5.1.07

The Ashley Treatment

Ich bin mir immer noch nicht wirklich sicher. Seit gestern früh, als ich erstmals davon hörte, denke ich darüber nach, was ich davon halten soll, dass Ärzte und Eltern ein Kind am Wachsen hindern durch Hormone und Operationen.

Die Sicht von Ashleys Familie ist spannend und aufwühlend. Dass sie sich so deutlich zu Wort meldet, finde ich gut - auch wenn ich mir nicht sicher bin, dass ihre Eltern es wirklich selbst und alleine sind, die da schreiben. Aber ich merke, und das macht mich so unsicher, dass die eigene Stimme der Menschen, die die Verantwortung für die ungewöhnliche - ja, was soll man sagen? - Behandlung? übernommen haben, eine allzu einfache Antwort schwieriger macht, ob es ok ist, was die Ärzte und die Eltern mit dem Kind angestellt haben.

Trotzdem neige ich dazu, dass es ethisch nicht in Ordnung ist, ein Kind so zu verstümmeln. Ich kann die Eltern und auch einen Teil ihrer Argumentation verstehen - aber sie können am Ende nicht wissen, ob ihre Zukunftsannahmen, auf denen sie ihre Entscheidung begründen, stimmen.

Das Argument, dass sie mutmaßlich weniger leide, wenn sie klein bleibe und nicht in die Pubertät komme, kann nicht aufwiegen, dass sich hier Menschen anmaßen, einem anderen Menschen die Entwicklung zu verweigern. Und für diese Anmaßung sind mir die Argumente, die sie vorbringen, nicht stark genug, um sie zu begründen und vertretbar zu machen. Wie können sie wissen, dass Ashley nicht (auch) Freude an ihrer Entwicklung haben kann?

Mir scheint (und das ist ein Motiv, das in der seelsorglichen Begleitung von Eltern schwerstbehinderter Kinder oft begegnet), hier schließen Menschen daraus, dass sie sich als "gesunde" Menschen ein Leben und Freude für Ashley nicht vorstellen können, dass sie auch keine empfinde und nicht glücklich werden und sein könne. Das aber ist eine weitere Anmaßung, die sich weder begründen lässt, noch irgendwie plausibel ist. Gerade wenn es stimmt, dass sie auf dem geistigen Entwicklungsstand eines Kleinkindes bleibe, ist die Annahme, sie wäre nicht zu Glück und Freude fähig an ihrer eigenen Entwicklung, absurd.

Mein Ethik-Lehrer Traugott Koch, mit dem ich intensiv über Medizinethik gearbeitet habe, hat es einmal so formuliert, dass wir unterscheiden müssen zwischen der tiefen Kränkung und Verletzung, die Eltern empfinden und die wir ernst nehmen müssen und werden - und der Ehrfurcht vor dem Leben und dem Recht auf die je eigene Entwicklung. Ein Recht auf Schmerzlosigkeit oder auf Gesundheit dagegen gebe es nicht. Mich hat besonders beeindruckt, dass dies von einem Menschen kam, der mit mehr als einem Bein im Grab gestanden hatte und selbst schwer krank war.

Die Gefühle oder gar das Mitleid von Eltern oder Ärzten taugen nicht für eine ethische Entscheidung. Sondern allein die Frage, was ich Ashley gebe und was ich ihr nehme. Und das, was ich ihr nehme, ist so groß, dass kein vermeintliches Geben (das ich so auch nicht wirklich sehe) es aufwiegen kann.

Meine Unsicherheit bleibt an der Stelle, an der es darum geht, das Verhalten zu verurteilen. Das kann ich nicht. Denn wie so oft in den Situationen, die ethisch herausfordernd sind, liegt hier eine Tragik vor: Wie immer ich mich entscheide, ist es falsch. Es gibt kein Richtig. Das sehen die moralischen Rigoristen nicht, die jetzt Eugenik schreien. Und das sehen offenbar auch die Ärzte und Eltern nicht, die ohne einen Hauch von Zweifel ihre Entscheidung verteidigen. Wenn ich etwas vorwerfen kann, dann vor allem dies.

Und ein "Argument", das sich durch die gesamte Rechtfertigung von Ashleys Eltern zieht, macht besonders deutlich, wo meines Erachtens nicht nur eine ethische Fehlentscheidung vorliegt, sondern auch ein Denkfehler (auch einer, der einem oft begegnet und der den Eltern nicht vorzuwerfen ist, weil es schwer ist, ihn zu vermeiden und schmerzlich, die Konsequenzen daraus zu ziehen):
Furthermore, we did not pursue this treatment with the intention of prolonging Ashley’s care at home. We would never turn the care of Ashley over to strangers even if she had grown tall and heavy. In the extreme, even an Ashley at 300 pounds, would still be at home and we would figure out a way to take care of her. (The "Ashley Treatment")
Ich erlebe in der Familie und bei Freunden, wie schwer es ist, das erwachsen werdende Kind mit einer schweren Behinderung gehen zu lassen und in eine Wohngruppe oder in ein Heim ziehen zu lassen. Aber es gehört nun einmal zum Erwachsenwerden dazu, dass ich ausziehe. Ich bleibe verantwortlich, so wie ich auch verantwortlich bleibe für meine schwer demenzkranke junge Mutter. Aber der Schritt aus der Familie gehört dennoch dazu...

2 Kommentare:

  1. Anonym6.1.07

    Danke für den Text. Es tut einfach gut in einer Zeit, die so sehr vom Machbarkeitswahn geprägt ist, sich fast alles zurechtoperieren, zurechtbehandeln oder eben auch zurechtsterben zu lassen, eine so differenzierte Meinung zu hören.

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  2. Ich habe schon mehrere Statements zu dieser Entscheidung gelesen. Die Differenziertheit und fehlende Veruteilung tuen gut. Denn es gibt Entscheidungssituationen, in denen man immer Schuld auf sich lädt. Diese Abwägung von Schuld bzw. Verantwortung gehören wahrscheinlich zum Menschsein dazu (ob das mit Erbsünde gemient ist, dass ich als Mensch immer schuldig bin???). Der Text regt jedenfalls dazu ein, sich darüber klar zu werden. Danke

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