29.10.15

Vom Versagen und von der Angst

Ich finde gerade keine Zeit für das Aufschreiben wirklicher Gedanken. Darum müssen ein paar Splitter raus. Denn nur, weil ich naiv bin, kann und will ich dem Versagen "des Staates" und vor allem eines großen Teils der (politischen) Eliten nicht einfach nur stumm zusehen.

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Seit meinem letzten Text (und wahrscheinlich, weil ich rund um den Einsatz von Freiwilligen bei uns im Dorf deutlich stärker visibel bin als es meiner tatsächlichen Rolle und meinem tatsächlichen Zeiteinsatz entspricht) werde ich sehr häufig von anderen Geschäftsführerinnen und Führungsleuten auf diese Arbeit angesprochen, oft mit dem klaren Wunsch, etwas zu lernen, etwas zu verstehen, was da an der Basis stattfindet. Das finde ich gut.

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Ich saß neulich in einer großen Runde von Top-Managerinnen zusammen. Was ich zunächst gut finde: Dass die Extremsituation, als die wir die Aufnahme der sehr vielen Vertriebenen erleben, dazu führt, die mich in Deutschland so störende Zurückhaltung solcher Runden bei politischen Diskussionen aufzuweichen. Denn politische Gespräche sind etwas, das ich sonst (im Vergleich mit ähnlichen Runden in den USA) hier sehr vermisse.

Erschreckend fand ich nur, wie sehr selbst in solchen Runden Fragen und Thesen fielen, die dicht an Verschwörungstheorien sind. Wie leicht viele von ihnen in der Flüchtlingsfrage in naturalistische Fehlschlüsse stolperten. Wie phantasielos und ängstlich einige (lustigerweise eher die Männer, keine der - wenigen - Frauen in dieser Runde) über das Zusammenbrechen unserer Rechtssysteme und Gesellschaft redeten, ohne die Zuversicht zu haben, dass sich beides als flexibel genug erweisen und sich weiterzuentwickeln in der Lage sein könnte (wer hätte gedacht, dass ich mich da auf Angela Merkel beziehen würde, als ich mit anderen zusammen dagegen hielt).

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Wenn der Panik und des Populismus unverdächtige Abgeordnete hinter vorgehaltener Hand darüber reden, dass die Situation vor Ort im Grunde außer Kontrolle sei, sie aber auch völlig ratlos seien, dann spüre ich Angst vor oder im Versagen.

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Mein Eindruck ist, dass der politische (und weitgehend auch der publizistische) Diskurs versagt. Weil sich so eine Kaninchen-Schlange-Situation ergeben hat. Die einen irrlichtern komplett (Seehofer und Gabriel), die anderen sehen, wo die Stimmung an der Basis brodelt, und geraten derart in Panik, dass sie in Stresssituationen sogar klare Lügen raushauen (de Maizière), die dritten verweigern sich dem Blick auf eben diese Stimmung, weil sie Angst haben, das "Kippen" erst herbei zu reden. Alles drei ist irre. Und verhindert, dass das, was eben dieses "Kippen" aufhalten könnte, angegangen und versucht wird - das kreative Zugehen der staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen auf die Zivilgesellschaft, die seit Wochen aktiv ist und in der seit ungefähr vierzehn Tagen die ersten an den Rand der Erschöpfung geraten sind.

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Ich kann nicht beurteilen, ob es woanders auch so ist. Real und vor Ort kenne ich nur die Situation in Hamburg, und auch da nicht überall. Ich höre teilweise, vor allem vom Land, dass es da, wo klassische Wohlfahrtsträger Unterkünfte für Vertriebene betreiben und Verantwortung übernehmen, besser laufe. Aber das kann auch nur daran liegen, dass es da nicht so viele sind. Immerhin ist es sowohl für die Professionellen als auch für die Freiwilligen eine fast unglaublich anmutende Aufgabe, wenn in den nächsten Wochen (um einmal beim persönlichen Beispiel zu bleiben) fast 6.000 Vertriebene in drei Hallen in einem dörflichen Stadtteil mit bisher rund 10.000 Einwohnerinnen eingezogen sein werden. Auffällig ist nur, dass zumindest in Hamburg, wo der Betrieb dieser Hallen zentral von einer öffentlich-rechtlichen Firma durchgeführt wird, diese Form der Organisation gerade scheitert. Und staatliche und öffentlich-rechtliche, sozusagen quasi-staatliche Organ faktisch versagen (ohne das jemandem individuell vorzuwerfen).

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Beispielsweise ist erschütternd, mit welcher Unverschämtheit sogar ausdrücklich für die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen und der Zivilgesellschaft zuständige Profis zunehmend gegenüber Ehrenamtlichen auftreten. Nicht zu ihnen in die Stadtteile kommen, sondern sie in die Zentrale bitten. Nicht etwa erstmal ein dickes Dankeschön sagen (denn an der Basis verrichten die Freiwilligen zurzeit einen wesentlichen Teil der Arbeit, mit der formal die Firma beauftragt ist, die die Einrichtungen für die Vertriebenen betreibt, und für die sie auch Geld von der Stadt bekommt) - sondern erstmal über die eigene Arbeitsbelastung klagen. Und dann die Freiwilligen angesichts ihrer Fragen und Ideen auslachen.

Oder wie von der Stadt bereitgestellte Mittel (Geld), die meines Wissens eigentlich für Angebote an die Vertriebenen bereitstehen, gezielt für andere Honorarkräfte eingesetzt werden, weil die Profis der Firma sagen, dass in Erstaufnahmen keine Angebote stattfinden sollen. Wodurch beispielsweise schulpflichtige Kinder seit zwei Monaten nicht eine Stunde Schule oder etwas Ähnliches bekommen. Und die Koordinatorin im Bezirk für diese Arbeit erstmal in den Urlaub fährt (auch hier kein individueller Vorwurf, war lange vor ihrer Berufung in diese Aufgabe geplant etc). Faktisch offenbar keine echte Aufsicht stattfindet, zugleich aber auch keine wertschätzende Zusammenarbeit mit den Freiwilligen. Sondern in einem Stadtteil, in dem sich über 300 Menschen selbstständig und ohne auch nur die kleinste Unterstützung durch die Stadt, den Bezirk oder die Verwaltung organisiert haben, um zu helfen, von der öffentlich-rechtlichen Firma, die eigentlich für die Vertriebenen zuständig sein soll, an die Freiwilligen die Forderung gestellt wird, erstmal einen "Runden Tisch" zu bilden.

Hallo? Jemand zu Hause?

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Immer mehr Menschen, die am Anfang voller Elan losgelaufen sind, helfen wollten - und es auch tun -, haben keine Lust mehr, sich von staatlichen Stellen und ihren Subunternehmen wie Dreck behandeln zu lassen. Denn das ist das, was diejenigen von uns, die sich um Kommunikation und Koordination kümmern, jeden Tag von den Freiwilligen zurück gespielt bekommen. Und was auch die Verwaltung, die Abgeordneten, die Regierungsmitglieder, die öffentlich-rechtlichen Firmen wissen, weil wir es ihnen regelmäßig sagen. Und ich selbst muss mich sehr zusammen nehmen, damit ich nicht in die Angst rutsche, dass uns die Freiwilligen noch mehr wegbrechen. Bisher sind es nur einige wenige, die frustriert aufgegeben haben.

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In unserem Stadtteil haben Frauen und Männer, die hier leben, zusammen mit einer Interessengemeinschaft von Ladenbesitzerinnen im leerstehenden ehemaligen Schleckermarkt eine Kleiderkammer eingerichtet, die fast jeden Tag von Freiwilligen besetzt ist, um Spenden anzunehmen und zu sortieren. Im Vorort mit seiner Großwohnsiedlung und seinen Reihenhäusern, nicht in einem linken Szeneviertel. Fast jeden Tag sind Freiwillige mit Angeboten (also dem, wofür dem Träger eigentlich Geld gegeben wurde, damit er das macht) in den Hallen, in denen die Vertriebenen wohnen. Ein Blick in den völlig autonom und ohne professionelle Anleitung von vielen, vielen Freiwilligen gemeinsam geführten Kalender auf der Website lässt mein Herz höher schlagen. Und lässt die de Maizières, Seehofers, Gabriels, Kretschmanns dieses Landes noch armseliger erscheinen, als sie es ohnehin schon sind.

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Allem Versagen zum Trotz und aller Angst entgegen - wir sind nicht allein. Und eines Tages werden wir dieses Land verändert haben.


12.10.15

Dann sind wir eben naiv

Eigentlich wollte ich seit Tagen etwas darüber schreiben, dass ich genauso naiv war wie Barack Obama. Toller Satz, oder? Ihr glaubt gar nicht, wie der Nebensatz von Obama vor der UNO in dieser Stadt raufundrunter weitergesagt wurde, als er Hamburg erwähnte, weil wir hier so super mit unseren Flüchtlingen umgehen. Vielleicht, weil dieser Satz so herrlich naiv war. Und weil die Realität so gar nichts damit zu tun zu haben schien in den letzten Wochen.

Und dann habe ich den Text nicht geschrieben, sondern off the record mit denen, die an kleinen Hebeln in dieser Stadt sitzen und nicht bei drei auf den Bäumen waren, über das gesprochen, was in den Vororten gerade passiert, in denen die Vertriebenen und Flüchtenden untergebracht werden. In riesigen Hallen ohne Spinde, ohne Abgrenzungen, ohne Trennung nach Religionen oder Geschlecht.

Ja, wir, die wir in den Vororten aktiv sind - in meinem Fall: in Meiendorf mit Meiendorf Hilft -, waren am Anfang wirklich ähnlich naiv wie Obama. Und sind in den Mühen der Ebene angekommen. Erleben, wie überfordert die Profis sind, deren Job es ist. Erleben, wie groß die Verwerfungen sind und werden.

Und dann sehe ich, wie sich meine Nachbarinnen und Nachbarn (also nicht direkt, sondern die Leute im Stadtteil, von denen in den großen Häusern, die wir ja auch haben, sind erstaunlich wenige dabei) einfach auf den Weg machen.

Ergebnisse eines der letzten Angebote der AG Kinder von Meiendorf hilft

Es ist diese Gleichzeitigkeit, die mich innehalten lässt. Die mir Mut macht. Die toll ist. Dann sind wir eben naiv. Na und?

Ja, es ist teilweise schwer zu ertragen. Und im Prinzip versagt die Stadt und die von ihr beauftragte Firma für den Betrieb der Unterkünfte gerade auf ganzer Linie. Ja, es ist schwer erträglich, dass in vielen Unterkünften nur deshalb noch keine Christinnen gelyncht wurden, weil christliche Helferinnen sie da raus holten und illegal anders unterbrachten. Ja, es ist beängstigend, wenn auf einmal hunderte Männer über den Zaun auf kleine Mädchen starren, die da auf dem Schulhof spielen.

Aber: Es ist dann auch wieder ermutigend, wie naiv und schnell wir gemeinsam mit den Profis einfach mal Regeln außer Kraft setzen. Wie alle wegsehen (und also die Augen zudrücken), wenn zur Lösung eines Problems jemand etwas macht, das eigentlich nicht vorgesehen ist. Wie sich die Helferinnen nicht entmutigen lassen von Schmutz und Verzweiflung bei 1.000 Menschen ohne Privatsphäre auf engstem Raum. Wie sie anfangen und wissen, dass nicht alles so geht wie gedacht. Und dass erst nach und nach die Menschen, die hier zur Ruhe kommen sollen, auch verstehen und lernen werden, was den Nachbarinnen wichtig ist und womit sie ihnen Angst machen.

Gleichzeitig ist es immer wieder zum Verzweifeln, wie langsam die Mühlen der Bürokratie mahlen. Wie die Realität alle Planungen überholt und nur die, die naiv bleiben, überhaupt noch hinterher kommen. Wer sich an offizielle Regeln hält, scheitert in diesen Wochen noch systematischer als die beauftragten Profis und (städtischen) Unternehmen. Und die scheitern ja schon. Großflächig.

Erst war ich zornig darüber. Und heute bin ich froh, dass andere einfach naiv weitermachen. Und habe einiges gelernt, was ich gerne ungefragt weitergebe:
  • Wir sind einen Marathon gestartet und das schwierigste ist, die Freiwilligen, die hoch motiviert loslegen wollen, bei der Stange zu halten, wenn nichts vorangeht. 
  • Wir erleben eine total spannende und (für mich) neue Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Politik. Ohne die Erfahrung im Umgang mit der regionalen und lokalen Bürokratie (Verwaltung), die unsere Lokalpolitikerinnen haben, wäre viel weniger möglich gewesen. Ohne die Ruhe und den langen Atem der Hauptamtlichen beispielsweise der Kirchengemeinde, die Erfahrung damit haben, Freiwillige zu organisieren, wären wir schon erschöpft. Ohne die Methoden, die wir Berufstätigen und Beraterinnen kennen, hätten wir nie so schnell so viele Nachbarinnen ins Arbeiten und Helfen gebracht. Ohne Scheuklappen arbeiten so viele unterschiedliche Menschen zusammen, dass es eine Freude ist. 
  • Wo immer sich Lokalpolitikerinnen vor Ort in der Koordination der Hilfsgruppen einbringen, hilft das enorm, wegen siehe oben.
  • Jede macht, was sie kann. Und nur, wenn jemand etwas macht, gibt es das. Wenn das einmal klar ist, fangen die Menschen auch an. Und fragen nicht nur, warum es dieses oder jenes nicht gibt. Sobald wir das einmal klar gesagt hatten, waren Fragen und Vorwürfe zu Ende. Das gilt so nicht für die Hauptamtlichen, da ist noch viel im Argen, beispielsweise, dass die nicht darauf vorbereitet waren, mit Freiwilligen zusammen zu arbeiten, dass es allzu lange dauerte, bis sie verstanden haben, dass eine Stunde Kommunikation mit der Koordinierungsgruppe der Freiwilligen ihnen mehr als 20 Stunden Arbeit spart, die von Helferinnen übernommen werden kann. 
  • Demokratie sucks. Einerseits geht es darum, denen, die das noch nicht kennen, unsere langjährig guten Erfahrungen mit dem Kontrollverlust (in Kommunikation und Handeln) zu vermitteln und das Vertrauen in Menschen, die ich nicht kontrollieren kann, aufzubauen. Aber andererseits kann ich auch nicht über alles abstimmen oder es im Konsens tun. Nur wenn einige bereit sind, Entscheidungen zu treffen, die eben nicht vorher ausdiskutiert worden sind, kann es überhaupt gehen. Auch wieder naiv, aber in einer andere Richtung. Eine Gruppe zur Koordination der Hilfe ist nicht gewählt oder beauftragt - sondern übernimmt einfach. Die Facebook-Gruppe ist nicht offen, sondern einige übernehmen einfach, Admin zu sein und Beiträge diktatorisch freizugeben oder nicht.

Jedenfalls habe ich mich dann entschieden, keinen Brandbrief und keinen Brandtext zu schreiben. Meinen Ärger und meine Angst runterzuschlucken. Und weiter das zu machen, was ich beitragen kann und womit ich andere, die tagsüber vor Ort sind, entlaste. Community Management, Vernetzung mit dem Teil von Politik, den ich kenne, die Website. Und das Angebot, da zu sein und zu helfen, wenn die Hetzerinnen und Hetzer der Zeitung mit den großen Buchstaben mal wieder durch den Stadtteil pflügen, um mit erlogenen Geschichten Anwohnerinnen zu strammen Aussagen zu provozieren.

Was die "normalen" Menschen im Stadtteil, die hier zum ersten Mal in ihrem Leben ehrenamtlich aktiv werden und mit Vertriebenen laufen, mit ihren Kindern spielen, Kleidung ausgeben, - was diese Menschen mir zurück gegeben haben, ist der Glaube an das Gute. Und die Naivität.

Ja, verdammt. DANN SIND WIR EBEN NAIV.