6.11.23

Man müsste mal

Müsste wirklich mal. 

Müsste mal was tun. 

Ist irgendwie wichtig.  

So ging es mir mal wieder, wie wahrscheinlich vielen anderen auch. Gute Ideen, der kurze Impuls, etwas zu tun. Flagge zu zeigen, die über einen empörten Post irgendwo online hinausgeht. In den allermeisten Fällen bleibt es, zumindest bei mir, bei diesem kurzen Impuls. Aber letzte Woche war das anders. Und so habe ich am Freitag zum ersten Mal selbst eine Versammlung beim Ordnungsamt angezeigt. Für kommenden Donnerstag, den 9. November.

Denn wer mich schon etwas länger kennt, weiß, dass für mich das Thema Antisemitismus eines ist, das ich seit vielen Jahren treibe. Also der Kampf gegen Antisemitismus, die Aufklärung über Antisemitismus und so weiter. Und ich bin bestürzt und fassungslos, wenn ich von Freund*innen mit Namen, die andere als jüdisch interpretieren, höre, dass sie ihre Klingelschilder abmontieren. Wenn ich von Freund*innen, die jüdisch sind, höre, wie sie ganz konkret Angst haben. Hier. Nicht in Israel. Das macht mich wütend. Da müsste man doch was tun.

Mir ist nicht bekannt, ob es offenes jüdisches Leben in meiner Stadt, in Eutin, gibt. Seit letzter Woche lerne ich nebenbei ein bisschen was darüber, aber ich wusste da nichts. Ob sie zur Gemeinde in Kiel oder in Lübeck gehören. Warum die Gemeinde in Kiel sehr leise und unsichtbar ist, bewusst. Als jemand, der sehr viele Privilegien hat und nicht gefährdet ist, müsste ich doch was tun.

Also sprach ich am 1. November einen Freund an, von dem ich weiß, dass er eigentlich immer weiß, wenn jemand was tut. Wie denn in unserer Stadt (ich lebe da ja nicht direkt, sondern auf dem Dorf, etwas außerhalb) traditionell der Reichspogromnacht gedacht werde. Ob irgendwer was plane. Gerade dieses Jahr. 85 Jahre nach den Pogromen. Gerade dieses Jahr, in dem Jüd*innen nicht sicher sind. Er wusste nichts. 

Also hab ich am Donnerstag, den 2. November, eine Idee entwickelt, was man tun könnte, was man tun müsste. Und eine alte Studienfreundin, die heute Pastorin in Eutin ist, und diesen Freund und noch ein oder zwei weitere Menschen gefragt, ob sie mitmachen würden. Hin und her geschrieben. Einen Text geschrieben und ein Konzept für eine Veranstaltung gemacht. Es lief so mittelgut an. Was wollen wir sagen? Was ist die Botschaft? Worauf konzentrieren wir uns?

Am Freitag, den 3. November habe ich dann kurzerhand, bevor es ein Bündnis dafür gab, eine Versammlung beim Kreis und der Stadt angezeigt. Und bin jetzt formal der Veranstalter. Morgen (Dienstag, zwei Tage vor der Veranstaltung) findet das Kooperationsgespräch mit Polizei und Stadt und Kreis statt, weil ja der 9. November ein exponiertes Datum ist, vor allem in so einer exponierten Zeit.

Am Sonnabend hatte ich keine Zeit, denn ich war beim Motorsägenkurs für meine Freiwillige Feuerwehr.

Am Sonntag, gestern, am 5. November, stand ein Text für einen Aufruf, hatten wir eine Art Bündnis hinter der Idee und der Mahnwache. War klar, dass wir eben eine schweigende Mahnwache machen, mit einigen wenigen kleinen Impulsen vorher. War klar, dass der Bürgermeister und die Pastor*innen an Bord sind, meine eigene Partei auch, weitere werden folgen, da war ich mir sicher.

9. November: Nie wieder ist jetzt  Mahnwache am 9.11.2023 in Eutin Ort: Marktplatz Eutin Zeit: 17.00 bis 17.30 Uhr Bitte mitbringen: Kerzen in windgeschützten Gläsern

Heute (Montag, 6. November) habe ich den Aufruf gestaltet, Medien informiert und die ersten langen und sehr guten Gespräche geführt. Und online hat die erste Zeitung heute schon berichtet, morgen wird es gedruckt. Ich stehe da auch mit meinem Namen ein. Ich weiß, dass das gefährlich sein kann. Aber irgendwer muss es ja tun. Die Kirchengemeinde hat es online gestellt. Ebenso der Kreisverband meiner Partei. Es bekommt eine Eigendynamik.

Man müsste mal, habe ich vor einer Woche gedacht. Aber anders als sonst einmal losgelegt. Das geht. Jetzt droht es, mir über den Kopf zu wachsen. Bei der Anzeige habe ich von "5-30 Personen" gesprochen. Ob es dabei bleibt? Weiß ich nicht. Aber es geht. Ist nicht einmal so irre aufwändig, den Stein ins Rollen zu bringen. Eine*r muss es nur tun. Diesmal war ich das. Ein anderes mal wird es jemand anders sein. So lange es jemand ist. Und wir nicht wieder nur sagen, man müsste mal.

****

Hier übrigens der Text des Aufrufs. Und wer in der Nähe lebt: kommt doch dazu.

Am 9. November halten um 17 Uhr Menschen aus Eutin und Umgebung eine Mahnwache zur Solidarität mit jüdischem Leben hier und überall ab. Die Mahnwache steht unter dem Motto: 9. November: Nie wieder ist jetzt.   

Hintergrund: Vor 85 Jahren, am 9. November 1938, fand die Reichspogromnacht oder auch so genannte Reichskristallnacht statt. Deutsche plünderten und zerstörten überall im Land jüdische Orte und Geschäfte und quälten Jüdinnen und Juden auf grausame Art und Weise. Diese Gräueltaten markierten einen schrecklichen Meilenstein im Versuch, das europäische Judentum auszulöschen. Die Gründung des modernen Staates Israel am historischen Ort, an dem seit 3000 Jahren Jüdinnen und Juden lebten, war eine Konsequenz dieses Versuchs, damit sie für immer einen sicheren Zufluchtsort haben.   

Die Erinnerung an diese Nacht wachzuhalten, heißt, solidarisch mit jüdischem Leben und mit Israel zu sein. Jüdinnen und Juden müssen hier, überall und in Israel sicher sein. Das ist gerade jetzt nicht der Fall. Darum treffen sich am 9. November 2023 um 17 Uhr Menschen auf dem Marktplatz in Eutin – wie an vielen Orten in Deutschland. Sie wollen ein klares Signal aussenden, dass Antisemitismus weder in ihrer Stadt noch irgendwo sonst Raum haben darf. Dafür halten sie eine schweigende Mahnwache ab.   

Die Initiatorinnen und Initiatoren der Mahnwache kommen aus Kirchen, Parteien und Vereinen und rufen zur Teilnahme auf, um ein stilles, starkes und sichtbares Zeichen der Solidarität zu senden.

2 Kommentare:

  1. Anonym8.11.23

    Ich finde es großartig, dass du es machst! Liebe Grüße Meike

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    1. Danke dir, liebe Meike. Es war ganz einfach. Und es werden viele Menschen werden, glaube ich, wie es gerade aussieht. Drück die Daumen, dass alles gut geht.

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