Ich twitterte heute Vormittag:
Und bekam sofort Widerspruch, vor allem in Direktnachrichten. Das hat mich überrascht. Denn ich rede eigentlich - beispielsweise in Vorträgen - immer wieder davon, dass Kontrollverlust quatsch ist. Vielleicht ist "Flachdenkerwort" zu hart, aber ich halte das Reden vom Kontrollverlust tatsächlich für entweder unüberlegt - oder für eine boulevardtaugliche Verkürzung.
Warum?
I. Welcher Verlust?Tatsächlich ist es ja so, dass die Vorstellung, es hätte beispielsweise jemals eine Kontrolle (der "Message" im PR- und Werbezusammenhang, der Öffentlichkeit im persönlichen Zusammenhang) gegeben, immer schon eine wirklichkeitsferne Autosuggestion gewesen. Kommunikation und soziales Leben fand immer schon in einer von uns nicht kontrollierten Interaktion statt. Immer schon. Schon auf dem Markt. Damals. Vor dem Krieg. Dem 100-jährigen zwischen Frankreich und England.
Wenn es aber kein Verlust ist, weil es nichts zu verlieren gibt - warum dann das Wort "Kontrollverlust"? Gefühlt, ja, vielleicht. Aber mal ehrlich: Ist nicht die Beschreibung eines Gefühls ("Kontrollverlust") als Realität (Kontrollverlust) eben gerade dies: Flachdenkersprech*?
II. Wieso Verlust? Gerade jetzt? Echt?Was mich nachhaltig verstört bei der Rede vom Kontrollverlust, ist eigentlich aber noch radikaler: Es stimmt im Prinzip nicht, dass beispielsweise "Social Media" oder Facebook oder Twitter oder so zu Kontrollverlust führt. Sondern eher das Gegenteil ist der Fall. Denn faktisch macht das, was wir Social Media nennen, nur sichtbar, was es schon immer in Gesprächen gab. Die meisten dieser nun sichtbaren Dinge werden aber gerade dadurch,
dass sie sichtbar sind, eher kontrollierbarer.
Einerseits stimmt der Verlust für Extremsituationen. Wenn es durch Zufall einen Livetwitterer gab, der seine Beobachtungen schrieb, als bin Laden erschossen wurde, dann haben Militär und Regierung keine Kontrolle über die Nachrichtenlage. Und Technologie macht dies sichtbar und reichweitenstark und damit tendenziell relevant. Andererseits heißt diese Sichtbarkeit, dass ich mindestens kontrollieren kann (im Sinne von Messen), was andere sagen. Und dass ich mit meiner Kommunikation schneller und präziser auf mein Umfeld reagieren kann, nicht so sehr in Fallen laufe.
Insofern - und das gilt dann auch für Markenführung - führt die zunehmende Verschriftlichung von sozialer Internaktion und damit ihre Durchsuchbarkeit dazu, dass ich schneller gegensteuern kann (wenn ich möchte). Meine Erfahrung aus den letzten 10 Jahren Onlineleben ist eher, dass ich durch die intensive Nutzung von Social Media faktisch eine Kontrolle in einem vorher nicht kontrollierbaren Raum zurück gewinne.
Eigentlich also war Markenführung noch nie so einfach wie heute (wenn auch noch nie so aufwändig und ressourcenintensiv). Denn über die eigene Aktivität bestimme ich zunehmend, was andere (Kunden, Freunde, Kollegen, potenzielle Arbeitgeber) über mich als Person, Unternehmen, Marke finden. Böse formuliert schafft das, was traditionelle Kommunikatoren als Kontrollverlust
empfinden, eine wunderbare Möglichkeit, endlich "Waffengleichheit" mit den anderen herzustellen. Denn während es "früher" kaum möglich war, in derselben Arena wie meine Kunden und Kritiker aktiv zu sein (an Stammtischen, auf der Straße etc), hat die Verschriftlichung dieser Gespräche nun die Chance eröffnet, meinen Anteil daran ebenfalls sichtbar zu machen.
Eines der faszinierenden Paradoxa rund um Social Media ist doch gerade, dass ich je mehr Kontrolle in diesem Diskursraum gewinne, desto mehr ich von mir preisgebe (als Person, Unternehmen) oder desto mehr ich mich in Gesprächen engagiere. Denn jenseits von Facebook (was ein Sonderfall ist, der ein kleines bisschen anders funktioniert aufgrund der höheren Relevanz des sozialen Interaktionsraumes) ist die Frage, wie ich vermittelt über die Suchmaschine auffindbar bin, eines der entscheidenden Kriterien für erfolgreiche Markenführung (die, sorry, ein Minimum an Kontrolle braucht).
Die Marke "Sascha Lobo" oder auch die Marke "Luebue" wurden genau so gebaut: Über die bewusste Entscheidung, was wir von uns online stellen, welche Themen wir aktiv nutzen, um uns zu positionieren und so weiter. So wie viele Marken und Unternehmen stellen wir "Waffengleichheit" her zwischen denen, die über uns reden, und uns.
III. Dieses ÜberforderungsdingIch ahne, wieso das Reden vom "Kontrollverlust" so gut funktioniert und so sehr vom Boulevard (TV, Medien, Konferenzen) goutiert wird: Weil es in Worte fasst, dass das Zerbrechen der alten Filter auf die Wirklichkeit zu einer latenten Überforderung führt. Ihr wisst, dieses
Shirky-Dings. Insofern kann ich es auch nachvollziehen. Nur vergisst dieses Reden dann, dass "wir" uns ja neue Filter gebaut haben oder zumindest neue Filter gefunden haben, sei es Twitter, sei es Facebook oder was auch immer.
Mein Feldzug ist heute eher, Menschen zu erklären, wieso es kein Problem sein muss, dass auf Twitter unbestritten in seiner Gesamtheit 99% für mich irrelevant ("Schrott") sind. Wie ich beispielsweise Marken kontrolliert durch den unkontrollierbaren Raum navigieren kann. Warum "online" nicht vom so genannten "richtigen Leben" (gemeint ist: von der Kohlenstoffwelt) getrennt ist, sondern ein Teil dieses prallen Dings, das wir Leben nennen.
Ich bin dabei, Menschen, Unternehmen und Marken zu helfen, ihre (gefühlte und echt so empfundene) Überforderung überwinden zu helfen. Und darum langweilt mich das Sprechen vom Kontrollverlust. Es ist flach, falsch und rückwärtsgewandt. Und vielleicht sogar einer der Gründe, warum so Dingens wie die
Digitale Gesellschaft oder die
re:publica so einen schalen Beigeschmack des Sektenhaften haben. Jedenfalls ist es Angstrhetorik, im Kern, denn Verlust gut zu finden, ist pathologisch.
* Was ja nicht heißt, dass es nicht taktisch sinnvoll sein kann, von Kontrollverlust zu sprechen. Viele unserer Zuhörer können ja nun mal maximal flache Gedanken verarbeiten. Been there, done that. Aber an mich selbst habe ich da schon einen anderen Anspruch....