Folge zwei der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Diesmal zu dem Thema, bei dem mich am meisten überrascht hat, dass es so kritisches Echo fand - und in diesem Fall noch nicht mal vor allem wegen schwach ausgeprägter Fähigkeiten zum sinnentnehmenden Lesen, sondern wohl, weil es einige wirklich anders sehen. Der erste Teil ging um den privacy divide.
Mein Eindruck ist, dass das Missverständnis, Zielgruppen seien tot oder out oder was auch immer und wahlweise allein der einzelne Mensch oder jedwede Gruppe, die sich einmischt, stehe mit seinen oder ihren individuellen Anliegen im Fokus jeder Kommunikation, dass dieses Missverständnis vor allem aus einer späten und falschen Rezeption des so genannten Cluetrain Manifesto entstanden ist - und aus dem Überschwang und der Begeisterung für Blogs, Twitter und Co. Tragisch ist das vor allem deshalb, weil es nie die Intention des Cluetrain Manifesto war, Zielgruppen abzuschaffen. Und als wir damals, im März 2000, als die brand eins das Manifest nach Deutschland brachte, anfingen, in Mailinglisten (ach, die legendären Zeiten der brandeins-Mailingliste selig, wisst ihr noch, die ihr dabei gewesen seid damals?) und Think Tanks über Kommunikation nachzudenken und sie entlang der Grundideen von Cluetrain neu zu justieren, stand für uns in der ersten Generation der (nennen wir sie mal) Neuen Kommunikation immer fest, dass Zielgruppen das A und O bleiben, dass wir nur anders und neu darüber reden müssen, sie neu fassen und präziser definieren.
Jede Kommunikation, die über den individuellen Kundendialog hinausgeht, muss sich entlang einiger Parameter ausrichten, wenn sie strategisch ist und Rechenschaft über die Verwendung von Ressourcen (Personal und Geld vor allem) ablegen will. Diese Parameter sind sehr verschieden - aber in der Regel finden sich, in unterschiedlicher Formulierung - doch zwei Aspekte immer darin wieder: Eine Orientierung an Zielen (oder auf Ziele hin). Und eine Abgrenzung, mit wem kommuniziert wird und mit wem nicht. Dabei bleibe ich zunächst bei dem sperrigen Wort “kommuniziert”, weil es alles meinen kann (aber nicht muss) - vom Zuhören über das Senden bis hin zu Antwort oder gar Dialog.
Das Interessante ist ja, dass es fast egal ist, wo ich meinen kommunikativen Schwerpunkt setze. Ob beim Zuhören (wie ich es beispielsweise als wichtigste Konsequenz aus Cluetrain sehe, denn die wichtigste strategische Fähigkeit in der Kommunikation - die Antizipation - lässt sich nur über das intensive Zuhören einsetzen, siehe meinen inzwischen fast schon antiken Ansatz in meinem kleinen Büchlein über das Verkaufen und den Verkäufer), beim Senden (was immer ein wichtiger Bestandteil von Werbung sein wird) oder beim Dialog. Immer hilft mir eine Verständigung über die Zielgruppe einer Maßnahme, sie so zu gestalten, dass sie handhabbar bleibt und ein Mindestmaß an Effizienz hat. Ich muss nicht jeder zuhören, nicht jede erreichen und nicht auf jede antworten - aber für die Entscheidung, wem ich zuhöre, an wen ich sende und wem ich antworte, ist es notwendig, sich mit dem Team, der Kundin oder der Geschäftsführung zu verständigen, welche Ziele und Zielgruppen wir im Sinn haben.
Und weil ich Kommunikation noch nie für einen Selbstzweck gehalten habe sondern (vielleicht meinem eigenen Schwerpunkt Strategie geschuldet) für eine Funktion zur Erreichung des Unternehmensziels, ist die Bestimmung der Zielgruppen aus meiner Sicht Basis jeder professionellen Kommunikation. Dass viele von uns in den Kommunikationsberufen in den letzten ein, zwei Jahren die Zielgruppen etwas aus den Augen verloren haben und dass einige Kolleginnen in diesen Berufen sie sogar heute noch für überwunden halten oder ihre zentrale Bedeutung leugnen, ist ein Alarmsignal. Meiner Erfahrung nach erkennt man Profis in unseren Berufen daran, dass sie sich vor Maßnahmen die Rahmenbedingungen ansehen - zu denen die Zielgruppenbestimmung gehört - und auch während einer Maßnahme immer wieder überprüfen, ob die Rahmenbedingungen sich geändert haben oder ändern, wir also auch unsere Maßnahmen anpassen müssen.
In den letzten Jahren haben ich selbst nicht oft von Zielgruppen gesprochen, weil ich es zum einen selbstverständlich fand, dass sie im Mittelpunkt stehen - und weil es zum anderen eine Zeit lang sinnvoll schien, sich von den eher unbeholfenen Versuchen abzugrenzen, die klassischen Zielgruppendefinitionen in die komplexere Mediengesellschaft (also, ich wiederhole mich, eine Gesellschaft, in der medial vermittelte Inhalte für die meisten Menschen sowohl produzierend als auch konsumierend zugänglich sind) ohne große Veränderungen hinüberzuretten.
Heute spreche ich wieder offensiver von Zielgruppen, weil ich erlebe, dass sie allzu sehr aus den Augen verloren werden - beispielsweise bei vielen Programmen auf Facebook, beispielsweise, wenn Werbung vor allem unreflektiert in TV denkt, beispielsweise, wenn PR-Erfolg in Clippings gemessen wird.
Und noch ein weiterer Grund spricht dafür, Zielgruppen wieder selbstbewusst in de Fokus zu nehmen: Das Filterproblem. In aller Kürze ist es das Problem, das vielen Menschen in meinem Alter und darüber begegnet, die überfordert von der Fülle an zugänglichen Informationen sind (nenne ich auch gerne “Schirrmacher-Syndrom”), weil ihre erlernten Filter nicht mehr taugen, sie aber noch keine neuen gefunden haben.
Was für uns als normale Medienutzerinnen gilt, gilt auch für uns als professionelle Kommunikatoren: Ich kann und werde auswählen, filtern müssen. Beispielsweise ist nicht jeder Aufschrei von radikalen Tierschützerinnen wie Peta oder anderen für mich relevant, egal wie laut er ist. Wenn ich meine Zielgruppen kenne, werde ich besser filtern können. Was übrigens keine bloße Theorie ist, sondern nicht nur von mir täglich erprobt wird.
Achja, die guten alten Zeiten - Auch wenn es lange her, ist mir die Mailingliste immer noch nahe und eigentlich kommt es mir dann doch nicht so arg lange vor.
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