20.2.12

Schubladen My Ass. Oder: Gauck ist sperrig

Da ich im Konflikt Freiheit/Sicherheit für Freiheit bin - bin ich ein Liberaler?
Da ich für ein bedingungsloses Grundeinkommen bin - bin ich ein Linker?
Da ich Ehescheidung und Abtreibung ablehne - bin ich ein Rechter?
Da ich Kirchhoffs Besteuerungsmodell für Familien interessant finde - bin ich ein Libertärer?
Ich muss noch mal was zu Gauck schreiben, bitte entschuldigt. Aber ich finde so vieles so extrem albern. Anscheinend ist es so mühsam, dass Gauck nicht so Recht in Schubladen passen will. Das liegt vor allem daran, dass er wirklich meint, was er sagt - und dass er sich so nachhaltig weigert, seine Äußerungen auf ein auf Twitter zitierfähiges Format zurückzustutzen.

So groteske Zitatschnipselsammlungen wie Malte Lehmings unsäglicher für den Tagesspiegel leicht aktualisierter Kommentar oder das methodisch an religiöse Fundamentalistinnen erinnernde Piratenpad zu Gauck zeigen mir vor allem eines: Es lohnt sich, die Schnipsel im Zusammenhang zu sehen oder zu lesen.

Denn ja, Gauck sagt Sätze, die auch mich irritieren und/oder verstören. Aber er sagt sie in Zusammenhängen, die Fragen stellen und einen Bogen aufspannen. Sei es zur Vorratsdatenspeicherung. Sei es zu Sarrazin. Und aus der Feststellung, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze habe Vertriebene verletzt, zu schlussfolgern, Gauck sei wie Erika Steinbach oder meine, diese Verletzung wäre nicht nötig gewesen, ist dann schon nicht mehr nur lustig und unbeholfen sondern ernsthaft bösartig. -
Update mittags Patrick Breitenbach hat die Quellenlage in einem langen Beitrag heute sehr schön nachgezeichnet. Ebenso wie Christian Jakubetz im Cicero. Euch beiden danke dafür. /Update

Wenn Gauck konservativer ist als die CDU, dann bin ich das auch. Wenn er für die seit den 90ern verstorbenen CDU-Mitglieder steht, bin ich wohl tot. Er ist sperrig und aus der Zeit gefallen. Aber genau das macht seine Kraft aus.

Er scheint nicht in die bekannten Schubladen zu passen, was einige meiner Freundinnen irritiert. Aber die irritiere ich auch immer wieder. Wahrscheinlich wären einige von denen auch irritiert, wenn sie in der Kohlenstoffwelt mal mit normalen Menschen in ihren Reihenhäusern am Stadtrand reden würden.

Was ich bei Gauck sehe, ist eine Person, die eine Haltung hat, die von sehr weit her kommt und sich in einem langen Leben bewährt hat. Das mag sperrig wirken. So what. Aus nahezu allem, was ich von ihm bisher gesehen und gehört und gelesen habe, spricht der norddeutsche Lutheraner. Eine Lebensform, die vielen sicher fremd ist, die die wenigsten in meinem Umfeld (noch) kennen. Und die eine faszinierende Mischung aus radikalem Haltungs-Konservatismus und politischem Liberalismus darstellt. Für die kennzeichnend ist, dass sie eben jenseits von ewigen Gewissheiten und diesseits von moralischem Rigorismus argumentiert (und schon das Argumentieren an sich ist ja heute vielen suspekt, denen Meinung wichtiger ist als der Diskurs).

Aber vielleicht projiziere ich auch nur wieder meine eigene Haltung und meine eigene Biografie. Was, übrigens, auch ein spannender Effekt sein kann.

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