2.4.13

Disziplin

Kuddel heißt eigentlich Kurt, wie das so ist bei uns in Hamburg. Und wohnt seit mehr als sechzig Jahren im gleichen Block wie mein Opa. Ist allerdings zehn Jahre älter, wird also dieses Jahr noch 98. Meine Mutter und Kuddels Tochter sind zusammen zur Schule gegangen, sie ist jetzt in Amerika verheiratet und ja nun auch schon weit jenseits der 60, aber das ist eine andere Geschichte.

Kuddel ist seit etwas über 25 Jahren Witwer. Und hat eine eiserne Disziplin, wie das früher hieß. Jeden Tag geht er mit seinem Stock zum Einkaufen. Direkt um die Ecke zu Penny, etwas weiter zu Aldi - oder er steigt bei Penny in den Bus und fährt die eine Station zu Rewe. Und dann kocht er auch noch jeden Tag.

Seine Tasche für's Krankenhaus hat Kuddel immer im Flur stehen, denn er geht oft ins Krankenhaus, also lässt sich oft dahin fahren. Sozusagen das Gegenteil meines Opas, der nicht mal zu seiner Ärztin geht.

Mein Opa duzt Kuddel und redet mit ihm, wenn sie sich auf der Straße treffen, was sie oft tun, denn mein Opa muss jeden Tag ein-, zweimal raus, möglichst einmal mit dem Rad. Solange das noch geht. Sie duzen sich, weil es so ist bei Arbeitern in der Generation, zumal mein Opa zwar bald ins kleinbürgerliche Milieu aufstieg als technischer Zeichner - aber nie auf Kuddel herabblickte, der als Maler bei der Genossenschaft arbeitete, in deren Wohnungen sie beide seit ihrem Wiederaufbau und bis heute wohnen. Ob meine Großmutter Kuddel kennt, weiß ich nicht übrigens. Seine Frau kannte sie sicher, damals, in der ersten Hälfte der Fünfziger, als die Mädchen zusammen zur Grundschule gingen, bevor sie auf verschiedene Schulen verteilt wurden.

Aber obwohl es kaum jemanden gibt, mit dem mein Opa mehr geredet hat außerhalb der Arbeit in den letzten gut sechzig Jahren, würde er Kuddel nie als Freund bezeichnen. Andersrum auch nicht. Denn beide sind introvertiert. Mein Opa bewundert Kuddels Disziplin und lacht über seinen Glauben an Ärztinnen und Krankenhäuser. Und das war es.

Denn nach der Arbeit sind meine Großeltern immer erstmal eine Stunde im Wandsbeker Gehölz spazieren gegangen. Und später, als sie dann ein Auto zusammengespart hatten, in den Rausdorfer und dann in den Trittauer Forst gefahren, mindestens dreimal in der Woche.

Ich fand meinen Opa früher immer sowohl schräg als auch faszinierend. Und konnte lange nicht fassen, was es ist. Und was es auch mit mir ist, dass ich nicht eigentlich schüchtern bin (sondern auch mal laut und meinungsstark und dickköpfig, alles Dinge, die ich von ihm habe), aber eben Distanz halte zu vielen Menschen.

Als die wunderbare Kaltmamsell die Introvertierten entdeckte, wurde mir einiges klar. Auch, warum mein Opa damals von einem auf den anderen Tag aufhören konnte mit arbeiten, ohne es zu vermissen oder sich ein Hobby zu suchen. Er liest nicht mal gern (außer den Spiegel). Und hat sich auch noch nie mit Kuddel getroffen.

2 Kommentare:

  1. Sehr interessant. Beides, der Text und der Film.

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  2. Es ist seltsam, wie man doch tastächlich über Generationen hinweg doch immer noch beeinflusst von den Genen seiner Vorfahren ist. Meine Grossmutter war auch unglaublich dickköpfig und ehrgeizig, was ich als Kind nie verstanden habe, wovon ich heute aber weiss, woher es bei mir kommt. Sie wäre im Leben nicht ungeschminkt aus dem Haus gegangen, geschweige denn hätte sie einen Rollator oder ähnliches benutzt, was ich gerade bei meiner eigenen Mutter durchzusetzen versuche (es gibt leider kaum Alternativen) und ich auch dort immer wieder Charakterzüge entdecke, die sich bei mir wiederholen. Das ist erschreckend und beruhigend zugleich, man kann nicht aus seiner Haut und ist fremdbestimmt...
    lg Ulla

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