5.1.24

Schlüttsiel

Das, was gestern Nacht hier bei uns in Schleswig-Holstein, in Schlüttsiel an der Nordsee, passiert ist, kann zu einem Wendepunkt werden und zu einen defining moment für Teile unserer Generation, zumindest für die linksliberalen Teile, denke ich. Denn am Umgang des Staates mit dem Anschlag radikalisierter Landwirt*innen auf einen Bundesminister kann sich entscheiden, ob nach den Autoritären auch viele Linksliberale für den demokratischen Meinungsstreit verloren werden.

Gestern Abend haben sich selbstradikalisierte und sich in Messenger-Gruppen organisierende Bäuer*innen erst auf den Weg gemacht, um Robert Habeck auf seinem Rückweg vom Familienurlaub abzupassen, dann mit ihren Treckern den Fähranleger in Schlüttsiel so blockiert, dass niemand von der Fähre runterkonnte. Als der Minister "nur" einige von ihnen zu einem Gespräch auf die Fähre eingeladen hatte, sich aber nicht zu ihnen aufs Festland begeben durfte, weil der Personenschutz die Situation für zu gefährlich für ihn und sich hielt, haben sie versucht, die Fähre zu stürmen. Nur dem Einsatz der Polizei und des Fährpersonals ist zu verdanken, dass dieser Anschlag vereitelt werden konnte.

Dafür, dass die Polizist*innen vor Ort so klar standen, bin ich sehr dankbar. Ich weiß, dass es kein leichter Einsatz ist, sich Onkel Johann oder Jan, mit dem ich zusammen zur Schule gegangen bin, entgegenzustellen. Hier auf dem Land kennen wir uns, über politische und gesellschaftliche Grenzen hinweg, die in der Stadt existieren.

Der Staatsschutz ist gefragt

Ich habe noch in der Nacht und auch heute früh bei vielen ein großes Entsetzen über diesen Anschlag gesehen. Und ich hoffe, dass sich die Bauernverbände und auch die Landwirt*innen, die für die kommende Woche eigentlich das Land lahmlegen wollten, heute im Laufe des Tages klar positionieren. Angemessen wäre sicher ein Moratorium für die Proteste, um etwas runterzukommen und Wege zu finden, dem Terror, den einige der Kolleg*innen verbreiten, entgegenzutreten. Denn ich erlebe hier in den Dörfern auch, wie der Rückhalt für die Proteste gerade massiv bröckelt, auch und gerade bei den Alten. Und auch bei vielen Landwirt*innen, nicht nur denen im Nebenerwerb, wie ich einer bin.

Vor allem aber halte ich es für wichtig, dass diejenigen, die unseren um ihre Zukunft besorgten Kindern in den letzten Monaten den Staatsschutz auf den Hals gehetzt haben, dieses jetzt auch sehr zügig für diesen Terror fordern. Und dass der Staatsschutz übernimmt. Ein Anschlag, eine massive Bedrohung eines Ministers und anderer Unschuldiger ist kein Protest. Vor allem die politisch aktiven Menschen, die eher konservativ aber nicht autoritär sind (und das sind zumindest bei uns vor Ort und auf dem Land immer noch die allermeisten Konservativen), sind jetzt gefragt: wie sie sich positionieren und verhalten, wie aktiv und klar sie sich vom Terror dieser radikalisierten Landwirt*innen distanzieren, wird bestimmen, wie es mit Demokratie und Meinungsstreit in unserem Land weitergeht.

Durch vieles, was in den letzten Monaten passiert ist und diskutiert wurde, ist das Vertrauen von Linksliberalen darein, dass Staat und Gesellschaft die Demokratie zu verteidigen bereit und in der Lage sind, angeknackst. Nach Schlüttsiel haben Staat, Politik und Staatsschutz und Justiz die große Chance, dieses Vertrauen zu stabilisieren – und die große Gefahr, es sehr stark zu erschüttern. Wenn "der Staat" nicht mindestens mit der gleichen Härte gegen diesen Terror vorgeht wie gegen die Proteste der Letzten Generation, wird er "uns" Liberale verlieren. 

Deshalb ist Schlüttsiel ein Wendepunkt, denke ich. Und kann ein defining moment werden. Auch mir, einem durch und durch optimistischen Menschen, fällt dieser Optimismus gerade schwer. Ich hoffe, ich bange, ich bin angespannt. Aber noch mag ich nicht aufgeben. Denn ich lebe von und mit dem Land. Ich lebe gerne mit den Menschen hier bei uns in den Dörfern. Ich schätze sie und kann mit ihnen reden und diskutieren. Auch wo wir nicht einer Meinung sind, hören wir einander zu. Bitte macht das jetzt nicht kaputt. Macht unser Land nicht ganz kaputt.

9 Kommentare:

  1. Anonym5.1.24

    Die Bauernbefreiung war ein großer Fehler.

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  2. Anonym5.1.24

    Ich finde, man darf ie vergessen: Proteste jeglicher Art (von Impfgegnern bis Nahost) werden auch von Extremisten zu verstärken und zu instrumentalisieren versucht. Manche dieser demokratiefeindlichen Extremisten werden selbst instrumentalisiert – etwa die Ru. Militärdoktrin spricht von der Nutzung vestehenden Protespotentialen in demokratischen Gesellschaften als Mittel hybrider Kriegsführung. Auch von „Politischen Mitteln“, und welche Parteien enge Kontakte nach Moskau pflegen (AfD, zuk. BSW) und im Kern Ru. Interessen vertreten, ist ja bekannt. Ich glaube, hier hilft Bewusstsein, und zu vermeiden, über jedes Stöckchen zu springen.

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  3. https://auswandererblog.ch/ - ein guter kommentar eines landwirtes, den ich für sehr zutreffend halte. bei allem verständnis für hart arbeitende menschen: wir tun das auch mit weniger unterstützung im galabau. lieben gruß, roswitha

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  4. Auch ich ringe "in diesen Zeiten" sehr um meinen eigentlich stets stabilen Optimismus... Ein Beitrag wie dieser hilft mir ein Stück weit dabei. Danke.

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  5. neffets6.1.24

    Das Vertrauen auf den Staat haben Viele während der Pandemie verloren.
    Die Ordnungsbehörden sind strukturell kaputt und handlungsunwillig bzw. -unfähig.
    Die lavierende Ampel-Regierung mit dem Kanzler des Niedergangs verschlimmert die gereizte Lage sehenden Auges. Mir graut vor den kommenden Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

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  6. Siewurdengelesen7.1.24

    Sich als "Linker" oder "Linksliberaler" auf "den Staat" oder besser seine Organisatioen zu verlassen, ist witzlos. Das ist nicht erst einmal schiefgegangen und sobald die Situation kritisch wird, gibt es auch wieder einen Noske, aber nicht bei Rechten.

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  7. Anonym7.1.24

    "Vor allem aber halte ich es für wichtig, dass diejenigen, die unseren um ihre Zukunft besorgten Kindern in den letzten Monaten den Staatsschutz auf den Hals gehetzt haben, dieses jetzt auch sehr zügig für diesen Terror fordern." - bin der gleichen Ansicht und hab das heut Morgen bereits dem Innenministerium meines Bundeslandes geschrieben. Nennen Sie mich naiv, und natürlich ist das nur ein Tröpfchen auf den (riesigen) heißen Stein, aber: es war mir wichtig.

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  8. Heute in der taz: Kein Versuch zu stürmen
    https://taz.de/Recherche-zur-Faehraffaere/!5986300/
    beruht auf einer Recherche des NDR

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