18.1.21

Ich liebe Radio

Radio

Ich wollte nie zum Fernsehen. Weil ich immer Radio liebte. Nur mit der Stimme, sehr direkt, sehr intim – und trotzdem für alle zu hören, die zufällig oder bewusst einschalten. Die Zeit als Kirchenfunker im Privatradio war sehr cool, bis hin zu den Experimenten, on air zu beten.

Radio ist aber vor allem auch flüchtig. Weshalb ich noch die Generation Mix-Tapes bin, die Lieder aus dem Radio auf Kassette aufgenommen hat und am Doppelkassettendeck neu zusammenstellte.

Ich mag auch Podcasts und Hörbücher, sehr sogar. Die höre ich beispielsweise bei der Hofarbeit, beim Pferdescheißeschaufeln, beim Zäunebauen, beim Kochen.

Ephemeral Media

Und ich mochte schon immer Ephemeral Media. Damit habe ich mich damals, vor sechs Jahren, als es losging mit Ephemeral Media, intensiv beschäftigt und viel drüber geschrieben und Vorträge gehalten. Das Flüchtige als Antwort auf die unangenehme Erfahrung, dass "das Web nicht vergisst", hat mich die gesamte Zeit fasziniert. Ebenso übrigens, wie dann dieses Flüchtige für uns doch permanent sein sollte - wie die Highlights auf Insta, die eigentlich ephemere Storys haltbar machen.

Radio ist eigentlich auch Ephemeral Media, immer schon. Sogar noch radikaler, weil es eben nur im Moment funktioniert und nicht mal die sonst üblichen 24 Stunden.

Clubhouse

Und nun also Clubhouse. Dieses Wochenende ist es so richtig offiziell in Deutschland angekommen, es sieht so aus, als ob es tatsächlich für fast alle, die ein iPhone haben, geöffnet wird. Clubhouse machte seit rund einem Jahr ein bisschen Furore, vor allem in Nordamerika, weil es zunächst nur für kleine exklusive Zirkel zugänglich war, um auszuprobieren, was da geht und was nicht. 

In aller Kürze: Nur Audio, kein Video, kein Text, keine Bilder. Nur live, nur im Moment. Wer einen Raum öffnet, kann sprechen und entscheiden, wer mit sprechen darf, andere können zuhören und darum bitten, mitsprechen zu dürfen. Also im Grunde eine Mischung aus Talkradio und Open Mic.

Hype oder nachhaltig?

Im Grund ist es egal, ob es "nur" ein Hype ist oder ob da ein neues, nachhaltiges Netzwerk entsteht. Für Hype spricht, dass ich von Freund:innen, die es vor Monaten anfingen zu nutzen und anfangs hell begeistert waren, höre, dass das schnell wieder abflaute und sie noch ein, zwei Mal in der Woche oder sogar nur im Monat die App öffnen. Das scheinen auch andere zu hören. Und es ist auch allzu sehr männlich und weiß und teilweise offenbar auch echt kakke.

Aber: es ist, gerade für einen alten Radiomenschen wie mich, auch irgendwie super aufregend, wie dort eine Community versucht, im Grunde die Brecht'sche Vision vom Radio zum Leben zu erwecken. Und da steckt etwas drin. Ich denke, dass da auch die Nachhaltigkeit liegt.

Erste Überlegungen eines Kommunikationsmenschen 

1. Ask Me Anything
Gerade für Top-Executives kann es eine Umgebung sein (und ist es bisher, als es noch kuschelig war, auch gewesen), in der sie live und "intim", flüchtig, erzählen und Fragen beantworten können. Das haben wir von Leuten aus der Start-Up-Szene gesehen, von einigen wenigen Politiker:innen, das könnten wir auch für andere sehen.

2. Formatierung
Eines der wichtigsten Erfolgsrezepte von Radio ist die Formatierung. Dass ich also weiß, was mich wann erwartet: Von 18 Uhr bis 18.40 Uhr beispielsweise die abendliche Aktuell-Sendung, und dann von 18.40 Uhr bis 19.00 Uhr ein ausführlicher Hintergrund (im Beispiel Deutschlandfunk). Flüchtige Live-Medien werden Formate brauchen. Erste gibt es schon auf Clubhouse. Und hier sehe ich tatsächlich große Chancen. Sowohl für Profis als auch für Marken.

3. Talkradio
In Deutschland gibt es wenig bis kein echtes Talkradio. Anders als in vielen anderen Ländern. Clubhouse könnte diese Lücke schließen. Es könnte sich zu einem Talkradio entwickeln. Und damit wäre auch alles, was in Talkradios, vor allem live, denkbar ist, hier denkbar. Da lohnt es sich wahrscheinlich, kreativ zu werden. Muss ja nicht alles wie Domian sein.

Erste Erfahrungen
Was mir auffällt: anders als die meisten anderen Formen von Ephemeral Media muss zumindest ich mich auf die Gespräche in den Räumen von Clubhouse konzentrieren. Das geht nicht einfach so nebenbei oder aus dem Augenwinkel. Und während ich Twitter wunderbar neben Filmen, TV-Events oder Wahlberichterstattung nutzen kann und nutze, kann ich das mit diesem Talkradio nicht. Also ich zumindest kann das nicht. Ich muss mir also bewusst und echt Zeit nehmen, um eine Sendung auf Clubhouse zu hören oder an einer Diskussion teilzunehmen. Zumal es eben nicht asynchron ist, was ich beispielsweise an Twitter oder an Messengern sehr mag. Auch das spricht übrigens für Formate, denn dann kann ich mich darauf einstellen.

Kleiner Nebeneffekt – aber ich glaube, das ist super wichtig und kann einer der Treiber sein, dass Clubhouse (oder so was) bleibt – sind darüberhinaus die Zufallsbegegnungen. Menschen, die sich in Gespräche einklinken und die mich begeistern. Andere, die ich nicht kannte, lerne ich kennen, folge ihnen, sehe mehr von ihnen. 

Weil ich Radio so liebe, gebe ich Clubhouse eine Chance. Und habe ihm trotzdem nicht Zugriff auf mein Adressbuch gegeben. Es funktioniert dennoch, übrigens.

[Und auf LinkedIn habe ich noch einen englischen Artikel über Clubhouse geschrieben, etwas anderer Schwerpunkt, aber die Gedanken hier weiterführend.]

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