perfekt organisiert. Das WLAN funktionierte, es gab genug Steckdosen, die technische Ausstattung und Gestaltung der Bühnen war toll, die Abläufe und Zeitpläne klappten.

    ***

    Gesamtfazit: Ich mag die next (sagte ich das schon?). Ich komme wieder. Ich kann sie empfehlen. Und ich nehme zähneknirschend in Kauf, dass sie in der Station und übertrieben englisch ist (was für mich persönlich kein Problem ist, ich gehe ja auch auf internationale Dingens und kann auch auf englisch vortragen - aber das scheint nicht jedem so zu gehen).

    (Übrigens hab ich extra noch keinen von euren Beiträgen über die next gelesen vorher, wollte erstmal meine Eindrücke runterschreiben, muss ich dann heute abend mal nachlesen, was andere so denken)

    14.5.11

    Das Märchen vom Kontrollverlust

    Ich twitterte heute Vormittag:



    Und bekam sofort Widerspruch, vor allem in Direktnachrichten. Das hat mich überrascht. Denn ich rede eigentlich - beispielsweise in Vorträgen - immer wieder davon, dass Kontrollverlust quatsch ist. Vielleicht ist "Flachdenkerwort" zu hart, aber ich halte das Reden vom Kontrollverlust tatsächlich für entweder unüberlegt - oder für eine boulevardtaugliche Verkürzung.

    Warum?

    I. Welcher Verlust?

    Tatsächlich ist es ja so, dass die Vorstellung, es hätte beispielsweise jemals eine Kontrolle (der "Message" im PR- und Werbezusammenhang, der Öffentlichkeit im persönlichen Zusammenhang) gegeben, immer schon eine wirklichkeitsferne Autosuggestion gewesen. Kommunikation und soziales Leben fand immer schon in einer von uns nicht kontrollierten Interaktion statt. Immer schon. Schon auf dem Markt. Damals. Vor dem Krieg. Dem 100-jährigen zwischen Frankreich und England.

    Wenn es aber kein Verlust ist, weil es nichts zu verlieren gibt - warum dann das Wort "Kontrollverlust"? Gefühlt, ja, vielleicht. Aber mal ehrlich: Ist nicht die Beschreibung eines Gefühls ("Kontrollverlust") als Realität (Kontrollverlust) eben gerade dies: Flachdenkersprech*?

    II. Wieso Verlust? Gerade jetzt? Echt?

    Was mich nachhaltig verstört bei der Rede vom Kontrollverlust, ist eigentlich aber noch radikaler: Es stimmt im Prinzip nicht, dass beispielsweise "Social Media" oder Facebook oder Twitter oder so zu Kontrollverlust führt. Sondern eher das Gegenteil ist der Fall. Denn faktisch macht das, was wir Social Media nennen, nur sichtbar, was es schon immer in Gesprächen gab. Die meisten dieser nun sichtbaren Dinge werden aber gerade dadurch, dass sie sichtbar sind, eher kontrollierbarer.

    Einerseits stimmt der Verlust für Extremsituationen. Wenn es durch Zufall einen Livetwitterer gab, der seine Beobachtungen schrieb, als bin Laden erschossen wurde, dann haben Militär und Regierung keine Kontrolle über die Nachrichtenlage. Und Technologie macht dies sichtbar und reichweitenstark und damit tendenziell relevant. Andererseits heißt diese Sichtbarkeit, dass ich mindestens kontrollieren kann (im Sinne von Messen), was andere sagen. Und dass ich mit meiner Kommunikation schneller und präziser auf mein Umfeld reagieren kann, nicht so sehr in Fallen laufe.

    Insofern - und das gilt dann auch für Markenführung - führt die zunehmende Verschriftlichung von sozialer Internaktion und damit ihre Durchsuchbarkeit dazu, dass ich schneller gegensteuern kann (wenn ich möchte). Meine Erfahrung aus den letzten 10 Jahren Onlineleben ist eher, dass ich durch die intensive Nutzung von Social Media faktisch eine Kontrolle in einem vorher nicht kontrollierbaren Raum zurück gewinne.

    Eigentlich also war Markenführung noch nie so einfach wie heute (wenn auch noch nie so aufwändig und ressourcenintensiv). Denn über die eigene Aktivität bestimme ich zunehmend, was andere (Kunden, Freunde, Kollegen, potenzielle Arbeitgeber) über mich als Person, Unternehmen, Marke finden. Böse formuliert schafft das, was traditionelle Kommunikatoren als Kontrollverlust empfinden, eine wunderbare Möglichkeit, endlich "Waffengleichheit" mit den anderen herzustellen. Denn während es "früher" kaum möglich war, in derselben Arena wie meine Kunden und Kritiker aktiv zu sein (an Stammtischen, auf der Straße etc), hat die Verschriftlichung dieser Gespräche nun die Chance eröffnet, meinen Anteil daran ebenfalls sichtbar zu machen.

    Eines der faszinierenden Paradoxa rund um Social Media ist doch gerade, dass ich je mehr Kontrolle in diesem Diskursraum gewinne, desto mehr ich von mir preisgebe (als Person, Unternehmen) oder desto mehr ich mich in Gesprächen engagiere. Denn jenseits von Facebook (was ein Sonderfall ist, der ein kleines bisschen anders funktioniert aufgrund der höheren Relevanz des sozialen Interaktionsraumes) ist die Frage, wie ich vermittelt über die Suchmaschine auffindbar bin, eines der entscheidenden Kriterien für erfolgreiche Markenführung (die, sorry, ein Minimum an Kontrolle braucht).

    Die Marke "Sascha Lobo" oder auch die Marke "Luebue" wurden genau so gebaut: Über die bewusste Entscheidung, was wir von uns online stellen, welche Themen wir aktiv nutzen, um uns zu positionieren und so weiter. So wie viele Marken und Unternehmen stellen wir "Waffengleichheit" her zwischen denen, die über uns reden, und uns.

    III. Dieses Überforderungsding

    Ich ahne, wieso das Reden vom "Kontrollverlust" so gut funktioniert und so sehr vom Boulevard (TV, Medien, Konferenzen) goutiert wird: Weil es in Worte fasst, dass das Zerbrechen der alten Filter auf die Wirklichkeit zu einer latenten Überforderung führt. Ihr wisst, dieses Shirky-Dings. Insofern kann ich es auch nachvollziehen. Nur vergisst dieses Reden dann, dass "wir" uns ja neue Filter gebaut haben oder zumindest neue Filter gefunden haben, sei es Twitter, sei es Facebook oder was auch immer.

    Mein Feldzug ist heute eher, Menschen zu erklären, wieso es kein Problem sein muss, dass auf Twitter unbestritten in seiner Gesamtheit 99% für mich irrelevant ("Schrott") sind. Wie ich beispielsweise Marken kontrolliert durch den unkontrollierbaren Raum navigieren kann. Warum "online" nicht vom so genannten "richtigen Leben" (gemeint ist: von der Kohlenstoffwelt) getrennt ist, sondern ein Teil dieses prallen Dings, das wir Leben nennen.

    Ich bin dabei, Menschen, Unternehmen und Marken zu helfen, ihre (gefühlte und echt so empfundene) Überforderung überwinden zu helfen. Und darum langweilt mich das Sprechen vom Kontrollverlust. Es ist flach, falsch und rückwärtsgewandt. Und vielleicht sogar einer der Gründe, warum so Dingens wie die Digitale Gesellschaft oder die re:publica so einen schalen Beigeschmack des Sektenhaften haben. Jedenfalls ist es Angstrhetorik, im Kern, denn Verlust gut zu finden, ist pathologisch.


    * Was ja nicht heißt, dass es nicht taktisch sinnvoll sein kann, von Kontrollverlust zu sprechen. Viele unserer Zuhörer können ja nun mal maximal flache Gedanken verarbeiten. Been there, done that. Aber an mich selbst habe ich da schon einen anderen Anspruch....

    3.5.11

    persönliche Anmerkungen zu den Reaktionen auf bin Ladens Exekution

    I. Vor Jahren fragte ich Freunde in New York, ob bin Laden noch wichtig sei. Es muss so 2007 oder 2008 gewesen sein. Mich hat die Reaktion überrascht, die - unabhängig von der politischen und religiösen Haltung der Freunde - sehr massiv und emotional war. Einige Menschen, die mir wirklich wichtig sind, haben seit September 2001 sehr regelmäßige Alpträume und sind nie wieder voll in den vor-9/11-Trott ihres Lebens gekommen. Fast alle sagten, dass ihr Leben erst wieder "normal" wäre, wenn bin Laden tot sei. Und das war lange nach 2001.

    Auch wenn die meisten von uns hier noch wissen, wo sie am 11.9.01 waren und wie sie das zweite Flugzeug live haben in das WTC fliegen sehen, ist mir damals bewusst geworden, dass ich nie werde nachfühlen können, was dieser Tag bei denen ausgelöst hat, die ihn unmittelbar erlebt haben. Ich habe Freunde, die einen Zusammenbruch hatten damals, andere, deren Weltbild und Haltung sich verändert hat. Sehr beeindruckend war für mich immer, wie mein früherer Boss Richard Edelman von 9/11 erzählt hat und wie er beispielsweise dennoch seine Haltung zu Rache und Gewalt nicht änderte.

    ***

    II. Mir persönlich ist der Freudenausbruch fremd, der sich in den USA ereignet hat. Aber ich kann ihn nicht verurteilen, finde das auch wohlfeil. Dass sich die USA als im Krieg mit "dem Terror" befindend sehen, kann ich nicht nachvollziehen, finde das auch falsch, auch wenn mich nachdenklich macht, dass dieses bis hinein in liberale und linke Kreise nicht groß in Frage gestellt wird. In der Diskussion mit rechten Amerikanern über die Exekution bin Ladens bin ich immer wieder an den Punkt gelangt, dass es tatsächlich darauf ankommt, ob man das, was da passiert, unter "Krieg" fasst oder nicht.

    Und der Frage ist nicht einfach mit plumper antiamerikanischer Rhetorik beizukommen.

    ***

    III. Grotesk und pervers finde ich die Reaktionen aus Europa, vor allem aus Deutschland. Nun gehöre ich nicht zu denen, die Angela Merkel viel zutrauen, aber der Satz
    Ich bin heute erst einmal hier, um zu sagen: Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten.
    zitiert aus der Mitschrift unter Bundesregierung.de ist so abgrundtief zynisch, dass es weh tut. Ähnlich die Einlassungen des Außenministers und der SPD, von meiner eigenen Partei (Grüne) habe ich nichts gefunden zu dem Thema. Allein die Kirchen, allen voran der Vatikan, haben die richtige Perspektive gewählt, wenn der Sprecher des Papstes erklärt
    Der Tod eines Menschen ist für einen Christen niemals Grund zur Freude. Das gelte auch für den Tod von Osama Bin Laden.
    zitiert nach Radio Vatikan. Ich mag mich streiten und bin mit vielen meiner Freunde auch nicht einer Meinung, was die Bewertung der Exekution angeht und die Freude, die sie in den USA ausgelöst hat - aber Kanzlern, Regierung und SPD überschreiten eine Grenze, die sie niemals überschreiten dürften.

    ***

    IV. Als Berufskommunikator finde ich es wieder einmal mehr als faszinierend, wie die Obama-Regierung sich inszeniert. Vor allem in der Bildsprache, wieder einmal vor allem auf flickr. Großartig.

    2.5.11

    Warum @RegSprecher so nicht twittern sollte

    Nahezu immer sage ich ungefragt, dass ich denke, dass Leute mit Sprecherinfunktion nicht "in Social Media" sein sollten. Schon immer übrigens, auf Podien, in Workshops und so weiter. Das stimmt logischerweise nicht zu 100%, denn selbstverständlich kann es offizielle Sprachrohrdingens geben, beispielsweise den Twitter des Regierungssprechers.

    Völlig unproblematisch, vielleicht peinlich, aber nicht eigentlich ärgerlich, finde ich dabei, dass Herr Seibert sich verschrieben hat. Oder dass die Autokorrektur des iPad - jeder iOS-Nutzer flucht hin und wieder darüber, bis er sie ausschaltet - zugeschlagen hat. Das Problem ist etwas anderes aus meiner Sicht:

    Herr Seibert twittert nicht als der Steffen aus Berlin (noch nicht mal wie sein US-Gegenpart* Mr Pfeiffer unter seinem Namen), sondern auch noch unter dem offiziellen Namen "Regierungssprecher". Und damit hat er genau das Problem, das jede Sprecherin immer hat, wenn sie sich äußert: Was soll das "ich" sein und heißen? Wer für ein Unternehmen oder eine Regierung oder eine Organisation spricht, meint diesen Auftraggeber, wenn er "ich" sagt. In der Öffentlichkeit ist ein Sprecher ein Sprecher - und Stimme seines Herrn, muss zitierfähig sein. Aber nie Person. Das mag bedauern, wer der "reinen Lehre" anhängt, aber das ist sozusagen der Kollateralschaden (oder -nutzen) dieses Jobs.

    Ich habe darüber auch schon kontrovers mit "persönlich twitternden" Sprechern und Sprecherinnen diskutiert - und bin mir bewusst, dass es auch Gründe für die Gegenposition geben kann. Aber wenn ich mir den Sonnabend-Tweet von Herrn Seibert ansehe, ist es für mich die Bestätigung der Regel, dass eine Sprecherin nicht oder nur sehr schwer als Person in Social Media aktiv sein kann - sondern nur als Funktion.

    Seibert schrieb:
    Glückwunsch, Jürgen Klopp und Borussia #Dortmund. Nach so einer überragenden Saison durfte es am Ende einfach keinen anderen Meister geben.
    Und ich frage mich: Wer spricht den zweiten Satz? Seibert? Die Regierung? Die Kanzlerin? Das Presseamt? Sachlich stimme ich ihm ja schweren Herzens zu (trotz des unerträglichen Weidenfellers), aber ich verstehe diese Wertungen (überragend, durfte, keinen) nicht in seiner Funktion.

    Was so schwer an Plattformen wie Twitter ist: Im Eifer des Tages den Überblick zu haben, zu wem ich was als wer sage. Dass die einzelne Nachricht kontextfrei wirken kann und wird. Und dass viele, viele zuhören. Das ist schon für "normale" Profis schwer. Fast unlösbar, zumindest auf Dauer, ist das für Menschen mit einer Sprecherfunktion. Darum rate ich meistens (nicht immer, klar) davon ab.
    Und das ist auch einer der Gründe, warum damals beim Start des Daimlerblogs (full disclosure: Kunde, da war und bin ich beratend beteiligt) beschlossen wurde, dass keine Sprecher dort schreiben werden.

    Update 16.20 Uhr
  • Sehr schön und zu rund 100% meiner Meinung und Erfahrung beschreibt der Kollege Bernhard Jodeleit die denkbaren Konsequenzen und Szenarien. Lesen!

  • * Ist nicht sein Gegenpart - sondern nur der offizielle Twitterer aus dem Weißen Haus, der die Rede angekündigt hat. Danke für die Korrektur in den Kommentaren, die ich mal trotz der Anonymität stehen lasse (nur antworten werde ich nicht auf anonyme Kommentare übrigens).