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17.9.18

Same procedure as every year

Die GPRA-Präsidentin Christiane Schulz hat eine neue Runde über Sinn und Bezahlung des PR-Agentur-Nachwuchses eröffnet. Und wie erwartbar, hat (immerhin der von mir sehr geschätzte) Thomas Pleil als Vertreter der akademischen PR-Ausbildung ihren Text auseinandergenommen (zusammen mit seinem Kollegen Lars Rademacher).
Wagniserziehung im Kindergarten, 1955, Bundesarchiv, Bild 183-31215-0003 / CC-BY-SA 3.0





Ich finde beide Texte eher wenig hilfreich

Denn tatsächlich hat Thomas aus meiner Sicht Recht, wenn er kritisiert, dass die Verknüpfung von Honoraren, die unter Druck sind, und Ausbildungsgehältern ein schwaches Argument sei. Und ich möchte durchaus noch ergänzen, dass nicht nur Erfahrung der einzige Unterschied zwischen langjährigen Beraterinnen und Berufseinsteigerinnen ist. Nur dass – und Thomas weiß, dass ich das anders sehe, denn darüber diskutieren wir seit vielen Jahren – die "akademische Seite" aus meiner Sicht ihre Ausbildung massiv überschätzt.

Aus meiner Sicht krankt die Diskussion an zwei Stellen:
  • Zum einen an der Vorstellung der PR-Studiengänge davon, was heute moderne Agenturen seien, die sich früher mal "PR-Agentur" nannten – und damit an einer (falschen) Vorstellung, wie gut Absolventinnen von PR-Studiengängen auf die Arbeit in Agenturen vorbereitet seien.
  • Und zum anderen an der offenbar von uns und den Akademikerinnen unterschiedlich beantworteten Frage, ob wir Agenturen unsere jungen Leute ausbilden müssen.

Wen wir suchen, weil wir uns verändert haben

Tatsächlich hat sich aus meiner Sicht das Anforderungsprofil an Menschen in den letzten Jahren radikal verändert, die in Agenturen arbeiten (wollen), die aus der PR kommen. Was dazu führt, dass wir oft mit Leuten besser fahren, die in anderen Fächern als Kommunikation ihre Abschlüsse gemacht haben und die in einem Bereich, der sie wirklich und brennend interessierte, tatsächlich einmal ein bisschen wissenschaftlich gearbeitet haben. Das gilt weder für alle noch stellen wir keine Absolventinnen von einschlägigen Studiengängen ein. Einige unserer besten High Potentials und Anführerinnen haben Kommunikation studiert.
Maximale Flexibilität im Denken und dazu radikale Leistungsbereitschaft
Aber die Vorstellung, jemand mit Kommunikationsstudiengang hätte einen Startvorteil im Job, kann ich aus der Praxis nicht teilen. In einer Zeit, in der das, was in PR-Studiengängen landläufig gelehrt wird, vielleicht noch 10% unserer Arbeit ausmacht, kann ich nicht anders, als meine jungen Leute selbst auszubilden. Einen Startvorteil in einer Agentur hat aus meiner Sicht, wer sich im Studium selbstständig in ein komplexes Thema eingearbeitet hat und es wissenschaftlich aufbereitete – denn dies ist methodisch weit näher an unserer Beratungstätigkeit als etliches vermeintliches Fachwissen, das dann doch nur halb zu unserer jeweiligen Methodik passt. Maximale Flexibilität im Denken anstatt Methodenautismus und dazu radikale Leistungsbereitschaft: Darauf achten wir deutlich mehr als auf einschlägige Fachexpertise.

Was mich darüber hinaus (vielleicht unfairerweise) skeptisch macht: Als Agenturgeschäftsführer bekomme ich etwa 50 Anfragen im Jahr von Studierenden der Kommunikationsfächer für Umfragen und Interviews im Rahmen von Abschlussarbeiten. Und in den letzten Jahren war nur eine einzige davon Werbung für den Studiengang oder die Studentin. Beim Rest musste ich sehr an mich halten, um geduldig und freundlich zu bleiben (was ich zunehmend wieder schaffe, weil es mir wichtig ist, dass Studierende wissenschaftlich arbeiten). Daher: Ich weiß nicht, ob es wirklich nur die ansprechendere "Verpackung" der Themen ist, die dazu führt, dass ich die bei internationalen Preisen ausgezeichneten Abschlussarbeiten und ihre Autorinnen irgendwie fast immer inspirierender fand bisher als die bei deutschen Preisen präsentierten.

Tatsächlich profitieren wir sehr vom aktuellen Wissen und von der wissenschaftlichen Neugier der jungen Leute in unseren Teams. Soziologinnen, Medienwissenschaftlerinnen, Gesundheitswirtinnen, Historikerinnen, Wirtschaftspsychologinnen, Kommunikationswirtinnen und vielen mehr. Impulse aus neuen Erkenntnissen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften sind unschätzbar. Und helfen außerdem den Trainees und Volontärinnen, sich auf das schnelle und sich schnell verändernde Geschäft in Agenturen einzustellen.

Warum wir unseren Nachwuchs gerne ausbilden

Diejenigen von uns, die schon lange oder länger in Agenturen sind, haben sich oft bewusst für eine Agentur entschieden. Und es ist kein Zufall, dass eher diejenigen, die hochspezialisiert in ihrem Feld sind, im Laufe der Berufstätigkeit "quer" in Agenturen einsteigen – und nicht in gleicher Menge die Beraterinnen und Generalistinnen, von denen wir in den Agenturen, die aus der PR kommen, immer noch und (so meine Prognose) auch morgen noch viele haben. Agentur ist etwas, das ich mögen muss. Denn Agentur ist anstrengend, wenn ich nicht weit überdurchschnittlich neugierig bin (ok, sonst auch oft, aber das ist noch mal ein anderes Thema).

In guten und modernen Agenturen haben wir Methoden für Beratung und Kreativität entwickelt, die uns auszeichnen und unterscheidbar machen. Wir haben Positionen zu Trends und Themen, wir wetten auf die Zukunft von professioneller Kommunikation. Wir müssen, wenn wir unser Geld Wert sein wollen, unsere Kundinnen inspirieren und überraschen, etwas anders machen, als sie es erwarten würden, zwei Schritte weiter denken, als sie es heute schon umzusetzen überlegt haben.

Und dafür brauchen wir gemischte Teams. Aus Menschen mit langjähriger Erfahrung, aus total fachfremden Leuten, aus Kreativen und Plannern. Wir haben unsere jeweilige Art entwickelt, wie wir zu Kommunikationsstrategien und großen Ideen kommen. Und wir haben unsere unterschiedlichen Herangehensweisen an Kampagnen und Kanäle. In einigen Agenturen werden integrierte Kampagnen von verschiedenen Spezialistinnen umgesetzt - in anderen werden sie von Generalistinnen über alle Kanäle gespielt. Während bei uns beispielsweise jede Beraterin auch den Facebook Business Manager bedienen kann, wird das in anderen Agenturen in speziellen Social-Media- oder Paid-Media-Teams gemacht.
Agentur ist anstrengend, wenn ich nicht weit überdurchschnittlich neugierig bin
Niemand, die aus einem Studium kommt, kann das alles so können, wie es in der Agentur gebraucht wird. Ein wissenschaftliches Studium würde ich – Stand heute – als Voraussetzung für eine Ausbildung in einer Agentur bezeichnen. Ein kommunikationswissenschaftliches Studium kann da eine Möglichkeit sein. Wenn jemand für Kommunikation brennt und sich brennend für kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen interessiert. Sonst ist es eher keine Möglichkeit, um den Einstieg in eine Agentur zu schaffen, siehe oben, das Brennen und die Neugier.

Ein Traineeship/Volontariat ist dann ähnlich wie in anderen Berufen ein Teil der Ausbildung. Und im Übrigen auch, denn das war ja mal wieder der Ausgangspunkt, ähnlich bezahlt wie ein Referendariat.

22.3.18

Konservative Revolution

Es gehört zu den merkwürdigen Legenden, die sowohl von linksliberalen Intellektuellen als auch von autoritären Rebellinnen immer wieder kolportiert werden, dass Intellektuelle in Deutschland eher links seien. Das war nie so, das ist nicht so, das ist nicht an sich schlimm, finde ich. Denn wie Robert Habeck in (wie er sagen würde) einem Blog wunderschön beschrieb, sind auch für Menschen, die sich eher links oder liberal verorten, konservative Intellektuelle oder Künstlerinnen inspirierend.

Bis in die 60er Jahre hinein stand der Mainstream, wenn es denn so etwas gibt unter Intellektuellen, in Deutschland eigentlich auch sehr konsequent und wirkmächtig rechts bis ganz rechts. Und eine besonders wirkmächtige Bewegung darin war die so genannte "Konservative Revolution", an die einige Autoritäre gerade wieder anknüpfen wollen (obwohl ich ehrlich gesagt eher davon ausgehen würde, dass Dobrindt und andere nicht wissen, woran sie anknüpfen, wenn sie diesen Begriff verwenden). Was mich an der rohen Sprache und dem unpräzisen Raunen einiger Intellektueller gerade in diesem Zusammenhang sehr beunruhigt, ist allerdings, dass die sehr expressionistisch geprägte (George!) Konservative Revolution der 20er und 30er auf Menschen, die für starke Gefühle im intellektuellen Diskurs ansprechbar sind, weit über Konservative hinaus eine hohe emotionale Sogwirkung haben kann.

Friedrich Gogarten

Mein wichtigster Lehrer im Studium hat mich beispielsweise mit Gogarten in Berührung gebracht. Der unter den brillanten Theologen des 20sten Jahrhunderts der war, den ich zur Konservativen Revolution zählen würde (und trotzdem wahrscheinlich der einzige seiner Generation, der Luther, speziell de servo arbitrio, verstanden hat, wie es in jeder Generation fast immer nur eine oder einen gibt). Und mich sehr in seinen Bann zog. Ich kann also (emotional) nachvollziehen, wie sich Menschen dieser Gewalt und gewaltigen Sprachmacht zuwenden, die immer Bestandteil der Konservativen Revolution ist und sein muss.
(Weshalb ich auch nicht wirklich besorgt bin ob des sprachlich armseligen Furors, den aktuell die sich revolutionär empfindenden Konservativen der Erklärung 2018 abbilden.)

Thomas Mann, selbst unverdächtig links oder liberal zu sein, hat ein wunderbares Buch geschrieben, das zwar formal über Musik geht - aber im Grunde von der Konservativen Revolution handelt. Im Doktor Faustus beschreibt er das faustische, teuflische an dieser Lust an der Brutalität. Ich habe das genaue Zitat beim Durchblättern in den letzten Jahren nicht wieder gefunden (und es kann auch sein, dass es gar nicht aus dem Buch selbst ist sondern aus seinem Essay über das Buch), aber in meiner (wahrscheinlich falsch erinnerten) Formulierung ist es mir eine wichtige Leitschnur geworden:
Wo die Altertümlichkeit der Seele auf die Hochfahrenheit des Geistes trifft, da ist der Teufel.

Ethnopluralismus

Davon sind wir noch ein bisschen entfernt, aber eher, weil der Geist derer, die da hochfahren, eher nicht so riesig ist bisher. Weil die großen Intellektuellen, auf die dieser Satz zutrifft, bis auf Sloterdijk verstummt oder tot sind. Und bisher nur kleine nachgekommen sind. Aber das Potenzial ist da, gerade wenn es sich mit der intellektuell brillanten französischen Spielart der Konservativen Revolution verbindet, dem Ethnopluralismus, der so elegant daherkommt, wo die Deutschen so martialisch wirken.

Meine Sorge ist, dass durch die Legende vom linksliberalen intellektuellen Mainstream die reale Größe und die emotional-intellektuelle Gefahr der rohen, revolutionären Konservativen übersehen werden könnte. Denn die Mehrheit der Intellektuellen war immer (sehr) konservativ.

Mein Zwischenfazit ist darum: Es lohnt sich sehr, sich mit den Intellektuellen der „konservativen Revolution“ der 20er/30er zu beschäftigen, die in ihrer (Thomas Mann würde sagen) Hochfahrenheit des Geistes so enthusiastisch waren. Ein großer Teil der Intellektuellen war auch die letzten 30 Jahre rechts - nur dass es nicht so eine Resonanz hatte. Aber Walser, Strauß, Sloterdijk, Bolz, alle die gab es schon. Und Doktor Faustus war faktisch über sie geschrieben.

Verrückt, wie aktuell mein liebstes Lieblingsbuch wieder ist.

18.2.16

¡No pasaran!

Foto von Thierry Ehrmann, cc-by-2.0    

Wir Menschen in der PR stehen ja nicht ganz zu Unrecht im Ruf einer recht großen – sagen wir mal – ethischen Flexibilität. Das ist auch ganz ok, weil es die für Beratung auch braucht. Umso wichtiger finde ich es, mich mit meinen Mitarbeiterinnen zusammen immer mal wieder der Grenzen dieser Flexibilität zu versichern. Beispielsweise würde ich nicht für Waffenhersteller oder -händler arbeiten und nicht für die Tabakindustrie. Wobei letzteres für eine Agentur, die einen großen Schwerpunkt im Bereich Gesundheit und Pharma hat, ja eh ausgeschlossen ist.

Zugleich gibt es für mich Grenzen dessen, was ich an Positionen und Meinungen akzeptabel finde. Das Leugnen des Klimawandels gehört dazu. Auf Verschwörungstheorien beruhende Impfgegnerschaft auch. Und Roland Tichy. Womit wir beim Thema wären. Nach nur zwei Absätzen.

Ich bin ab sofort nicht mehr Kolumnist für das PR Magazin –
weil Redaktion und Verlag lieber Roland Tichy als Kolumnisten behalten wollen. Das ist ok, das sagt ja auch was aus. Deswegen habe ich sie ja auch gefragt. Es sagt nicht nur, dass er ein bekannter Ex-Journalist ist und ich nur das Deutschlandgeschäft einer mittelgroßen Agentur leite. Sondern auch, dass die "Positionen", die Tichy seit seiner massiven Radikalisierung vertritt, für Redaktion und Verlag noch zum Akzeptablen gehören.

Zu Tichy und dem, was er an Propaganda und Hetze auf seinem Blog verbreitet und - noch radikaler - von anderen verbreiten lässt, kann sich jede durch Lektüre der Seite eine Meinung bilden. Selbst Journalistinnen konservativer Publikationen wie der FAZ erscheint Tichy obskur und rechts. Dabei werden die Frankfurter  von dem unbestritten Konservativen Bernd Ziesemer (den ich seit 15 Jahren sehr schätze, seit wir zusammen auf Podien saßen) gerade als allzusehr mit dem Reaktionären liebäugelnd bezeichnet. Lesenswert finde ich auch die unaufgeregte Analyse bei uebermedien.de.

Ich persönlich finde es tragisch und mehr als nur bedauerlich, wie einige frühere Konservative dem Trend der weinerlichen Selbstviktimisierung aufsitzen und ins radikale Lager abwandern. Zusammen mit der wird-man-ja-wohl-sagen-dürfen-Attitüde, die bei erfolgreichen Journalisten, die gar als Chefredakteur Blätter gemacht haben, auch doppelt lächerlich wirkt. Und zusammen mit Verschwörungstheorien, die von einer behaupteten Diktatur (Merkel-Regime) bis zu einer Instrumentalisierung des Wetters (Karneval) gehen. Alle diese Positionen finden sich bei Autorinnen in Tichys Blog reichlich, besonders feiert er selbst ja auf Twitter immer die Artikel von David Berger. (Genau, jenem Ex-Journalisten, der von seinem Verleger als Chefredakteur entlassen wurde, nachdem er nach etlicher Kritik, er sei islamophob, einen Ausschwitz relativierenden Artikel in einen Kanal des Blattes gehoben hatte.)

Auch an den Kolumnen, die Tichy für das PR Magazin schreibt, lässt sich die Entwicklung erkennen – sie begannen als "normale" konservative Wirtschafts- und Politikkommentare. Und sind inzwischen bei radikaler, mit Verschwörungstheorien gespickter Hetze angekommen, die sich raunend im Gleichsetzen von Pegida mit der DDR-Bürgerbewegung von 1989 ergeht.
Dass er bei kritischen Nachfragen und Diskussionsversuchen den Nazi-Mob unter seinen Lesern und Twitterfans auf mich hetzt, ist da nur noch eine Petitesse. Dass er das mit Falschzitaten in seinem Blog macht, schon nicht mehr ganz.

Ich bin nicht so schnell damit, Entscheidungen und Schnitte zu verlangen. Und ich liebe harte und klare Auseinandersetzungen, habe nicht mal etwas dagegen, wenn es dabei hoch her geht oder auch mal jemand verletzt wird. Oft finden sich Lösungen gerade durch diese Diskussionen. Als jemand, der selbst ein konservativer Gogarten'scher Lutheraner ist, habe ich auch immer eine gewisse intellektuelle Lust an der "konservativen Revolution" gehabt, was ich ein bisschen beschämt zugebe. Nur ist mein Anspruch dabei ein Mindestmaß eben an Intellektualität und Argumentation.

Ich kann und werde nicht auf einer Plattform schreiben, die Roland Tichy Raum als Kolumnisten gibt.
Ähnlich wie viele in meinem Umfeld ihre Premium-Mitgliedschaft bei Xing kündigen, weil sie ihn nicht finanzieren wollen. Wer sich gemein macht mit dem neurechten Geraune eines Tichy, kann das gerne tun. Ich empfinde das für mich als eine Beschädigung meiner Person und meiner Integrität. Aber ich habe ja ein Blog, es gibt LinkedIn und andere Fachzeitschriften.


Alles Gute.

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Hintergrund: 
Ich bin seit längerer Zeit schon Kolumnist für das PR Magazin. "Der Netzwelterklärer", geht, logo, um Online dadrin. Am Dienstag, den 9.2., wies das PR Magazin mit einem Tweet auf eine Kolumne von Roland Tichy hin, die auf prmagazin.de erschienen sei. Am gleichen Abend schrieb ich den Redakteurinnen eine längere Nachricht, in der unter anderem hieß:
Ich kann und werde nicht auf der gleichen Plattform wie Herr Tichy publizieren. Eine Kolumnistentätigkeit für eine Zeitschrift, die einem Mann wie Tichy ebenfalls als Raum gibt, kann ich nicht verantworten.
In der Nachricht habe ich das auch ausführlich begründet. Daran schloss sich ein längerer Dialog an. In dieser Woche hat die Redaktion mir angeboten, dass ich – statt aufzuhören – doch meine Kolumne nutzen könne, um eine Gegenposition zu schreiben. Allerdings würden sie in jedem Fall an Tichy als Autoren festhalten. Wir einigten uns dann im Gespräch, dass ich die Gründe in einem Artikel darlege, warum ich nicht auf einer Plattform als Kolumnist tätig sein werde, die an Roland Tichy festhält, nachdem der sich so radikalisiert hat. Diesen Text möchte das PR Magazin nun nicht veröffentlichen, darum steht er hier.

Das finde ich nicht problematisch. Ja, es zeigt, wie ernst gemeint das Diskursangebot war -– aber es ist ok. Mir ist nur wichtig, es hier zu erläutern, weil der Text oben, den ich auch auf LinkedIn veröffentliche, kein Nachtreten ist. Ich habe ihn für das PR Magazin geschrieben, veröffentliche ihn nun hier – und stelle mich damit der Diskussion.

8.7.15

Scharlatane kann ich nicht mit Dünnsinn vertreiben

Ich habe mich sehr über Thomas Armbrüsters Gastbeitrag im Pressesprecher geärgert, in dem er gegen Authentizität in der Führung wettert. Er ist ja fast genau mein Alter und ebenfalls Norddeutscher, also in einer ähnlichen ideologischen Großwetterlage aufgewachsen wie ich (allerdings legt sein Lebensweg nahe, dass er am exakt anderen Ende des Spektrums akzeptabler eigener Interpretationen dieser Wetterlage lag als ich), was deshalb wichtig ist, weil ich prinzipisch nachvollziehen kann, wogegen er wettert, weil ich ungefähr die gleichen Trends und Deformationen miterlebte und sah.

Das vorweg geschickt also.
Was es nicht besser macht.

Armbrüster konstatiert gleich zu Anfang:
Überall hört man den Ruf nach Authentizität. ... Er ist ein Irrweg der Personal- und Führungskräfteentwicklung und kann zu einem Mangel an Professionalität und Integrität führen.
Und das ist im Kern das, was er dann länglich ausführt.
Und das halte ich für totalen Unsinn.

Im Grunde könnte ich auf meinen Blogpost vom Februar 2009 verweisen, in dem das meiste zum Missverständnis rund um Authentizität bereits gesagt ist. Kernsatz damals war - und stimmt meines Erachtens bis heute:
Ich denke, dass oft Authentizität mit Unmittelbarkeit verwechselt wird.
Was Armbrüster im Verlauf seines komplett polemischen Textes fast glossenartig ausführt, beruht auf einer mich bei ihm wirklich sehr überraschenden Fehleinschätzung, was denn authentisch, was denn Authentizität sei.

Ich teile seine Polemik gegen die Scharlatane der Beratungsbranche,
die mit eben derselben Verwechslung sehr viel Schaden bei unbedarften Menschen anrichten, die führen wollen/sollen/müssen und ihre Hilfe suchen. Nur: "sei authentisch" heißt eben nicht "sag immer direkt, was du denkst". Es heißt nicht einmal "sei ganz du selbst" oder referenzierte gar auf einen (ja, da hat Armbrüster Recht, absurden) "inneren Wesenskern". Das ist Vulgärbiologismus, ja.

Ich kann es nur noch einmal betonen: Authentizität hat sehr viel mit Kultur und sehr wenig mit Natur zu tun. So wie Professionalität und Integrität. Wikipedia ist sicher in einer kulturphilosophischen Debatte nicht die seligmachende Quelle, aber dennoch lohnt ein Blick auf den Artikel zur Authentizität, um deutlich zu machen, wie sehr und wie ideologisch Armbrüster den Begriff für seine Bedürfnisse verbiegt und manipuliert.

Ich halte das, was und wie Armbrüster argumentiert, für unredlich, wirklich - und darum ärgert es mich so. Er zeichnet ein Zerrbild von Authentizität, das, wäre es richtig, ja auch tatsächlich grauenvoll wäre. Und begründet damit, warum es aus dem Vokabular von Führung getilgt gehörte. Dabei gehörte nur das Zerrbild, nur die Scharlatanie getilgt, denke ich.

Vielleicht bin ich deshalb so emotional in dieser Frage, weil ich in den letzten Jahren eher die angelsächsische Diskussion verfolgt und mitgestaltet habe. Als wir Edelman Digital aufbauten, nannten wir unser Blog Authenticities (gibt es nicht mehr). Bei Cohn & Wolfe, deren Geschäft ich in Deutschland führe, haben wir eine groß angelegte Untersuchung und Position zu Authentic Brands. Interessanterweise habe ich wenige der Verzerrungen, die Armbrüster einerseits kritisiert und andererseits fortschreibt, in der englischen Diskussion gesehen bisher.

Mir ist Authentizität gerade in der Führung wichtig.
Wiederum ebenso wie Professionalität und Integrität - ich kann da, wenn Authentizität richtig verstanden wird und nicht mit Unmittelbarkeit verwechselt, keinen Widerspruch sehen. Sicher - ich kenne auch authentische Führungskräfte, die nicht professionell sind (oh ja) oder/und nicht integer. Allerdings sind selbst die besser zu ertragen, wenn sie wenigstens authentisch sind.

Im Bereich Führung - anders vielleicht als im Bereich Marketing/Kommunikation - scheint mir Authentizität einer der Schlüssel für Berechenbarkeit zu sein und dafür, dass ich als Führungskraft von denen, die ich führe, "gelesen" werden kann. Was beispielsweise nicht geht, wenn ich unmittelbar bin, weil das oft  - logischerweise - erratisch ist. Wenn bei einer Führungskraft eine Linie zu erkennen ist, hängt das nach meiner Erfahrung sehr oft damit zusammen, dass sie authentisch handelt.

Authentisch kann nur sein, wer ein Werte- und Haltungssystem für sich entwickelt hat, wer eine Linie gefunden hat. Siehe im oben verlinkten Blogpost meine These, dass Kinder nicht authentisch sind sondern eben nur unmittelbar. Authentisch sein, heißt nicht, alles rauszulassen, was mir in den Kopf kommt oder auf der Leber liegt, sondern ein konsistentes Bild von mir zu schaffen, das mit meinen Werten und meiner Haltung zu tun hat. Darum können auch Arschlöcher authentisch sein. Auch, wenn das dann nicht professionell ist. Und darum gehört zu professionellem Führungsverhalten immer auch Authentizität. Im Gegensatz zu Armbrüster formuliere ich also (und in Anlehnung an seine Polemik auch etwas polemisch) -

Wer glaubt, ohne Authentizität und ohne Arbeit an authentischem Handeln 
professionell führen zu können, irrt. 
Und scheitert als Führungskraft. 
Total.




(Allerdings ich bin ja auch nur Praktiker und nicht Theoretiker oder Berater in diesen Fragen...)

26.5.15

Ein Lob der Filterblase

Überall wird über Filterblasen (oder Filter-Bubbles) geredet. Meist geklagt. Darüber, wie anders alles sei als früherTM. Und überhaupt. Aus dem Augenwinkel sah ich den Tweet der geschätzten Claudia Klinger, der mich zu Widerspruch reizte -
- und mir deutlich machte, wie sehr ich bereinigte Filterblasen brauche. Und wie gut und gesund Filterblasen sind. Zugleich hängt das, was ich beobachte und brauche, auch damit zusammen, dass ich ja schon die Analyse "aggressiv" für die Jetzt-Zeit nicht teile (oder jedenfalls nicht, dass diese Zeit aggressiver sei als eine frühere, schrieb ich gerade erst zu).

Tatsächlich konnte ich früherTM, als ich aufwuchs, in meiner wildern Zeit, in gewisser Weise unaufgeregter radikal und aggressiv sein, weil wir, die wir unterschiedliche Haltungen zu so ziemlich allem hatten, uns besser aus dem Weg gehen konnten - oder es zumindest taten. Außer in der Schule, die im Grunde schon wie die Jetzt-Zeit funktionierte mit ihrer Enge und ihrer über alle Bedürfnisse hinausgehenden Verbundenheit und ihrem Netzwerk.
(Was mich zur Frage bringt, ob die Vernetzung und Transparenz von Diskussionen und Auseinandersetzungen heute nicht eigentlich die Verlängerung der Schulzeit ins Unendliche ist. Oder wie es so wunderbar in der ersten Folge von Glee heißt: Die Highschool endet nie. Aber das ist eine andere Geschichte, der ich mal nachgehen muss. Hat dazu schon jemand was lesenswertes geschrieben?)
Filterblasen sind wichtig
An sich war Verbindung und Transparenz ja eines der Versprechen und eine der Hoffnungen, die wir rund um Netzwerke und den Siegeszug von Onlinekommunikation hatten. Was zu einem Teil auch eingetreten ist. Kollateralschaden (ja, würde ich so nennen wollen) war allerdings, dass wir uns nicht mehr aus dem Weg gehen konnten - oder genau das anstrengend wurde. Störkommunikation funkte immer dazwischen, wenn sich Gruppen, die sich früherTM in der Kohlenstoffwelt oder in Zeitschriften über ihre Positionen und Argumente versicherten, nun in (halb-) öffentlichen Räumen im Internet trafen.

Die Kurzatmigkeit und die Selbstzerstörungskräfte sind aus meiner Sicht eine Folge von Transparenz und digitaler Nähe. Vom permanenten Schulhof mit seiner besonderen sozialen Dynamik, die hinter mir zu lassen eine der großen Erleichterungen meines Wechsels ins Studium war. So lange mediale Diskurse (beispielsweise) sich noch so verhalten wie früherTM, in der vordigitalen Zeit, verlieren interne und suchende Diskussionen, eben auch solche, die Abgrenzungen brauchen und probieren, ihre Funktion - nämlich die der Vorklärung vor dem öffentlichen Diskurs.

Filterblasen hat es immer gegeben. In der vordigitalen Zeit durch die Kreise, in denen ich mich bewegte und die Medien, die ich konsumierte oder gestaltete. Zehn Jahre öffentlich einsehbare Filterblasen zeigen zumindest mir, dass sie wichtig sind und eine wichtige Funktion haben.

Blocken und Löschen
Persönliche öffentliche Kommunikation heute hat aus meiner Sicht die Zwitterfunktion (die nach meiner Erfahrung auch professionelle öffentliche Kommunikation in Netzwerken hat, beispielsweise in Unternehmensblogs oder Facebookseiten, die jeweils mindestens so sehr nach Innen wirken wie nach Außen), einen engeren Kreis zu erreichen und für andere sichtbar und auffindbar zu sein. Das mache ich bevorzugt hier im Blog.

Auf Netzwerk-Plattformen ist das etwas anders. Und seit ich mich beispielsweise auf Twitter bewusst von denen abgrenze, mit denen ich nichts zu tun haben will - indem ich misogyne oder rassistische Leute blocke, also selbst ihre mich direkt adressierenden Absonderungen nicht mehr sehe -, geht es mir besser. Und bin ich lustigerweise auch weniger aggressiv. Das Herstellen einer Filterblase ist wichtig und hilfreich. Und übrigens auch sozusagen natürlich.

Wiederentdeckung von Flüchtigkeit
Gegen die Kurzatmigkeit und die Skandalisierungsmaschine helfen daneben flüchtige Kommunikationsformen. So war es immer schon mit dem Hintergrundgespräch, das nicht aufgezeichnet wurde, mit dem nicht aufgenommenen Telefonat, mit dem Smalltalk bei Treffen, Partys, Empfängen.

Und so ist es mit den neuen Netzwerken, die ich Ephemeral Media nenne. Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, dass sie vor allem von jungen Leuten, die das FrüherTM der vordigitalen Kommunikation nicht kennen, so stark genutzt und gebraucht werden. Weil sie eben das Bedürfnis von gefilterter und nicht durchsuchbarer Kommunikation befriedigen. Weil eben ein öffentliches Gespräch, das dann über Periscope aber nur 24h erreichbar und auch in dieser Zeit nicht durch Suche (also zufällig) auffindbar ist, anders ist als eines, das permanent in die zweitgrößte Suchmaschine (YouTube) eingespeist wird.

Filterblasen, Löschen, Blocken, flüchtige Medien - alles das kann, davon bin ich überzeugt, kurzatmige Aufschaukelungen eindämmen. Und darum mag ich sie. Sie sind die Grundlage einer gehaltvollen Diskussionskultur. Wie wir ex negativo am kommunikativ gescheiterten Piraten-Experiment totaler Transparenz und Permanenz in Diskussionen sehen konnten.

13.5.14

Einfach mal die Klappe halten

Ich lache jedes Mal laut, wenn jemand mit dieser wunderbaren Ausrede kommt, es gäbe keine Frauen, die mitmachen wollten. Oder es hätten keine Zeit gehabt. Oder keine gewollt. Oder sich keine gemeldet. Oder so.

Ach ja, doo. Das gleiche Argument, von der Struktur her, höre ich auch, wenn in meiner Partei, den Grünen, Männer (und teilweise auch Frauen) sich "beschweren", eine quotierte Liste hindere Männer an etwas, weil nicht genug Frauen mitmachen.

Meine Tipps dazu:
  1. Einfach mal die Klappe halten und sich nicht so wichtig nehmen.
  2. Einfach mal darüber nachdenken, ob es sein könnte, dass so wenige Frauen mitmachen wollen, weil es einfach doof ist, was ich vorhabe.
  3. Einfach mal absagen, wenn es nicht möglich ist, etwas mit mehr Verschiedenheit zu besetzen.
  4. Einfach mal anstrengen, wenn es dir wirklich wichtig ist, das Thema. Denn wenn es auch anderen so geht, werden sich auch andere finden. Sonst 2. oder 3. versuchen.
  5. Einfach mal die Klappe halten und sich nicht so wichtig nehmen. Bist du nicht.
In den letzten fünfundzwanzig Jahren, in denen ich halbwegs sensibilisiert für Verschiedenheiten und vor allem für feministische Fragestellungen unterwegs war, hat sich als über-den-Daumen-Realität herausgestellt, dass Dinge, für die sich kaum Frauen finden ließen, um mitzumachen, mitzudiskutieren etc auch echt doof waren. Und dass die Jungs es besser gelassen hätten. Denn die Bereitschaft von Frauen, sich zu engagieren und zu beteiligen, ist ein ziemlich guter Indikator für Undoofheit, so ist meine Erfahrung. Und die drei Fälle, in denen dieser Indikator falsch lag, sind dann ein verschmerzbarer Kollateralschaden.

Nein, ich rede weder explizit über den Krautreporter noch über die falschrum teilquotierten Listen der Grünen in Wandsbek und Rahlstedt für die Bezirksversammlungswahl.
Symbolbild.
Bild: By Elvis untot (Own work) CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) 








Aber irgendwie auch.

10.5.14

Aufbruch zum Denken

Dass ich nicht so der re:publica-Gänger war, lag nicht an der re:publica. Im Gegenteil: als sie damit anfingen, die auf die Beine zu stellen, kannte ich ja die Leute, die die re:publica machten, schon lange, sie stammen, wie es die Kaltmamsell immer so nett formuliert, "aus der gleichen Ecke des Internets" wie ich, aus dieser Altbloggerdingens. Es war nur so, dass es terminlich nie passte, vor allem, wenn es in den Schulferien lag (die in Hamburg ein bisschen antizyklisch sind im Frühjahr). Und dann hab ich das eine oder andere Mal die jungen Leute hingeschickt und im Büro die Stellung gehalten.

Was mir beim Stöbern durch die Konserven nie so komplett klar wurde und was ich auch von denen, die da waren, nie so klar gespiegelt bekam, war etwas, das mich dieses Jahr, auch wenn ich nur einen Tag vor Ort sein konnte, unglaublich fasziniert und begeistert hat: Dass die re:publica keine Internetkonferenz ist sondern tatsächlich ganz anders, also so richtig ganz anders als eine solche. Dass sie denen, die sich darauf einlassen mögen, einen Anlass zum Denken bietet. Und dass sie ein Aufbruch zum Denken ist.
(Vielleicht bin ich zurzeit auch nur so besonders empfänglich für die, die an den gleichen Fragen denken wie ich. Die sich mit der Frage der Radikalität und der Re-radikalisierung auseinandersetzen - und der Frage, ob sie jetzt nötig und hilfreich ist, bis hin zum echten und nicht an sich mehrheitsfähigen Widerstand. Ich selbst raune ja das eine oder andere in dieser Richtung seit einiger Zeit in mein Blog, auch, weil ich mich nicht traue, die eigentliche Konsequenz wirklich auszusprechen. Vielleicht ist das Blog auch nicht der Ort dafür, sondern eher ein Buch, ein Pamphlet oder ein Vortrag. Das aber nur am Rande.)
Und auch, wenn ich noch längst nicht alle Themen nachgehört und nachgesehen habe, die mich ansprechen und anzuregen versprechen, finde ich es nahezu beglückend, dass zwei der besonderen und besonders anregenden Vorträge von jungen Frauen stammten, die zeigen, dass es eben über die Generationen hinweg eine Kontinuität (da ist es wieder) widerständigen Denkens geben kann.
(Zur Lobo-Rede hatte ich mich ja bereits zustimmend geäußert übrigens.)

Laurie Penny habe ich auch schon sehr gerne und mit großem persönlichen Gewinn gelesen, vielleicht ist sie wirklich die wichtigste Feministin der nächsten Generation (dringende Leseempfehlung ist ihr Aufsatzbändchen Fleischmarkt). Auf sie war ich besonders gespannt und froh, sie einmal live zu erleben. Und Teresa Bücker ist, ja, ich weiß, da bin ich nicht der einzige, der das sagt, vielleicht der Geheimtipp dieser re:publica überhaupt gewesen. Und ihre Aufregung schadet ihrem Vortrag in keiner Weise.

Zusammen 90 Minuten, die sich mehr als lohnen. Und die für einen Aufbruch zum Denken stehen, wie ihn zurzeit wirklich nur die re:publica schaffen kann.



13.3.14

Fortpflanzungsgemurkse

Ich habe lange, wirklich lange überlegt, ob ich doch noch etwas schreibe oder nicht über Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Rede vom 2. März. Interessanterweise habe auch ich erst von dieser Rede erfahren, als ich über die Kritik an ihr etwas hörte. Vielleicht hatte ich dabei Glück, denn es war in "Kultur heute" im Deutschlandfunk - und offenbar eine der wenigen Erwähnungen der Diskussion, die nicht durch massive Zitatverkürzungen einen Skandal herbeiredete. Sondern im Gegenteil angesichts der Diskussion und des offenen Briefs der Dredner Dramaturgen Koall längere Ausschnitte aus der Rede dokumentierte. Das war am 6. März. Und ich twitterte daraufhin:
Was mir viel Kritik einbrachte, mich um die 50 Follower kostete, und dazu führe, dass ich einige wenige weitere Leute blockte.  Und es brachte mich in eine recht fruchtbare, weil zwar kontrovers und hart aber kultiviert geführte Twitter-Diskussion mit dem SpOn-Redakteur Konrad Lischka.

Danach habe ich die Rede noch einige Male im Audiostream gehört, den das Staatsschauspiel auf seiner Seite anbietet. Und je häufiger ich die Rede hörte, desto mehr ärgerte ich mich über die Reaktionen darauf. Ja, ich teile auch nicht alle Punkte. Ja, ich finde es gräßlich, dass Lewitscharoff zustimmend den Rechtsdenker Peter Sloterdijk erwähnt, zumal sie nicht mal Recht damit hat, dass er "der einzige" sei, der dieses Thema bearbeitet habe. Ja, ich finde den rechtspopulistischen Duktus des Man-wird-ja-wohl-noch-mal-sagen-Dürfen in ihrer Selbstverteidigung gegenüber der FAZ eklig, um in ihren Worten zu bleiben. Wer Sloterdijk gut findet und solchen Fuß-Aufstampf-Kram sagt, verortet sich selbst so weit rechts außen im politischen Spektrum, dass sie eigentlich beschwiegen werden müsste.

Eigentlich, wäre da nicht die Dresdner Rede. Die zu 2/3 aus der Ich-Perspektive und äußerst subjektiv - aber nicht minder spannend und dicht und nachdenklich-machend - über Leiden und die Grenzen des Lebens redet. Und zu knapp 1/3 dann auf den Beginn des Lebens zu sprechen kommt. Lewitscharoff spricht Themen an, mit denen ich mich theologisch, praktisch und ethisch seit fast fünfundzwanzig (in Worten: 25) Jahren beschäftige. Denen der Medizinethik und der ethischen und theologischen, anthropologischen Fragen der Pränatalmedizin. Inhaltlich stimme ich ihr zu etwa 90% oder etwas mehr zu. Was es vielleicht auch leichter macht, nicht bewusst zu versuchen, sie misszuverstehen. Und was, das merkte ich in den Diskussionen auf Twitter und in der Kohlenstoffwelt, eine Position ist, die zurzeit unpopulär ist.

Extrem interessant finde ich, dass ich bei denen, die Lewitscharoff (inhaltlich) kritisierten und denen, die in Ansätzen mit mir diskutierten, den Eindruck habe, dass sie die Rede nicht gehört oder gelesen haben. Denn beispielsweise wendet sie sich (und wende ich mich) nicht gegen die, die als Paar einen (insbesondere und auch mit medizinischer Indikation) unerfüllten Kinderwunsch haben und zu Methoden der künstlichen Befruchtung greifen. Finde ich für mich keine Option (brauchte ich aber auch nicht), finde ich aber ethisch und anthropologisch vertretbar. Ebenso argumentiert, mit etwas anderen Worten, auch Lewitscharoff. Aber genau diese Menschen und ihr Leid wurden als Kronzeugen gegen sie angeführt - was nicht nur falsch ist sondern auch mehr als nur unfair. Es ist üble Nachrede.

Die Fragen des Beginns und des Endes des Lebens, über die diese Rede spricht, sind alles andere als einfach und eindeutig. Ich denke, dass es absolut angemessen ist (obwohl ihr auch das ja vorgeworfen wurde), hier zunächst sehr personal zu argumentieren, sehr auf Empfindungen und Gefühle zu hören und sie zu beschreiben, Dankbarkeit und Ekel zu benennen. So lange ich nicht den Fehler mache, aus dieser personalen Sicht Regeln für alle zu machen. Was - anders als die Kritik an ihr suggeriert - Lewitscharoff mit nicht einem Wort tut.

Und so oder so - dieser ganz kurze theologische Exkurs sei mir gestattet - ist die reformatorische Unterscheidung von "Sünde" und "Sünder" hier ja sehr relevant. Aus christlich-lutherischer Sicht ist es nie angemessen, Menschen zu verurteilen, die etwas tun, was ich für falsch halte. So wenig übrigens, wie es angemessen wäre, ihr Verhalten in diesem Fall kritiklos zu akzeptieren. Dies macht es aus christlicher Sicht auch etwas einfacher, die Diskussion über den Beginn und das Ende des Lebens zu führen. Denn auch diejenigen, die hier anderer Meinung sind als man selbst oder als das, worauf sich "die Kirche" geeinigt hat (mal etwas verkürzt ausgedrückt), werde ich nicht verurteilen oder ihnen den guten Willen absprechen, selbst wenn ich ihre Position oder Handlung scharf kritisiere.

Halbwesen
Die eigentliche Aufregung aber hat sich ja aus der - ja - etwas kruden Wortwahl ergeben, die Lewitscharoff gewählt hat. Und bei der ihr die eine oder andere auch gleich unterstellte, es ginge ihr nur um ihr Buch und die Promotion. Als ob da nicht der Büchnerpreis schon ganz gut geholfen hätte. Naja.

Das eine oder andere, was sie sagt, finde ich auch nicht richtig. Aber auch die fiesesten Worte hat sie schon bevor sie fielen, eingebettet. Sie spricht direkt vorher davon, dass sie jetzt übertreibt, weil sie so besonders wütend ist und sich so besonders ekelt. Und sie nimmt das Wort "Halbwesen" schon im nächsten Halbsatz wieder zurück, indem sie darauf hinweist, wie unfair und falsch es sei. Wer noch einmal nur diese Passage hören will - ab Minute 42 beginnt sie, ich habe die Rede hier unten eingebettet (direkt von der Staatsschauspiel-Seite her).

Die Dresdner rede von Sibylle Lewitscharoff ist sperrig und eigenwillig und in der Art, wie sie "ich" sagt, auch nicht allgemeingültig oder im klassischen Sinne philosophisch. Wohl aber im Buber'schen Sinne dialogisch, scheint mir. Aber das ist eine andere Geschichte. Es lohnt sich, über diese Themen zu streiten. Und wenn ich der Rednerin etwas vorwerfen will, dann dies: Dass sie es den Denkfaulen und denen, die explizit und begründet anderer Meinung sind als sie (und ich), allzu leicht macht, indem sie ihnen einen Brocken hinwirft, auf den sie sich reflexhaft stürzen. Und so die Diskussion vermeiden über Leid und Wohl am Lebensanfang und am Lebensende. Über die ethischen und anthropologischen Grenzen und Chancen der "frankenstein'schen Medizin".

So oder so lohnt es sich, die Rede noch einmal am Stück zu hören. Darum hier direkt das Audio.

 

Und für die, die es woanders hören wollen, hier die  Audiodatei als MP3 zum Herunterladen. Beides direkt von der Seite des Staatsschauspiels, so dass es hier weg ist, wenn es dort verschwinden sollte.

14.5.13

Nächste Runde der Disruption

Seit Anfang dieser Woche fahren eine Reihe von Onlinenachrichtenseiten, vor allem solche der traditionellen Verlage, eine Onlinekampagne auf ihren eigenen Seiten gegen Browser-Plug-Ins wie "Ad Block" und ähnliche.

In einer quasi persönlichen Botschaft an Besucherinnen ihrer Seite, die Adblocker installiert haben, bitten sie diese, die Adblocker abzuschalten. Ihre Kernbotschaft: Helft uns, uns zu refinanzieren über Werbung, damit wir weiterhin Nachrichten ins Internet schreiben können.

Was ich spannend fand, war, dass nach meiner Beobachtung die Reaktion darauf fast hälftig zweigeteilt war: Die einen fanden die Botschaft nett und freundlich.

Und die anderen haben sich sehr genau darüber geärgert.

Ich halte die Aktion, nachdem ich sie zunächst charmant fand, für falsch. Einerseits verstehe ich zwar den Punkt, den die Verlage machen (wollen). Und ebenso einerseits arbeite ich ja nun selbst in Kommunikation und "Reklame" (wie einer unserer Kunden Werbung nennt). Andererseits kann aber auch ich die Art der Werbung auf den klassischen Nachrichtenseiten der Verlage nicht ertragen.

Einige Leute, denen ich online zuhöre, haben den Versuch gemacht, ihre Adblocker zu deaktivieren. Für so ungefähr eine Stunde, länger hielten sie es nicht aus - das Geblinke, die grauenhafte Optik, dass sich da was bewegte oder gar Töne von sich gab. Obwohl einige von ihnen und ich ja auch das Argument der Verlage einleuchtend fanden, waren die Erlebnisse mit Werbung dann doch allzu verstörend und eklig,

Insofern scheint mir eher ein (ungewollter?) Nebeneffekt der Kampagne der Verlage spannend zu sein: Dass eine längst überfällig Diskussion über gute und schlechte Onlinewerbung losgeht. Immerhin - was ja auch interessant ist - haben gestern und heute wahrscheinlich eine ganze Menge Onlineprofis (auch aus Kommunikation und Werbung) erstmals seit Jahren Onlinewerbung in freier Wildbahn gesehen. Also das, was Werber vielleicht (hoffentlich nicht, aber ich befürchte, da trügt meine Hoffnung) als State-of-the-art in der Onlinewerbung ansehen. Die meisten Leute, die erfahren mit dem Internet umgehen oder damit ernsthaft arbeiten, haben ja Adblocker (oder, wie ich, Flashblocker) in ihren Browsern. Warum wohl?

Der Schock der grausigen Realität könnte nun zu dieser Diskussion führen: Welche Art von Werbung online ist gut, ist akzeptabel? Jetzt. Oder zukünftig. Immerhin werden die meisten "von uns" ja durchaus im Prinzip wissen, dass Onlinejournalismus und sogar nur bloßes Publizieren online Einnahmen aus Werbung und dergleichen braucht. Denn die einzige Alternative, die Verlagen bisher dazu eingefallen ist, wären Paywalls.

Aber solange wie Verlage und Onlinewerber Ideen und Werbeformen aus der Vergangenheit, also der Zeit, in der Platz knapp war, einfach so auf einen Medienraum übertragen, in dem Platz nicht das Problem ist und in dem ich so schnell weg bin wie ich kam, wenn mir zu viel Geblinke dabei ist. Solange sie sogar noch auf Werbeformen setzen, die sich bewegen, blinken oder Töne spucken, ohne dass ich dafür geklickt hätte. Solange sie also nur nach Gnade rufen ohne darauf zu achten, dass ihre Leserinnen/Zuschauerinnen eine Sehnsucht nach Ruhe und Schönheit haben - solange werden sie unsere Herzen nicht gewinnen.

Immerhin - im Prinzip ist jetzt eine großartige Zeit für Menschen, die kreativ und zukunftsgerichtet über Onlinewerbung nachdenken. Fein, dass diese Diskussion beginnt.

ursprünglich auf Englisch im Text-Blog-Netzwerk Medium veröffentlicht.

Und erst danach gelesen: Tapios Blick auf das Thema von der anderen Seite - eine gute Ergänzung zu diesem Text.

28.2.13

Wer Kundenkritik scheiße findet, sollte den Job wechseln

Gestern plädierte ich dafür, dass zumindest diejenigen, die ein bisschen was von Onlinekommunikation verstehen, auf dieses böse Wort Shitstorm verzichten, das sich bei den Laien für Onlineerregungszyklen etabliert zu haben scheint. Das traf nicht nur auf Zustimmung, beispielsweise im Blog der Kolleginnen von pr://ip und davon ausgehend in der kurzen Googleplus-Diskussion bei Christoph Salzig. Anderen war ich nicht deutlich und zornig genug.

Also werde ich mal etwas deutlicher: Geht's noch?

Mir geht es nicht um das Wort. Mir geht es um darum, dass es Leute gibt, die ein ohnehin nur mäßig komplexes Problem (Leute beschweren sich online) durch eine weitere und überflüssige Komplexitätsreduktion fröhlich weglächeln oder hektisch scheineskalieren. Und das finde ich scheiße. Nicht aber Kundinnenkritik.

robidog
Symbolbild: "Scheiße" (CC BY-SA-2.0 dev null)
Ich kann verstehen, wenn jemand in einem Unternehmen bei 15 Kundinnenbeschwerden auf der Facebookseite "Shitstorm" kräht, weil sie damit sofort die Aufmerksamkeit der Marketingleiterin oder der Geschäftsführung bekommt. Geschenkt. Bin ich Kommunikationsprofi genug, das als akzeptablen Weg im Ressourcenkrieg zu sehen. Aber dann?

Anzunehmen, es ginge bei dieser Entrüstung der Kundinnen um ethische Verfehlungen des Unternehmens? Ums Prinzip? Um eine Welle? Geht's noch?

Oder darum, dass ein Mob anonym drauflos prügelt? Bei 15 Leuten? Mob? Geht's noch? Schon mal im Callcenter des Unternehmens gewesen? Oder schon mal fünf Minuten in der Fußgängerinnenzone in Plön den Leuten zugehört?

Wer Kundinnenkritik scheiße findet, sollte den Job wechseln. Denn nichts anderes als diese Haltung spricht ja aus der Vorstellung, Kritik, und sei es harte und unsachliche Kritik, sei ein Shitstorm. Sagte ich schon, dass es mir nicht um das Wort geht? Sondern um die roten Stressflecken?

Weisere Leute als ich es bin sprechen von einer Kultur des Aushaltens, die ein Unternehmen entwickeln müsse, wolle es in der heutigen Zeit online bestehen. Und nicht von einer Kultur der hektischen Überreaktion und scheineskalierenden Komplexitätsreduktion.

Um es mal klar zu sagen: Leute, die aus Akquisegründen (oder was weiß ich warum) wider besseres Wissen die Wirklichkeit verzerren, um sie so wunderbar plakativ einfach zu haben wie die Kundin sie gerne hätte, finde ich scheiße. Nicht aber Kundinnenkritik.

Wenn ein Unternehmen mit Filialen in jedem Unterzentrum sich von seiner Agentur einen TV-Spot aufschwatzen lässt, der - sagen wir es mal so, wie es ist - scheiße ist. Und wenn dann einige wenige Kundinnen sich beschweren, das Unternehmen würde damit Tierquälerei unterstützen. Und wenn dann einige wenige Aktivistinnen von Tierschutzorganisationen eine kleine und wenig erfolgreiche Onlinekampagne starten. Dann ist das vielleicht doof gelaufen. Dann ist das vielleicht auch echt unangenehm. Aber dann ist das kein Shitstorm. Und auch - zumindest von den Kundinnen - echt nicht scheiße.

Mir ist im Grunde egal, welches Wort ihr benutzt, wenn ihr massive Erregungen, die sich in kurzer Zeit online hochschaukeln, beschreiben wollt. Echt. Aber hört verdammt noch mal auf, mit diesem Wort auch all das zu belegen, was normale Kommunikation von zornigen, enttäuschten oder engagierten Menschen ist. Wer Kundinnenkritik nicht aushalten kann und in die Nähe von Scheiße bringt, hat den falschen Job. Und wer das als Beraterin nicht korrigiert, versagt. Punkt.

Und dann zum Schluss noch eine kleine Anmerkung zu einem mit dem S-Wort verwandten Thema, das immer wieder von den gleichen Leuten in diesen Diskussionen kolportiert wird: zur angeblichen Enthemmung der Menschen und ihrer Kritiktonalität durch Facebook & Co.

Geht's noch??

Wer auf die Idee kommt, dass die - zugegebenermaßen oft etwas derben und unfeinen - Formulierungen von Menschen im Rahmen ihrer online geäußerten Kritik "enthemmt" seien, hat wahrscheinlich in den letzten dreißig Jahren noch nie mit Menschen zu tun gehabt. Menschen sind so. Und reden so. Ja, du auch, wenn niemand zuhört. Siehe oben. Die Sache mit Plön (und nix gegen Plön, einige meiner besten Freunde stammen aus Plön). Fragt mal eine Lokalpolitikerin, die unterm Sonnenschirm in jener Fußgängerinnenzone steht, wie zivilisiert sie die (hier tatsächlich!! anonymen) Kommentare der Vorbeilaufenden findet.

Kinners! Das, worum es geht, ist nicht so komplex, dass ihr dafür ein untaugliches Dings braucht, um es so zusammenzufassen, dass ihr überhaupt nicht mehr sehen könnt, was da passiert und wie ihr damit umgehen könnt (Geheimtipp: hat viel mit Erfahrung, Hirn, Herz und so zu tun). Anstatt "Shitstorm" zu krähen, könnten wir ja einfach mal überlegen, ob es nicht eines von beispielsweise diesen drei Dings sein könnte, was da passiert:

  • Eine Kundin/Konsumentin beschwert sich zu recht oder unrecht. Und weil tatsächlich was schief lief, machen das mehrere.
  • Kundinnen/Konsumentinnen solidarisieren sich mit einer Kundin/Konsumentin, die sich - zu recht oder zu unrecht - beschwert.
  • Aktivistinnen fahren eine Onlinekampagne.
Merkt ihr selbst, nä?

26.1.13

Derailing und die Lämmerfrage

Dass der direkt unter der Oberfläche der Wahrnehmung brodelnde Zorn von vielen Frauen über den alltäglichen Sexismus in der Nacht von Donnerstag auf Freitag unter dem Stichwort #aufschrei sich auf Twitter entlud und seitdem nicht zur Ruhe kommt, ist gut, finde ich. Dass damit eine Diskussion beginne, ist allerdings falsch. Für viele Menschen mag es so scheinen - insbesondere, wenn sie sich nie mit Feminismus beschäftigt haben oder - als Mann - noch nie damit konfrontiert wurden. Aber das, was gerade passiert, ist eigentlich nur, dass eine jahrelange Diskussion in die medial verstärkte Wahrnehmung der breiten Masse gespült wird.

Oder, wie Antje Schrupp (wieder einmal) passend beschrieb: Es zeigt, wie auf einmal "Lappalien" relevant werden (Anmerkung: Lest wirklich mal den verlinkten Beitrag, nicht umsonst ist Antje Bloggerin des Jahres 2012).

Und ehrlich gesagt, ist mir angesichts des Themas egal, dass der Anlass (nicht die Ursache - der Unterschied ist wie bei fast allem, was passiert, immens wichtig) eine Geschichte im "Stern" ist, die die eine oder andere sogar zu Recht ob Tonalität und Agenda kritisiert hat. Nach meiner Wahrnehmung war übrigens keineswegs die Brüderle-Geschichte der Anlass für den Aufschrei - sondern die Reaktionen einiges alter Männer on- und offline. Denn erst als der Minister Hahn (Hessen) und andere über den Tabubruch schwadronierten (wobei sie merkwürdigerweise nicht den Tabubruch Brüderles meinten sondern den Tabubruch der Journalistin), kanalisierte sich der Zorn. Denn genau diese Reaktionen sind es, die den Kern des Alltagssexismus in diesem Land ausmachen. Derailing - Ablenkung.

Ähnlich dann gestern der mir auch vorher schon unerträgliche Norbert Bolz (mit dem ich letztes Jahr einen Abend am Referententisch einer Veranstaltung zubrachte, was meine Meinung über ihn nun mit einer aus eigenem Erleben bezogenen Realität bestätigte), der auf NDR-Info Laura Himmelreich vorwarf, die Spielregeln verletzt zu haben, da Politiker ein Recht darauf hätten, dass nicht alles in die Öffentlichkeit kommt, dass sie einen Schutzraum hätten. Was er damit mindestens in Kauf nimmt: Dass alte Böcke in diesem "Schutzraum" Grenzen übertreten.

In dieses Klima hinein unsortiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität eigene subjektive Erlebnisse zu schreien, die eine als Übergriff empfunden hat, ist der Kontrapunkt, der gefehlt hat, um unsere langjährige Diskussion in die Öffentlichkeit zu spülen. Dass die Diskussion nicht neu ist, wissen vielleicht nur die, die sie vorher führten. Mein eigener erster Blogbeitrag sozusagen zu #aufschrei stammt beispielsweise vom 22.8.2012 und klingt trotzdem so, als sei es gestern geschrieben worden.

Und darum habe ich mich über den in meiner Ecke des Internets sehr viel verlinkten und kommentierten und beklatschten Blogeintrag von Meike Lobo gestern auch sehr geärgert. Kurz gesagt: Weil ich glaube, dass sie sich, auch wenn sie es nicht will, faktisch am Derailing beteiligt. Dass sie sehr viel Lob von den Männern meiner Timeline bekommt, die vorher schon auf der Linie von Hahn, Edathy und Kubicki argumentierten (und von denen ich einige mag und schätze, weshalb es mich so besonders bestürzt), will ich ihr nicht vorwerfen, finde ich aber auch nicht überraschend.

Denn sie hat im Prinzip völlig Recht mit allem, was sie schreibt. Und dennoch mit vielem auch gar nicht. Ja, Veränderungen sind immer am besten im Dialog möglich. Und ja, selbstverständlich wäre es toll und würde den Veränderungsprozess massiv beschleunigen, wenn Frauen nicht Lämmer sind (wie Meike behauptet) sondern Löwinnen, die Männer und andere, die ihnen sexistisch kommen, direkt in die Schranken weisen. Die Männern sagen, was sie sich wünschen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich ganz anders aufgewachsen bin, ganz anders sozialisiert wurde - aber genau das habe ich mein Leben lang erlebt. oder glaubt irgendwer, ich wäre von allein darauf gekommen, was mit Patriarchat und Sexismus nicht stimmt? Ich habe Lämmer erstmals kennen gelernt, als ich schon einige Jahre im Beruf stand und erstmals den Dunstkreis evangelische Kirche vollständig verließ. Da ich in einer feministischen und materialistischen (im ideologischen Sinne, nicht wie es heute verwendet wird) Gemeinde und Gemeinschaft aufgewachsen bin, in der Frauen und Männer sehr darauf achteten, dass Übergriffe benannt werden, und in der schon in meiner Jugend eine (so hieß das damals bei uns) geschlechtergerechte Sprache genutzt wurde, war mir wahrscheinlich tatsächlich vieles schon klar. Und habe ich gelernt, auch in der politischen Arbeit, dass die verschiedenen Formen von Protest und Anstoß ihren Raum haben und ihre Zeit.

Ich halte den Blogpost von Meike Lobo in all seiner "Richtigkeit" dennoch für manipulativ - und allein denen nützlich, die sich der Diskussion über Sexismus und den notwendigen Änderungen im Verhalten von Frauen und - vor allem - Männern nicht stellen wollen. Zur Mechanik dieser Manipulation schrieb ich ja erst gerade.

Vor allem aber verkennt Meike das Thema Herrschaft und Asymmetrie in Beziehungen meines Erachtens völlig. Oder sie hält es nicht für relevant oder existent, das weiß ich selbstverständlich nicht. Nur: Ich halte es für extrem wichtig, siehe auch meinen alten Täter-Blogeintrag. In einer asymmetrischen Beziehung von denen, die "unten" sind, den ersten Schritt der Versöhnung zu verlangen, halte ich für politisch naiv und strategisch falsch.

Das Erratische und - da bin ich ganz bei Meike - von jeder von uns sicher unterschiedlich relevant oder übergriffig Gesehene an den kurzen Geschichten auf Twitter zum #aufschrei hat für Männer meines Erachtens vor allem eine Funktion und stellt sie vor eine Aufgabe: Zunächst einmal zuzuhören. Und ohne (Ab)wertung anzunehmen, dass - von den Spaßvögeln abgesehen - hier unterschiedliche Frauen ganz unterschiedliche Dinge und Verhaltensweisen als Übergriff empfinden.

Aus einer von Herrschaft und Asymmetrie geprägten Situation gibt es im Grunde zwei Wege, wenn die "unteren" es nicht mehr aushalten (wollen) - entweder die Revolution, also die Gegengewalt. Oder der Verzicht der Herrschenden. Aber nie und nimmer - hier bin ich komplett anderer Meinung als Meike - das einfache Gespräch.

#Aufschrei macht Sexismus als Form der Herrschaft von Männern über Frauen sichtbar. In Schutzräumen (wie damals bei uns in den evangelischen Kirchengemeinden) können wir ein neues Zusammenleben sicher ausprobieren, dass es geht, haben wir seit den 70ern gezeigt. Aber als gesellschaftliches Thema wird es, davon bin ich überzeugt, nicht durch eine Lämmer- oder Löwinnenfrage gelöst werden. Sondern entweder von Männern durch Verzicht und Achtsamkeit. Oder von Frauen durch Verweigerung und Gegengewalt. Beides finde ich ok. Verzicht und Achtsamkeit für mich allerdings den besseren Weg. Vielleicht, weil ich in den hineingewachsen bin in den 80ern und 90ern. Vielleicht, weil ich erleben durfte, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlt. Vielleicht weil ich keine Lust auf Gewalt habe.

12.1.13

Erläuterungen zu den Facebook-Reichweitenverlusten

Am Freitag habe ich auf der Seite von achtung!, wo ich ja den Bereich Digitale Kommunikations leite, einen Artikel veröffentlicht, der eine große Resonanz hatte - zu den Beobachtungen, die mein Team bei sehr vielen Facebook-Seiten gemacht hat, die wir für unsere Kundinnen führen oder zu denen wir über Partnerinnen Zugang haben, weil wir daran mitarbeiten.

Grob zusammengefasst ging es in diesem Artikel darum, dass seit dem 19. Dezember 2012 die so genannte "organische Reichweite" von Beiträgen der Facebook-Seiten sehr zurück gegangen ist, teilweise auch sehr massiv, teilweise auf nur noch 20% der Reichweite im Oktober und November (der Dezember fällt hier als Vergleich raus, dazu gleich). Unsere Erklärung dafür ist, dass wir annehmen, Facebook habe zu diesem Zeitpunkt endlich geschafft, die angekündigten Änderungen am Edgerank einzuführen. Explizit sind wir (also mein Team und ich) der Meinung, dass dies gut ist. Das sage ich auch mehrfach im Artikel.

Die Reaktionen waren gemischt. Von einer großen Zahl Community Manager, vor allem solcher mittelgroßer Seiten (mittelgroß nenne ich Seiten zwischen 100.000 und 1 Mio Fans), haben wir bestätigt bekommen, dass sie die gleichen Beobachtungen machen und es sich ähnlich erklären. Von einer Reihe von so genannten Facebook-Experten haben wir Gegenwind bekommen, exemplarisch sei der Blogpost von Johannes Lenz genannt, der einige von ihnen zitiert. Interessant ist dabei, dass - mit der Ausnahme Thomas Hutter, der unsere Beobachtungen und Erklärungsversuche auf allen Kanälen "Bockmist" nannte - selten und bei Johannes im Blog sogar gar nicht auf die Punkte eingegangen wurde, die uns dabei wichtig sind.

Die seien hier noch einmal etwas erläutert.

(1) Unsere Beobachtungen
Zuerst sind uns die Veränderungen an der Reichweite der einzelnen Posts bei den mittelgroßen Seiten aufgefallen, die wir betreuen. Dies sind Seiten zwischen 100.000 und 1 Mio Fans. Das Interessante ist, dass der Zusammenhang zuerst unseren Data Analysts auffiel, nicht den Kolleginnen im Community Management. Hier zahlte sich also aus, dass Community Management, Datenanalyse und Facebook Media bei uns so eng zusammen arbeiten.

Erst als wir hier bei diesen Seiten eine Spur hatten und wussten, wonach wir suchen müssen, konnten wir den gleichen Effekt auch bei den kleinen Facbeookseiten (also denen mit weniger als 100.000 Fans) nachweisen. Nach Rücksprache mit Data Analysts in UK und Frankreich, die unsere Beobachtungen bestätigten, haben wir nach Erklärungen gesucht.

Die zweite wichtige Beobachtung war, dass die Kommentare und das andere Engagement nicht zurück gingen. Das wird auch der Grund sein, denke ich, warum einige Experten so reflexhaft von Bockmist reden. Auch Johannes Lenz geht in seinem kritischen Blogpost gerade nicht auf unsere Beobachtungen ein - sondern behauptet, uns zu widersprechen, wenn er sagt:
Ich konnte bisher ein nennenswertes Abfallen von Engagement und Interaktion bei Facebook-Seiten nicht bemerken, sei es nun extern oder auch bei Kunden von AKOM360. (Johannes im AKOM360-Blog)
Nur: das sagen wir auch nicht. Im Gegenteil - das Phänomen ist ja gerade, dass nur die organische Reichweite zurück geht, nicht aber die Interaktion. Dass also die Interaktion im Grunde sogar extrem steigt, da ein höherer Prozentanteil derjenigen, die einen Post gesehen haben, mit ihm interagiert. Darum sagen wir auch, dass Facebook alles richtig macht in diesem Fall: es ist ihnen endlich gelungen, das konsequent umzusetzen, was sie schon lange versuchen und angekündigt haben.

Ich glaube denen, die kleine Seiten betreuen, sogar, dass sie keinen Rückgang der Reichweite bemerken. Wenn man nicht sehr genaue Datenanalyse macht und die Daten, die Facebook spitz liefert, auch selbst noch einmal speichert und auswertet, dürfte das oft kaum auffallen - und bei kleine Seiten lohnt sich eine wissenschaftliche Datenanalyse offenbar nicht immer (zumindest erleben wir, dass es viele noch nicht machen, obwohl sich das bald wird ändern müssen, wenn sie nicht vom Markt verschwinden wollen, aber das ist noch mal ein aderes Thema).

Beispielhaft sei hier eine Grafik aus einer Analyse einer deutschen mittelgroßen Seite gezeigt, ganz leicht anonymisiert und nicht bemaßt, bei Klick auf das Bild wird sie auch lesbar...

Entwicklung von organischer Reichweite, Kommentaren und Interaktion vom 8.10.12 bis zum 4.1.13

Was man gut erkennen kann, ist, dass die organische Reichweite der einzelnen Beiträge zunächst relativ stabil ist und die Interaktion an den Beiträgen nur geringe Auswirkung auf die organische Reichweite hat. Bei viraler Reichweite sieht es etwas anders aus, logisch, die ist hier nicht abgebildet, ebensowenig die bezahlte Reichweite. Ende November läuft die von Facebook ausgewiesene Reichweite dann aus dem Ruder - wir gehen hier, wie leider so oft, von fehlerhaften Zahlen von Facebook aus, das ist übrigens in der Vergangenheit meistens so gewesen, unmittelbar bevor eine größere (unsichtbare) Veränderung von Facebook produktiv gesetzt wurde.

Ab dem 19. Dezember sieht die Kurve der Reichweite anders aus als vorher. Sie variiert stärker und ist offenbar vor allem von einem Wert zusätzlich abhängig: von den Kommentaren. Mehr Kommentare führen zu mehr Reichweite führen zu mehr Likes etc. Wenn wir die Daten noch detaillierter auswerten, sehen wir dieses auch im Zeitverlauf.

(2) Unsere Interpretation
Dass diese Beobachtung sich in mehreren Ländern und für sehr viele Seiten so zeigen lässt, lässt für uns nur den Schluss zu, dass es eine Änderung bei Facebook gegeben hat. Anders ist es kaum zu erklären. Da die Situation jetzt sehr viel besser für die Menschen ist, die Facebook nutzen, und bei oberflächlicher Betrachtung sich gleichzeitig für die Seiten nicht viel zu ändern scheint, gehen wir davon aus, dass es genau so gewollt ist. Es passt auch zu den Ankündigungen rund um den Edgerank, die Facebook das gesamte Jahr 2012 immer wieder gemacht hat, die aber bis zum 19. Dezember keine konsistenten Änderungen nach sich zogen - vielleicht sind sich darum manche wie Thomas Hutter auch so sicher, dass es faktisch keine gibt. Ein Fehlschluss, wie die Analyse zeigt.

(3) Reichweite, ist die wirklich wichtig?
In den ersten Reaktionen auf unsere Entdeckung wurden wir von der einen oder anderen gefragt, warum uns Reichweite so wichtig sei - es sei für sie kein Wert, an dem sie gemessen werden. Das hat uns überrascht. Denn für Dialoge auf Augenhöhe, das alte Mantra der Social-Media-Gurus, ist Facebook ja eher nicht der Ort der ersten Wahl. Überhaupt ist Facebook für wenig substantielle Kommunikation der ideale Ort - aber hat eine potenziell große Reichweite im Massenmarkt. Zugespitzt würde ich so weit gehen zu sagen, dass Reichweite eigentlich der einzige valide Grund für die meisten Marken und Unternehmen ist, sich mit Facebook näher zu beschäftigen. Denn alles andere kann ich an anderen Orten besser.

(4) Und was ist mit diesem Nebensatz über Apps?
Es ist mein Fehler, dass ich von der eigentlichen Aussage in meinem Artikel - dass wertvoller, kommentierbarer und von den Menschen erwünschter Content wichtiger wird - ablenke mit dem Verweis auf den bevorstehenden Relaunch und meine Prognose, dass das neue Layout der Seiten sich wie in bisher jedem Relaunch an dem neuen Layout der Profile, das wir schon kennen und gesehen haben, orientieren wird. Und dass in dem die Apps und Co sehr viel unauffälliger platziert sein werden.

Dieses Thema spielt aber für die Aussage meines Artikels keine Rolle - weshalb ich auch tatsächlich nicht nachvollziehen kann, wie Johannes Lenz und AKOM360 sich in ihren Anmerkungen vor allem darauf stürzen. Schade, denn über die eigentlichen Aussagen würde ich gerne diskutieren - habe aber außer Hutters unbelegtem Anwurf, unsere Beobachtungen und Interpretationen seien Bockmist, bisher leider keine inhaltliche Kritik gesehen.

Dass Apps weniger wichtig werden, ist schon seit einem Dreivierteljahr etwas, das viele Agenturen beobachten und sehen - und ist auch logisch, denn Kosten und Ertrag stehen dabei meistens in einem nicht sehr günstigen Verhältnis, vor allem verglichen mit Content in Kombination mit Media.

(5) Ende des Kindergartencontents?
Ist das nicht eher Wunschdenken? Vielleicht teilweise. Aber wir beobachten in den letzten Wochen verstärkt, dass die Reichweite gerade bei Kindergartencontent und lustigen Bildern am stärksten zurück geht. Und dass im Gegenteil zu dem, was noch im November Hutter und der Chef von AKOM in ihrer Keynote auf der Konferenz von allfacebook postulierten, Posts mit Bildern sogar anfangen, von der Interaktion hinter vergleichbare Posts ohne Bilder zurückzufallen. Unsere ersten Erklärungsversuche hängen mit der zunehmenden mobilen Nutzung zusammen, aber das müssen wir weiter beobachten.

Seit dem 19. Dezember ist jedenfalls auffällig, dass Infocontent, der beispielsweise über Öffnungszeiten, konkrete Änderungen etc informiert, ungewöhnlich gute Reichweiten erzielt. Das freut uns, das können wir bisher nur beobachten und noch nicht abschließend erklären - aber das zeigt wiederum, dass es hier Änderungen gab, die für alle Seiten sinnvoll sind.

***

Ich danke jedenfalls meinem Team und den Kundinnen, mit denen wir gemeinsam diese Dinge entdeckt haben. Und ich bin froh, dass wir nun schon einige Zeit diesen neuen Weg gehen, die drei wichtigen Fachdisziplinen Community Management, Facebook Media und Data Analysis so eng zu verzahnen, dass wir relativ schnell mit einer sehr hohen Sicherheit solche Änderungen bei Facebook (und anderswo) erkennen können. Ihr seid die besten, ich bin stolz, dass wir zusammen arbeiten dürfen.

9.1.13

Das 'pffft' – warum ich es so oft benutze, wie ich es meine und warum ich Diskussionen damit immer gewinne

Nicht so viele meiner Kolleginnen lesen ja mein Blog regelmäßig. Glaube ich. Auch wenn ich das nicht verstehe. Aber ein Kollege, den ich sehr schätze, was ich jetzt schreiben muss, weil zu seinem allmorgendlichen Fortbildungsprogramm gehört, dass er mich bei Twitter stalkt und mein Blog auswendig lernt, wünschte sich heute in einem drei Kilometer langen internen Mailwechsel, in dem es um so spannende Dinge wie Finanzmarktregulierungen oder so was ging und um generisches Maskulinum und um mobile Markenführung, halt so Kram, mit dem wir hier so zu tun haben jeden Tag, dass ich mal einen Blogpost schreiben möge zu "Das 'pffft' – warum ich es so oft benutze, wie ich es meine und warum ich Diskussionen damit immer gewinne". Warum, weiß ich auch nicht.

Aber dem komme ich gerne nach, ich leite schließlich eine Dienstleistungseinheit bei einem Dienstleister. Lieber Kollege,
  • weil ich es kann
  • genau so
  • weil ich einfach gut bin
tl;dr
pffffffffft

16.4.12

Damit ist dann alles zur Urheberinnen- und Kulturdebatte gesagt

Ich mag Johnny Haeusler sehr und schätze ihn nicht nur online sondern auch als nachdenklichen und sehr auf der Erde gebliebenen Gesprächspartner (und einen der "digitalen Väter", mit denen ich mich am liebsten austausche, weshalb ich mich auf Tanjas und sein Buch sehr freue).

Und besser als alle anderen hat er nun den endgültigen Text zur Debatte um das Urheberrecht geschrieben, nach dem wir vielleicht mal anfangen können, über Inhalte anstatt über die Debatte zu sprechen. Außer dass ich keine Musik mache, trifft jeder Satz auf mich zu, teile ich seine Erfahrungen und seine Einschätzung so komplett, dass ich am liebsten nicht nur diesen Absatz zitieren sondern den Text komplett übernehmen würde:
Ich schüttle selbst oft genug den Kopf ob einiger Aussagen der Piratenpartei und teile viele der von dort wiedergegebenen Statements zum Thema genau: gar nicht. Doch selten war ich so erschüttert von der Qualität angeblicher Journalismus-Profis, wie in diesen Zeiten der Debatten ums Urheberrecht. (Ich heb dann mal ur | Spreeblick)
Aber noch lieber schicke ich euch einmal rüber zu seinem Text. Alle, die nicht sicher sind, ob die Verwerterinnen und einige der Urheberinnen, die sich in letzter Zeit kritisch zur Kritik am bestehenden Urheber- und Verwertungsrecht geäußert haben, nicht doch Recht haben, bitte ich, diesen Text einmal zu lesen. Sehr gerne möchte ich mit euch diskutieren. Mein Eindruck wäre, dass das Niveau mit Johnnys Text etwas angehoben werden könnte.

Denn was mich einfach so erschüttert an der aktuellen Debatte, ist neben einigen Positionen, die einige wenige Piraten vertreten, noch sehr viel mehr die aggressive Polemik vieler Kreativer und ihrer Verbände. Die übrigens tendenziell den ohnehin schon länger bestehenden Verdacht nährt, dass einfach echt schlecht informiert ist, wer in erster Linie seine Infos und sein Wissen aus den klassischen Medien bezieht.

14.2.12

Wider die Vulgarisierung der Diskussion um Urheberrechte durch die Piraten und den Boulevard

Friedrich Küppersbusch bringt es gestern in der taz auf den Punkt. Am ersten Werktag nach den ACTA-Demos und dem ersten Tag, nachdem der versammelte Boulevard von Focus über Spiegel bis Tagesschau (ok, die etwas weniger vulgär) das Thema ebenso verfehlt hat wie die meisten Piraten. Es geht nicht gegen das Urheberrecht. Es geht gegen das (industrielle) Verwertungsrecht.
[Frage:] Das Urheberrechtsabkommen ACTA treibt Menschen auf die Straße. Am Samstag wurde europaweit gegen das Abkommen demonstriert. Haben Sie verstanden, warum?
[F.K.:] Weil es kein Urheber-, sondern ein Verwertungsrechtsabkommen ist. Ein Beispiel: Die Süddeutsche Zeitung druckte Interviews und Texte über Produktionen meiner Firma. Wir stellten es - stolz, na klar - auf unsere Homepage. Eine Anwaltskanzlei mahnt uns ab, und wir zahlen der Süddeutschen jedes Mal 500 Euro für Content, der auf unserer Urheberei beruht. Anderes Beispiel: Der Westdeutsche Rundfunk hat im großen Verlegerbeschwichtigen der WAZ-Gruppe seine Archive geöffnet. Ergebnis : Wenn ich einen alten Beitrag von mir herzeigte, kann mich sowohl die Westdeutsche Allgemeine Zeitung wie auch der WDR verklagen; der Einzige, der definitiv keine Rechte an seinem Werk hat, bin ich - der Urheber. ACTA verstärkt die Macht der Vermarkter gegen Verbraucher und Urheber entscheidend weiter; es ist ein Selbstmordversuch für ideengetriebene Volkswirtschaften. Der Furor vieler Piraten, bei der Gelegenheit das Urheberrecht gleich mit abzuräumen, macht es schwer mitzudemonstrieren.
Küppersbusch in der taz
Es ist extrem schwer, einer sinnvollen Position zurzeit Gehör zu verschaffen, weil abstrus überzogene Positionen einerseits und aggressiv kurz gedachte Engführungen von Urheber- und Verwertungsrechten andererseits aufeinander einprügeln. Besonders betrübt es mich dabei, wenn Verbände von Kreativen wie der Deutsche Komponistenverband (gemeinsam mit dem Deutschen Textdichter-Verband*) Formulierungen wählen wie, es würden "Existenzgrundlagen der Kreativen und Kulturschaffenden geopfert und angegriffen, und zwar zugunsten eines Konsumenten–Schlaraffenlands, das sich dem Götzen einer „innovativen“ Netz-Gratis-Mentalität anbiedert und nicht gewahr wird, dass mit den Daten der Konsumenten der eigentliche Profit an anderer Stelle in einem unverhältnismäßig großem Ausmaß gemacht wird"** - so in seiner verschwurbelten Stellungnahme zum langen Parteitagsbeschluss der Grünen zu dem Thema (Link geht auf das pdf), der nun wirklich nicht radikal oder weitgehend ist.

Jan Philipp Albrecht, Abgeordneter im Europaparlament, hat das am Sonnabend in Hamburg ebenso wie Küppersbusch gut zusammengefasst:



Erst wenn es gelingt, die vulgäre Interpretation des Themas durch viele Piraten und den Boulevard, die sich absurderweise ja gleichen wie ein Ei dem anderen, hinter uns zu lassen, werden wir es schaffen, den kulturellen Bruch zu kitten. Den Bruch, der dadurch entsteht, dass Menschen, die sehr viel und sehr "natürlich" das Internet nutzen, merken, dass die von der Verwertungsindustrie versuchte Kriminalisierung aller Begeisterung für kreative Erzeugnisse mit ihrer Welt kollidiert - obwohl sie weiterhin auch Musik und Filme und Bücher kaufen, in Konzerte und ins Kino gehen und so weiter. Keiner einzigen Kreativen und keinem einzigen Werk ist damit gedient, dass sich die Verwertungsindustrie immer weiter von der Lebenswirklichkeit von rund 110% der unter 30-jährigen und rund 75% der 30- bis 50-jährigen abkoppelt.

Solange Kreative auf die vulgäre Propaganda der Verwerter hereinfallen und Konsumentinnen auf die ebenso vulgäre der Piraten - so lange werden wir nicht weiter kommen, denke ich. Mut macht mir dabei, dass ich keine Jugendliche kenne (und ja, ich kenne viele, wenn auch nur einen kleinen Ausschnitt von überwiegend Vorortjugendlichen aus Bildungsschichten), die eine der beiden vulgären Positionen überzeugend findet.

* Der Deppenbindestrich steht im Schreiben des DKV, in dem er erklärt, auch für die Dichterinnen zu sprechen. Für den kann ich also nix.
** Ob die Stellungnahme online vorliegt, weiß ich nicht, ich habe sie als pdf geschickt bekommen und daraus hier zitiert. Sie ist ohne Datum versehen und es steht Jörg Evers drunter. Die Echtheit habe ich nicht hart verifiziert.

19.8.11

Kurz zur Datenschutzdiskussion rund um Facebook

Heute hat das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schläfrigeswig-Holstein den ersten richtigen Pflock gegen Facebook eingehauen und die lange schon bekannten Datenschutzbedenken mit einer Handlungsanweisung relevant gemacht. Unternehmen aus Schleswig-Holstein (so verstehe ich es) dürfen keine Facebook-Funktionen mehr auf ihren Websites einbinden und keine so genannten "Fanpages", also Profile, auf Facebook mehr betreiben.

Was ich an der Social-Media-Szene übrigens in diesem Zusammenhang schräg finde, ist, dass unendlich viele Leute die Meldung auf Twitter, Facebook, Googleplus weiter gereicht haben - aber kaum eine Meinung oder Einschätzung dazu. Eine der wenigen und auch gleich interessanten kam eben von Till Westermayer, die ich aber nur teilweise teile, siehe unten.

Ich kann einen Teil des Geschreis nicht verstehen, das sich nun gegen das Landeszentrum erhebt. Sicher, die Idee, es gäbe aktuell Alternativen zu Facebook, ist denkbar naiv und wirklichkeitsfern. Aber richtig ist der Hinweis, dass Nutzern von Facebook bewusst sein sollte, dass sie ihr informationelles Selbstbestimmungsrecht zu einem guten Teil (für das Internet) abgeben, wenn sie Facebook nutzen. Die Stelle, an der Weichert und seine Behörde meiner Meinung nach irren, ist die Annahme, den Nutzern sei das egal oder nicht bekannt - ist es nicht eher so, dass viele mit dieser Aufgabe ihrer Rechte den Komfort bezahlen, den ihnen Facebook bietet? Dass eben die Nutzung zwar kostenfrei aber eben nicht ohne Kosten ist?

Aber zum eigentlichen Punkt: Wer jetzt überrascht ist oder schreit, muss die letzten zwei Jahre unter einem Stein gelebt haben. Wer ein Facebook-Plugin auf seiner Seite eingebaut hat (wie ich auch hier), weiß (oder sollte wissen oder könnte wissen, wenn er jemanden gefragt oder beauftragt hätte, der was davon versteht), dass das gegen jede gute Sitte im Datenschutz verstößt und in Deutschland unter Datenschutzgesichtspunkten illegal ist. Warum wohl machen das beispielsweise die Markenartikler wohl nicht, die unter besonderer Beobachtung der Datenschützer stehen? An diesem Punkt zieht das Landeszentrum nur die notwendige Konsequenz, mit der ich schon lange gerechnet habe. Seriöse Berater haben schon von Anfang an ihre Kunden auf dieses Problem hingewiesen und darauf bestanden, dass der Kunde - wenn er es macht - sich bewusst für diesen Rechtsbruch entscheidet und nicht aus Unwissenheit aus Versehen.

Anders empfinde ich als Nicht-Jurist das Thema bei Facebook-Seiten. Hier laden ja Unternehmen und Marken zunächst lediglich diejenigen ihrer Kunden oder Fans ein, die ohnehin schon ihre Rechte aufgegeben haben. Warum sollen sie das nicht dürfen? Da verstehe ich tatsächlich nicht die Argumentation.

Update 16:18 Uhr
Siehe auch die (verständliche) juristische Einschätzung von Carsten Ulbricht.
/Update

Ein Wort noch zu Facebook: Ich nutze es, auch mit großer Freude, meine Kinder nutzen es, ich rate meinen Kunden, es zu nutzen. Das heißt aber nicht, dass ich es nicht an sich und im Prinzip ablehne. Ich weiß durchaus, was da schief läuft. Und ich entscheide mich bewusst dafür, es trotzdem zu nutzen. Kann aber jede verstehen, die es nicht tut.

25.7.11

Mut und Zorn

Darum mag ich so vieles in und an Skandinavien. Trotz der starken Rechtspopulisten und Extremisten. Vielleicht, so kommt es mir heute erstmals vor, sind die der Preis dafür, dass die anderen Freiheit und Offenheit offen und offensiv vertreten können. Vielleicht lässt sich mit der panischen Angst von SPD und CDU vor dem Rechtspopulismus in Parteiform erklären, dass sie dem Rechtspopulismus frönen.

Die Reaktion von König, Ministerpräsident und Bürgermeister war ein klares und starkes Bekenntnis zu Freiheit und Pluralismus. Das ist wahre Stärke. Und macht mich so betroffen. In dieser Situation, vor allem, wo Stoltenberg etliche der Ermordeten kannte, zeugt es von einem politischen und ethischen Koordinatensystem, das intakt ist. Eines das den Uhls dieses Landes hier abhanden gekommen ist offenbar.

(Darum auch "Haltungsturnen" übrigens. Weil Haltung eingeübt werden muss, damit sie in der Krise trägt. Die Jungs im Parlament und in der Polizei, die jetzt sofort zynisch das Leid für ihre Agenda ausnutzten, um das völlig untaugliche Instrumentarium zu fordern, sollten mal turnen.)

24.5.11

Politik als Prozess verstehen

Schon wieder was politisches, sozusagen grün-internes. Weglesen, wer nicht an grünen Diskussionen interessiert ist, bitte....
Immer noch am Strang, wie eine Volkspartei Neuen Typs aussehen kann, die die Grünen faktisch durch Wahlerfolge geworden sind - für die sie aber noch ihre Rolle suchen. In Hamburg sind wir ja dabei, uns zu überlegen, wie wir aus der Niederlage lernen können, was wir anders machen wollen. Im grottenschlechten Intranet habe ich nun mal einen ersten groben Entwurf für eine formulierte Haltung gemacht, den ins Wiki gestellt - und hoffe, dass er kräftig verändert werden wird. Damit ich hinterher noch nachvollziehen kann, von aus er sich wohin entwickelt hat (weil Versionsdingens in diesem Wikidingens so eine Sache ist), stelle ich ihn auch hier rein und zur Diskussion. Zumal ich eh finde, so was sollte von Anfang an nicht nur intern sondern auch mit anderen diskutiert werden, aber damit bin ich bei der GAL noch ein bisschen zu alleine...

***

Unsere Wurzeln sind Bürgerbewegungen und engagierte Menschen außerhalb der Parlamente, denen wir eine Stimme geben wollten. Das ist uns gelungen. Heute erleben wir, dass dieses Engagement wieder zunimmt, auch wenn viele die Engagierten als "Wutbürger" diffamieren.

Die GAL ist und wird sein der Anwalt und Moderator der Bürgergesellschaft in dieser Stadt. Das hat unmittelbare Auswirkungen darauf, wie wir in Zukunft Politik als Prozess verstehen und gestalten werden.

Zukunftsentwürfe anbieten

Die GAL nimmt Abschied von Projekten und Wahlversprechen. Wir sehen unsere Aufgabe in der Entwicklung und Diskussion von Zukunftsentwürfen für diese Stadt und dieses Land. Wir bitten Wählerinnen und Wähler um Zustimmung für zwei Punkte:
  • Unsere Vorstellung, wie Leben, Arbeiten, Wirtschaften, Lernen in dieser Stadt und diesem Land aussehen sollen.

  • Unser Versprechen, den Weg hin zu diesen Entwürfen mit den Menschen gemeinsam konkret und real werden zu lassen.

  • Konkretionen mit den Menschen gemeinsam entwickeln

    Wir haben verstanden: Die Umsetzung unserer Ideen und Ziele war zu unserer letzten Regierungszeit in Hamburg nicht immer so, dass die Mehrheit der Hamburgerinnen und Hamburger mitgehen konnte oder wollte.

    Die GAL wird ihr Regierungshandeln darum künftig anders gestalten:
  • Wir werden unser gesamtes Regierungshandeln, das Handeln unserer Abgeordneten und Mandatsträger so transparent gestalten, wie es rechtlich zulässig ist. Wo das geltende Recht der Offenheit zu enge Grenzen setzt, werden wir uns für Änderungen einsetzen.

  • Wir verstehen Politik als gemeinsamen Prozess der Parteien, der Verwaltungen und der Bürgerinnen und Bürger. Wir werden darum dafür sorgen, dass alle Unterlagen, Studien und Entwürfe, die zur Entscheidungsfindung nötig sind und vorliegen, der Öffentlichkeit zugänglich sind.

  • Anstatt Projekte zu kommunizieren, laden wir alle Bürgerinnen und Bürger ein, sich an ihnen zu beteiligen.

  • Geschwindigkeiten und Nachhaltigkeit

    Der GAL ist bewusst, dass ihr Weg, Politik als Prozess zu begreifen, Veränderungen langsamer und mühsamer machen kann. Denen, die vorne weg gehen, wird es manchmal zu langsam sein, ebenso wie uns selbst. Aber wir nehmen uns und der Stadt diese Zeit.

    Nur so werden wir dazu kommen können, nachhaltige Lösungen und Umsetzungen zu schaffen, die nicht schon Wochen nach ihrem Beschluss "nachgebessert" werden müssen. Unser Verständnis von "ordentlich regieren" in der heutigen Zeit ist,
  • Entscheidungen früh zu öffnen,

  • alle Informationen, die wir selbst brauchen, um eine Entscheidung zu fällen, auch allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich zu machen, und

  • alle Entscheidungen vollständig zu protokollieren und langfristig nachvollziehbar zu machen.
  • 14.5.11

    Das Märchen vom Kontrollverlust

    Ich twitterte heute Vormittag:



    Und bekam sofort Widerspruch, vor allem in Direktnachrichten. Das hat mich überrascht. Denn ich rede eigentlich - beispielsweise in Vorträgen - immer wieder davon, dass Kontrollverlust quatsch ist. Vielleicht ist "Flachdenkerwort" zu hart, aber ich halte das Reden vom Kontrollverlust tatsächlich für entweder unüberlegt - oder für eine boulevardtaugliche Verkürzung.

    Warum?

    I. Welcher Verlust?

    Tatsächlich ist es ja so, dass die Vorstellung, es hätte beispielsweise jemals eine Kontrolle (der "Message" im PR- und Werbezusammenhang, der Öffentlichkeit im persönlichen Zusammenhang) gegeben, immer schon eine wirklichkeitsferne Autosuggestion gewesen. Kommunikation und soziales Leben fand immer schon in einer von uns nicht kontrollierten Interaktion statt. Immer schon. Schon auf dem Markt. Damals. Vor dem Krieg. Dem 100-jährigen zwischen Frankreich und England.

    Wenn es aber kein Verlust ist, weil es nichts zu verlieren gibt - warum dann das Wort "Kontrollverlust"? Gefühlt, ja, vielleicht. Aber mal ehrlich: Ist nicht die Beschreibung eines Gefühls ("Kontrollverlust") als Realität (Kontrollverlust) eben gerade dies: Flachdenkersprech*?

    II. Wieso Verlust? Gerade jetzt? Echt?

    Was mich nachhaltig verstört bei der Rede vom Kontrollverlust, ist eigentlich aber noch radikaler: Es stimmt im Prinzip nicht, dass beispielsweise "Social Media" oder Facebook oder Twitter oder so zu Kontrollverlust führt. Sondern eher das Gegenteil ist der Fall. Denn faktisch macht das, was wir Social Media nennen, nur sichtbar, was es schon immer in Gesprächen gab. Die meisten dieser nun sichtbaren Dinge werden aber gerade dadurch, dass sie sichtbar sind, eher kontrollierbarer.

    Einerseits stimmt der Verlust für Extremsituationen. Wenn es durch Zufall einen Livetwitterer gab, der seine Beobachtungen schrieb, als bin Laden erschossen wurde, dann haben Militär und Regierung keine Kontrolle über die Nachrichtenlage. Und Technologie macht dies sichtbar und reichweitenstark und damit tendenziell relevant. Andererseits heißt diese Sichtbarkeit, dass ich mindestens kontrollieren kann (im Sinne von Messen), was andere sagen. Und dass ich mit meiner Kommunikation schneller und präziser auf mein Umfeld reagieren kann, nicht so sehr in Fallen laufe.

    Insofern - und das gilt dann auch für Markenführung - führt die zunehmende Verschriftlichung von sozialer Internaktion und damit ihre Durchsuchbarkeit dazu, dass ich schneller gegensteuern kann (wenn ich möchte). Meine Erfahrung aus den letzten 10 Jahren Onlineleben ist eher, dass ich durch die intensive Nutzung von Social Media faktisch eine Kontrolle in einem vorher nicht kontrollierbaren Raum zurück gewinne.

    Eigentlich also war Markenführung noch nie so einfach wie heute (wenn auch noch nie so aufwändig und ressourcenintensiv). Denn über die eigene Aktivität bestimme ich zunehmend, was andere (Kunden, Freunde, Kollegen, potenzielle Arbeitgeber) über mich als Person, Unternehmen, Marke finden. Böse formuliert schafft das, was traditionelle Kommunikatoren als Kontrollverlust empfinden, eine wunderbare Möglichkeit, endlich "Waffengleichheit" mit den anderen herzustellen. Denn während es "früher" kaum möglich war, in derselben Arena wie meine Kunden und Kritiker aktiv zu sein (an Stammtischen, auf der Straße etc), hat die Verschriftlichung dieser Gespräche nun die Chance eröffnet, meinen Anteil daran ebenfalls sichtbar zu machen.

    Eines der faszinierenden Paradoxa rund um Social Media ist doch gerade, dass ich je mehr Kontrolle in diesem Diskursraum gewinne, desto mehr ich von mir preisgebe (als Person, Unternehmen) oder desto mehr ich mich in Gesprächen engagiere. Denn jenseits von Facebook (was ein Sonderfall ist, der ein kleines bisschen anders funktioniert aufgrund der höheren Relevanz des sozialen Interaktionsraumes) ist die Frage, wie ich vermittelt über die Suchmaschine auffindbar bin, eines der entscheidenden Kriterien für erfolgreiche Markenführung (die, sorry, ein Minimum an Kontrolle braucht).

    Die Marke "Sascha Lobo" oder auch die Marke "Luebue" wurden genau so gebaut: Über die bewusste Entscheidung, was wir von uns online stellen, welche Themen wir aktiv nutzen, um uns zu positionieren und so weiter. So wie viele Marken und Unternehmen stellen wir "Waffengleichheit" her zwischen denen, die über uns reden, und uns.

    III. Dieses Überforderungsding

    Ich ahne, wieso das Reden vom "Kontrollverlust" so gut funktioniert und so sehr vom Boulevard (TV, Medien, Konferenzen) goutiert wird: Weil es in Worte fasst, dass das Zerbrechen der alten Filter auf die Wirklichkeit zu einer latenten Überforderung führt. Ihr wisst, dieses Shirky-Dings. Insofern kann ich es auch nachvollziehen. Nur vergisst dieses Reden dann, dass "wir" uns ja neue Filter gebaut haben oder zumindest neue Filter gefunden haben, sei es Twitter, sei es Facebook oder was auch immer.

    Mein Feldzug ist heute eher, Menschen zu erklären, wieso es kein Problem sein muss, dass auf Twitter unbestritten in seiner Gesamtheit 99% für mich irrelevant ("Schrott") sind. Wie ich beispielsweise Marken kontrolliert durch den unkontrollierbaren Raum navigieren kann. Warum "online" nicht vom so genannten "richtigen Leben" (gemeint ist: von der Kohlenstoffwelt) getrennt ist, sondern ein Teil dieses prallen Dings, das wir Leben nennen.

    Ich bin dabei, Menschen, Unternehmen und Marken zu helfen, ihre (gefühlte und echt so empfundene) Überforderung überwinden zu helfen. Und darum langweilt mich das Sprechen vom Kontrollverlust. Es ist flach, falsch und rückwärtsgewandt. Und vielleicht sogar einer der Gründe, warum so Dingens wie die Digitale Gesellschaft oder die re:publica so einen schalen Beigeschmack des Sektenhaften haben. Jedenfalls ist es Angstrhetorik, im Kern, denn Verlust gut zu finden, ist pathologisch.


    * Was ja nicht heißt, dass es nicht taktisch sinnvoll sein kann, von Kontrollverlust zu sprechen. Viele unserer Zuhörer können ja nun mal maximal flache Gedanken verarbeiten. Been there, done that. Aber an mich selbst habe ich da schon einen anderen Anspruch....