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25.5.19

Ein Lauf? Oder Einlauf?

Ja, höre ich von Konservativen* gerade immer mal, die Grünen haben einen Lauf. So als Antwort, wenn ich erzähle, dass sie in den Provinzschulen bei uns in Schläfrig-Holstein in Schulklassen bei Wahl-o-mat-Stunden und Testwahlen über alle Altersstufen hinweg bei ungefähr 90% landen. Aber ich denke, diese „Analyse“ geht fehl. Das ist kein Lauf der Grünen. Das ist ein Einlauf für CDU und SPD. Wobei ich am Bemerkenswertesten finde, wie (nicht nur bei Jugendlichen) „CDU und SPD“ verwendet wird: wie früher „CDU/CSU“. Kein Unterschied**.

Zwei Dinge fallen mir auf. Und als jemand, der seit mehr als 20 Jahren überzeugter Grüner ist, freut mich das.

Zum einen, dass immer mehr Menschen, junge vor allem, aber längst nicht nur, sich klar für ein Thema entscheiden (können), das für sie Priorität hat. Das sozusagen das Killerthema ist, das alle anderen überlagert. Ich höre sehr viel – und auch das faszinierende YouTube-Statement von nun wirklich nicht nur linken oder liberalen Stimmen zeigt das –, dass egal wie sehr jemand in anderen Fragen mit einer Partei übereinstimmt, die Frage des radikalen und kurzfristigen Klimaschutzes, der nicht mit anderen Fragen „verrechnet“ oder verhandelt wird, zur klaren Nicht-Wahl führt.



 Es ist also nur noch die Frage, ob beispielsweise die Grünen in den anderen Politikfragen akzeptable Antworten haben. Und nicht mehr, ob ich da ziemlich doll zustimme. Das heißt aber eben auch, dass SPD und CDU so viel auf ihre (guten) Konzepte in der Sozial- oder Steuerpolitik oder sonstwo hinweisen können, wie die wollen – ihre praktischen Entscheidungen gegen schnellen Klimaschutz überlagern alles. Das ist kein Gedöns mehr. Sondern, ähnlich wie für Faschisten die Flüchtlingsfrage, die Existenzfrage. Und damit ist es dann eben kein „Lauf“ der Grünen mehr. Sondern ein Einlauf für SPD und CDU.

Und zum anderen erlebe ich bei vielen Konservativen*, wie sie vor allem von Robert Habeck fasziniert und angetan sind. Während für viele Linkere und Grüne Annalena Baerbock immer wichtiger und immer mehr Identifikationsfigur wird, greift Habeck weit über das alte Milieu hinaus. Weil, so kommt es mir vor, eben Stil und sprachliche Schönheit nicht so unwichtig sind, wie es lange schien. Weil er so wirkt, als würde er zuhören. Und wäre fehlbar. Weil er eben nie so selbstgerecht oder dummdreist auf die radikale Kritik reagieren würde wie klassische Vertreterinnen von SPD und CDU. Auf diese Kritik hier:



Dass die Grünen seit etwa 2012 anfingen, kulturell aus ihrer angestammten Szene herauszutreten und anschlussfähig zu werden als Lebensstil-Partei, hat seit damals das Parteiengefüge geöffnet für eine neue Sortierung. Dass sie es dann nach 2015 geschafft haben, sich als einzige Partei eindeutig als Heimat aller zu positionieren, die Nazis und Autoritäre ablehnen, hat das beschleunigt. Dass sie vor 40 Jahren das Thema als Schlüssel- und Killerthema erkannt haben, das nun gerade für immer mehr Menschen zu ebendiesem wird – all das zahlt sich aus. Hoffentlich.

___________
* also SPD- und CDU-Mitgliedern, die (noch) ihre Parteien verteidigen.
** persönlich denke ich ja, dass das in der Breite unfair ist. Aber insofern verdient, als die SPD ja Scholz und Schulze freiwillig nach vorne stellt.

17.11.16

Dankbar

Es gehört zu den schönen Dingen am Älterwerden, dass deine Kinder keine Kinder mehr sind sondern Erwachsene werden. Zumindest die älteren deiner Kinder. Die jüngeren werden Jugendliche. Das ist anders schön. Ja wirklich, irgendwie, so im Nachhinein, wenn ich an die jetzt erwachsenen denke, als sie jugendlich waren.
Symbolbild: gelingende Erziehung
Und nach und nach zeigen sich die Früchte dessen, was du versucht hast all die Jahre. Obwohl alle mit erzogen haben an deinen Kindern.

Nach und nach zeigt sich, ob die Herzensbildung zumindest in Ansätzen erfolgreich war, die du versucht hast. Oder die Liebe zur Bildung, zum Lesen, zu Wesen.

Nach und nach zeigt sich, ob hinter der Rebellin auch dein Sohn, deine Tochter schlummerte und nun doch noch erwacht.

Es ist merkwürdig, deine Kinder groß werden zu sehen. Meistens fällt dir gar nicht auf, wie merkwürdig es ist, denn es passiert ja nicht, es mäandert so vor sich hin. Es ist nicht plötzlich da. Selbst wenn du dir irgendwann die Augen reibst und dich fragt, wann sich dieser Mensch so verändert hat, dass du auf einmal stolz bist. Und dankbar.

Obwohl – dankbar war ich eigentlich immer. Oder zumindest immer wieder. Denn nichts lässt einen so lebendig sein und so unanfällig für die Blasen, in denen einige deiner Freundinnen zappelt, wie Kinder. Und Jugendliche. Und Erwachsene. Die du begleitet hast.

Du hast immer gedacht, dass du versagst. Du hast Nächte durchgeweint vor Zorn und Verzweiflung. Und andere durchgewacht vor Sorge. Du hast geschlafen wie ein Stein vor Erschöpfung. Du bist hochgeschreckt beim kleinsten Geräusch. Die ersten Monate bist du aufgestanden, um nachzugucken, ob das Kind noch lebt, mitten in der Nacht. Später war es anders und doch immer auch gleich.

Und dann zieht dein erwachsenes Kind bei deinen Großeltern, seinen Urgroßeltern ein. Um sich um sie zu kümmern und für sie da zu sein. Und du merkst, dass alles wunderbar geworden ist.

(Zwei unserer vier Kinder sind nun erwachsen. Und ungefähr so geworden. Wirklich. Ich kann da nicht viel für. Aber es ist toll und ich bin so dankbar, dass ich manchmal Tränen in den Augen habe, wenn ich davon erzähle. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt als viele Kinder zu haben, die so unterschiedlich sind wie es nur geht. Und doch alle auch ähnlich und Teil von uns. Ich liebe euch.)

(und ansonsten könnte man auch dieses lesen – über Kindererziehung in diesen Zeiten. Irgendwie bin ich froh, dass es andere Zeiten waren, als wir unsere groß machten.)

16.7.15

YouTube ist doch was für Kinder

Was regen sie sich alle auf. Die Journalistinnen darüber, dass +LeFloid irgendwie angeblich nicht kritisch nachgefragt habe. Die PR-lerinnen (mich eingeschlossen in meiner ersten Reaktion), dass +LeFloid PR für Merkel macht. Die linken Bloggerinnen (mich eingeschlossen in meiner ersten Reaktion), dass Merkel ihre normale Merkelisierungsnummer abzieht.

Und dann rede ich mit Lehrerinnen, die 16-jährige unterrichten, die gerade ihren Ersten Schulabschluss gemacht haben (früher: Hauptschulabschluss). Und fast unisono erleben sie, dass die Jugendlichen das Video sehen wollten. Teilweise zwangen sie ihre Lehrerinnen, am letzten Schultag (!), noch kurz bevor sie sich zum Abschlussfrühstück hinsetzten, das Video auf das Smartboard zu werfen. Und sahen zu einem großen Teil ruhig (ungewöhnlich) und interessiert (seeehr ungewöhnlich) zu. Und fanden es mega. Heißt: interessant, sympathisch - und von +LeFloid cool.

Dazu zwei Anmerkungen vorweg:
Ich nehme mir vor, bei so Dingen, die so gar nicht für mich gemacht sind, wieder erstmal mit Leuten zu sprechen, für die sie gemacht sind. Und: Dass es funktioniert und von der Zielgruppe für gut befunden wird, sagt dennoch nichts über Qualität oder Sinn.

Aber: Die Erfahrung im Zielgruppen-Umfeld ist, dass es +LeFloid selbst mit diesem langsamen und leicht unbeholfenen Format gelingt, für Politik zu interessieren. Was ich mega finde. Und wie ich immer und überall ungefragt anmerke: Ich bin saufroh, dass meine Kinder und überhaupt die nächste Generation ihre politische Bildung und ihre bevorzugten politischen Kommentare von +LeFloid bekommt und nicht von irgendwelchen Spinnerinnen und krakeelenden Rechten oder so. Ich bin dir dankbar. Und zwar sehr.

Und dann sprach ich gestern Abend mit meinen Kindern über dieses Interview. Das ist jetzt nicht repräsentativ, gar nicht. Obere Mittelschicht, auf dem Weg zum Abi, medienaffines Elternhaus including Tageszeitung zum Frühstück, u know. Aber die Reaktionen waren interessant:
  • Der 18-jährige, sehr politisch, latent linksradikal (also völlig normaler Oberstufenschüler einer Stadtteilschule), fragte: "Wer?" Und als ich ihm erklärte, was +LeFloid macht, erinnerte er sich, das irgendwann schon mal gesehen zu haben, ja. Aber Merkel? Och nö.
  • Der 13-jährige, der vor einem Jahr noch alles, was er über Politik wusste von +LeFloid hatte (wofür ich, sagte ich das schon?, echt dankbar bin), bemerkte, dass er es nicht gesehen habe.
Er sagte stattdessen:
Ich sehe kein YouTube mehr.
Das sei doch eher was für Kinder. 

Sein (Video-, Entertainment-) Setup sieht heute so aus:
  • Er produziert (vor allem Let's Play) Videos für YouTube.
  • Er sieht Videos vor allem bei Twitch (ich habe auch den Verdacht, dass er da die eine oder andere Paysafecard für einsetzt, in die er sein Taschengeld umwandelt - disclosure: Ich habe für Paysafecard gearbeitet in meinem letzten Job).
  • Serien und "TV" sieht er bei Netflix über unseren Familienaccount, aber auf seinem PC oder Smartphone.
  • Und sonst nutzt er für Entertainment und Kommunikation vor allem Snapchat und Insta (neben WhatsApp, aber das hat ja eine komplett andere Funktion).
  • Seit kurzem investiert er eigenes Geld in eine mobile Datenflat.
Wie gesagt - das ist das konkrete Verhalten eines konkreten 13-jährigen, keine Marktforschung, keine Verallgemeinerung. Aber das ist ungefähr auch das, was wir in fast allen Familien in unserer Umgebung mit leichten Nuancen erleben.

Meine Beobachtung ist dabei, dass sehr viel der Interaktion, des Folgens ihrer Vorbilder, Stars, Tipp-Geberinnen (ob beim Gaming oder beim Schminken und Stylen) gerade in den letzten Monaten nach Snapchat abgewandert ist. Dass beispielsweise die Mädchen Bibi oder Joana intensiver bei Snapchat folgen und zusehen als in ihren YouTube-Kanälen und Blogs. Was auch irgendwie logisch ist, hier kommen sie so dicht an sie heran, wie es vorher kaum möglich schien. Auf 10cm. Und das fast in Echtzeit, mit maximal einer (Schul-) Stunde Zeitverzug.

Was für spannende Zeiten.

(übrigens könnt ihr meinen Storys auf Snapchat folgen, wenn ihr das Bild da an der Seite snapt. Ganz einfach)

27.1.15

Lauf, Junge, lauf

Er wollte eigentlich dringend die Schule wechseln. Zwar würde er in einer größeren Klasse nicht zwingend den Ersten Schulabschluss schaffen, aber alle anderen, die sich jetzt, als Jugendliche, ihrer Religion zuwenden, gehen rüber an eine der Schulen in Lohbrügge. Sein Cousin würde da auf ihn aufpassen und ihm helfen.

Auch, wenn er in den letzten beiden Jahren, seit er erwacht ist, wie er es wahrscheinlich nennen würde, von seiner Klassenlehrerin immer direkte und sehr klare Ansagen bekommt (und er sie mag und respektiert, ja wirklich, Respekt kommt ihm dabei über die Lippen, verwunderlich genug, sie ist ja eine Frau), weiß er doch, wer an allem Schuld ist. Auch wenn er es (wohl eher aus Rücksicht auf die Lehrerin als aus Überzeugung) seltener und nur noch sehr selten ungefragt und zu jeder Gelegenheit in die Klasse ruft. Schuld daran, dass seine Familie Afghanistan verließ. Daran, dass der Islam überall unterdrückt wird. Weshalb es sein Weltbild bereits leicht ins Wanken brachte, sozusagen einen winzigen Haarriss zeitigte, als es kein Problem darstellte, dass er in der Mittagspause in der Schule im Gruppenraum der Klasse beten wollte. Was er seitdem machte.

Die Juden sind Schuld. Und Israel sowieso, diese Eroberer und Unterdrücker. Davon ist er fest überzeugt.

***

Im letzten halben Jahr war in Geschichte das Thema ein Thema, das so viele nervt. Von dem ich immer wieder höre, dass es zu viel, zu oft, zu pädagogisch behandelt werde. Dass alle Schülerinnen dauernd darüber reden müssten würden. Seine Geschichte aber zeigt, dass wir nicht oft genug über den Holocaust und die deutsche Vernichtungsmaschine reden können.

Im letzten Halbjahr sind viele Schulklassen in Lauf, Junge, lauf gegangen. In Hamburg haben die (kleineren) Kinos den Film an den Schulfilmtagen gezeigt. Und obwohl seine Lehrerin den Film mit der Klasse vorbereitet hat und das Thema schon länger im Unterricht dran war, traf ihn der Film völlig unvorbereitet. Und hat ihn erschüttert.



Ausgerechnet ein Jude. Es war völlig verstörend, dass ausgerechnet ein jüdischer Junge etwas erlebt, das er fast für seine Geschichte halten könnte. Sein Zorn und auch wirklich sein Mitgefühl galten dem Jungen.

Er hatte noch nie darüber nachgedacht und noch nie davon gehört. Noch nie, obwohl er ja nun auch schon sechzehn ist, hier geboren wurde und in dieses Land gehört. Obwohl angeblich dauernd und viel zu viel davon in der Schule und in Medien die Rede sei.

***

Er wurde stiller. Seit dem Vormittag im Passagekino, damals, im Spätherbst, hat er nicht ein einziges Mal in der Klasse über die Juden, die an allem Schuld seien, schwadroniert. Nicht noch einmal den Schulwechsel angesprochen. 103 Minuten, die sein Leben verändert haben.

***

Ich denke, wir können nicht oft genug vom Holocaust reden und von den Verbrechen, die die Deutschen in ganz Europa begangen haben, dem Preis für den Aufstieg des "kleinen Mannes" in der deutschen Gesellschaft.

In meiner Kindheit war es Ein Stück Himmel, für die Generation meiner Kinder ist es Lauf, Junge, lauf. Immer wieder ein eindringliches Stück aus der Opferperspektive, das einen Perspektivwechsel ermöglicht.

Bundesarchiv Bild 146-1993-020-26A, Lidice, Ort nach Zerstörung Für mich persönlich waren es die Reise nach Lidice und das Bild Guernica, die mich so tief erschüttert und beeindruckt haben. Für den Jungen war es der Vormittag im Kino. Aber ein auch emotional erschütternder Moment, davon bin ich überzeugt, muss sein und kann sein und kann allen zugemutet werden.

Denn allein die Fakten, allein die Wahrheit, bewegt jemanden wie diesen Jungen nicht. Andere schon, die es zornig macht, beides ist wichtig. Beides ist gut. Wichtig ist nur, dass es zu einer Veränderung führt.

Ich bin überzeugt, dass allein die tiefe Fassungslosigkeit oder Scham die Monstrosität des Holocaust erahnen lässt. Denn er ist mit Worten und Bekenntnissen und Schilderungen nicht zu erfassen. Und es kann und darf niemals einen Schlusstrich geben.

Was mir die kleine Episode mit dem Jungen vor allem zeigt, ist, dass es richtig ist, den Holocaust auch in der Schule, abseits der Pfade der eigenen Familie und des eigenen direkten Umfeldes, immer und immer wieder und immer wieder neu und anders zu behandeln. Denn Kinder, junge Jugendliche und ältere Jugendliche haben verschiedene und sich verändernde (emotionale) Zugänge zu diesem Thema. Es ist nie zu früh für die Fassungslosigkeit. Und nie zu spät.

Und wenn nur ein Judenhasser in seiner Haltung und Überzeugung erschüttert wird, hat es sich gelohnt.

13.1.15

Bildungsfernes Schichten

Jugendliche müssen so was sagen. Wirklich. Sonst liefe was falsch. Keine Kritik also, kein Erheben, kein mildes Lächeln von meiner Seite. Wirklich nicht.
Komisch und verquer wird es, wenn das aber Erwachsene begeistert aufnehmen und wenn deren "Medien" das zum Tweet des Tages erklären.

Es erinnert mich an so ziemlich jede Diskussion über Bildung und Schule, die ich mein Leben lang geführt habe. Bereits ganz großartig während der Schulkämpfe in den 80ern in Hamburg - gipfelnd im legendären Streitgespräch unseres stramm Stamokap geprägten Vorsitzenden der SchülerInnenkammer (so hieß die damals) mit Gerhard Meyer-Vorfelder ("MV"), dem damaligen Schulminister in Baden-Württemberg, der sich im Fernsehen zu der Aussage verstieg, die Masse der jungen Leute brauche nur führerscheinähnliche Kenntnisse, wenn sie die Schule verlasse.

Steuern, Miete, Führerschein - klassisches rechtskonservatives Schulziel für die Masse - während die Gedichtsanalyse den wenigen Kindern der Professoren und Ärzte vorbehalten sind, denn wer braucht so was schon.

Call me Bildungsbürger, aber ich finde es großartig, dass wir da heute weiter sind. Mich hat, zumal ich eben gerade nicht aus Arbeiterinnenfamilien stamme sondern aus einer Mischung von Akademikerinnen und Kleinbürgerinnen, die emphatische Kritik am reaktionären Antiintellektualismus heutiger Pseudoeliten sehr berührt, die Georg Seeßlen im Oktober in der Konkret schrieb. Lest die mal, wirklich.

Wo wenn nicht in der Schule, wenn sie nicht aus falsch verstandenem ökonomischen Druck gehetzt und nur auf Anwendungswissen getrimmt ist, kann ich so zweckfrei und nur aus intellektueller Maniriertheit etwas wie Gedichtsanalysen machen? Wo kann ich, nachdem das akademische Studium durch den Bolognaprozess kastriert und auf Linie gebracht wurde, noch denken lernen.

Das macht vielen Jugendlichen keinen Spaß. Aber selbst wenn ich jetzt wie der alte Sack klinge, der ich bin: Selbst die, die sich darüber mokieren, während sie sich aus schicker Langeweile oder tatsächlichem Desinteresse in der Nase popeln oder ihre Haare durch den Mund ziehen, profitieren langfristig davon.

Steuern, Miete, Versicherungen. Lineare Algebra sogar (obwohl ich erst entsetzt war, dass das ins Studium ausgelagert wurde). Das Leben, die Berufsschule oder der Vorkurs an der Uni sind auch noch da.

Mich gruselt es vor Leuten, die die Schule von ihrem Bildungsauftrag befreien und ihr einen Ausbildungsauftrag verpassen wollen. Denn sie verfolgen eine Agenda. Und die ist bestenfalls reaktionär.

18.6.13

Das nächste große Ding

Das, was nach Facebook kommt, wisst ihr, das kenne ich auch nicht. Aber das macht nichts. Denn ich bin überzeugt, dass es gar nicht "das nächste große Ding" geben wird. Jedenfalls nicht so bald. Sondern dass sich Menschen in ihrer Nutzung der Onlinedingsens ausdifferenzieren werden.

Was ich aber weiß, ist, wie sich das Onlineleben bei Jugendlichen zurzeit verändert. Daraus lassen sich schon einige Rückschlüsse ziehen. Einige erste Gedanken hatte ich letzten Monat schon einmal auf englisch aufgeschrieben und zur Diskussion gestellt. Und letzte Woche spontan daraus einen Vortrag auf der Fachtagung Social Media der depak gehalten. Lustigerweise als Ersatz für einen Facebook-Vortrag. Aber abgesehen davon waren dieses hier die Folien, die ich dafür zusammengestöpselt habe:


Mit Jugendlichen beschäftige ich mich ja sowohl beruflich als auch privat intensiv. Habe selbst drei sehr unterschiedliche zu Hause (plus ein Kind). Und bin in einigen Projekten involviert, bei denen wir Jugendliche kommunikativ erreichen und in einen Dialog, in eine Aktivierung bringen wollen.

Auch wenn ich weiß, dass aus dem Verhalten von Jugendlichen heute nicht auf ihre Verhalten in fünf oder zehn Jahren geschlossen werden kann, sind doch die Dinge, denen sie sich entziehen, die sie nicht machen ,spannend. Ebenso wie die Dinge, die sie für sich anders nutzen oder entdecken.

Twitter beispielsweise. Seit Beginn dieses Jahres mit enormen Zuwachsraten unter Jugendlichen, aber mit einer von meiner Nutzung sehr deutlich abweichenden Verwendung. Die nahbaren Stars dieser Generation, beispielsweise von YouTube, haben Followerzahlen, die "uns" Erwachsene mit den Ohren schlackern lassen. 50.000 junge Leute unter 16 Jahren sind da keine seltene Followschaft.

Oder dass sie vor den Vollhonks und vor dem Mobbing aus Facebook fliehen. Also Facebook anders nutzen als wir. Und sich in Räume zurück ziehen, in denen die Codes gleich sind unter denen, die da sind. In denen sie sich verstehen, ohne jedes Mal erklären zu müssen, was gemeint ist und wie es gemeint ist.

Oder dass sie mit verschiedenen ihrer Gruppen unterschiedliche Chat-Apps nutzen. Oder ganz WhatsApp lassen, weil sie auch gemerkt haben, dass ihre Eltern das schon kennen und sehen, wann sie zuletzt online waren. Beispielsweise Dienstag um 2.34 Uhr, direkt vor dieser wichtigen Matheklausur.

Das nächste große Ding ist aus meiner Sicht dieses Ende des Silos. Und das Zerfallen der Kommunikationsräume. Mehr Text bei Medium. Das ich ohnehin für eines der spannendsten Dings zurzeit halte. Mehr Bilder bei Instagram. Das weiterhin sehr wächst unter Jugendlichen und unter Erwachsenen. Starkes Ausdifferenzieren von Verhaltenweisen auf Twitter. Das damit mehr und mehr wirklich zur Infrastruktur wird und sich wegentwickelt von allem, was daran mal communityartig gewesen wäre.

Meine Drohung: Ich bleibe an diesem Thema dran. Denn ich merke, wie sehr es für viele andere noch neu ist. So wie für den Teilnehmer an der Tagung letzte Woche, der verzweifelt auf mich zu kam, weil einige Tage vorher gerade seine große Jugendkampagne gestartet war. Auf Facebook. Und mit SMS.

Ceterum censeo: Wer glaubt, mit Facebook Jugendliche zu erreichen, schreibt denen wohl auch noch SMS

16.4.13

Alte-Leute-Medium

In Abwandlung eines Ausspruches von Don Tapscott lässt sich schon heute sagen:
Facebook is a former mainstream network good for sending birthday greetings to your friends' parents.
Schon im August 2011 schrieb ich ja etwas zu reißerisch, dass ich auf Dauer Facebook keine Chance einräume. Die Gründe mögen fragwürdig sein und gelten heute teilweise nicht mehr so richtig - meine Einschätzung, was die Verschmelzung der Betriebssysteme angeht, stimmt so nicht. Aber dass sich Facebook zu einem Alte-Leute-Medium entwickelt, ist unübersehbar. Und das ist schlecht (für Facebook und die Kommunikatorinnen, die sich langsam endlich daran gewöhnt haben, Facebook ernst zu nehmen, teilweise noch als Jugendplattform lustigerweise, aber das ist beinahe schon eine andere Geschichte).

Die Zeichen mehren sich in fast allen Märkten, dass die nächste Generation sich nicht mehr zu 110% bei Facebook anmelden wird. Und dass schon jetzt ein signifikanter Teil der Jugendlichen, auch der älteren Jugendlichen, Facebook anders nutzt als wir uns das mal so vorgestellt haben.
Die Zahlen von zurückgehendem Wachstum in der sehr jungen Zielgruppe gepaart mit meiner Privatempirie legen mir nahe, dass es jetzt an der Zeit ist, die Augen offen zu halten.

Facebook hat aus meiner Sicht zwei offene Flanken, die sie nicht schließen können. Und nicht schließen werden. Dass sie strategisch auch in eine andere Richtung laufen als diese Flanken zu schließen, zeigt Facebook Home. Aber auch das ist eine andere Geschichte.

1. Facebook ist elternverseucht
Wenn inzwischen mehr als die Hälfte der Eltern von Jugendlichen, die auf Facebook sind, dort auch rumturnen, ist das eher übel für dessen Reputation. Ja, noch nutzen sie massiv vor den Augen ihrer Eltern verborgene Funktionen wie Gruppen und Chat. Aber das wird zurück gehen, wenn das Posing für sie nicht mehr attraktiv ist auf diesem Netzwerk. Und das ist es schon jetzt immer weniger. Die starken Wachstumsraten von Twitter (auch in Deutschland jetzt erstmals, fast nur unter Jugendlichen) und Instagram (was mich weniger überrascht hat) sprechen dafür, dass sie ausweichen auf Netzwerke, in denen bisher nur wenige Erwachsene sind. Oder gleich ganz andere Dinge ausprobieren - ich bin beispielsweise sehr gespannt auf Wachstumsraten von SnapChat, vor allem, wo sie jetzt auch für das bei Jugendlichen sehr beliebte Android verfügbar sind (und ich halte SnapChat für tatsächlich sehr interessant, vor allem das Privatsphärekonzept, das daraus spricht). 
Warum sollten Jugendliche auf Dauer ein Netzwerk nutzen, auf dem die Eltern sind? Wenn, dann werden sie es so "sauber" nutzen wie wir Xing oder LinkedIn.
2. Sollbruchstelle Ausweisstelle
Die Funktion von Facebook, die de-facto-Ausweisstelle des Internet zu sein, trägt viel zu seinem aktuellen Erfolg und Sog, vor allem unter Erwachsenen, bei. Aber sie ist zugleich der Punkt, an dem sich die nächste Generation abwenden wird. Zunächst nur einige Subgruppen, die besonders stark auf Abgrenzung setzen, so wie es in linken Szenen lange schon große Facebook-Aversionen gibt. Und nach und nach weitere. Je mehr Facebook faktisch zu einem Silo wird, egal wie sehr sie den AOL-Fehler zu vermeiden suchen, desto schneller werden sich nachwachsende Gruppen abwenden.
Ich glaube nicht, dass sich Tertius, der jetzt 11 Jahre alt ist und sich sehr für Onlinenetze interessiert und für den selbstverständlich YouTube der First Screen ist, noch bei Facebook anmelden wird. Und wenn, dann nur, um es so zu nutzen, wie meine großen Kinder E-Mail: Als Notfallequipment, um mit Erwachsenen kommunizieren zu können.

Zeit, umzudenken.

Ceterum Censeo: Wer glaubt, mit Facebook Jugendliche zu erreichen, schreibt denen wohl auch noch SMS.

Edit 17.4.
Sozusagen als Fortsetzung ist hier der Beitrag über die am gleichen Tag veröffentlichte scheinbar dem hier widersprechende Studie des mpfs mit uralten Zahlen von vor einem Jahr.