25.4.12

Wenn so genannte Journalisten Angstkampagnen fahren

Wie mache ich aus einer Null-Information einen reißerischen Angstartikel? Indem ich Formulierungen nutze, die Leserinnen interpretatorisch in die Irre führen. Aktuelles Beispiel von heute:
Jedes dritte europäische Kind geht leichtfertig mit seinen persönlichen Daten um und veröffentlicht den Namen der eigenen Schule im Internet, jedes achte Kind sogar die private Adresse oder Telefonnummer. Sascha Steuer auf "digital-lernen.de"
Das heißt: 2/3 der Kinder (!) passen gut auf ihre Daten auf. Herr Steuer überschreibt den Artikel dann aber sogar:
Kinder veröffentlichen ihre Adressdaten im Internet  ebenda
Und das, obwohl 87,5% aller Kinder in Europa laut seinem eigenen Text genau dieses nicht tun. Weil nämlich "jedes achte Kind" 12,5% entspricht. Und so viele oder so wenige tun das.

Diese Art von angstförderndem Kampagnenjournalismus kennen wir. So wie neulich, als in einer Bitkom-Studie, aus der Feststellung, dass 80% der Jugendlichen bewusst mit ihren Daten in Sozialen Netzwerken umgehen, gemacht wurde, dass jedes fünfte Kind seine Daten nicht schützt (pdf, 4.8MB). Was suggeriert, das sei schlimm. Während mich das Ergebnis positiv überrascht hat (auch wenn es immer und immer und immer besser sein kann).

Das eigentliche Problem an Steuers Artikel aber (und ja, für mich als PRler ist es ein bisschen dies Ding mit dem Glashaus, was jetzt kommt) ist, dass nicht erkennbar ist, auf welche Studie er sich bezieht. Es klingt, als sei es eine neue, eine aktuelle Studie. Stutzig wurde ich, als einen Absatz später aber dieser Satz fiel:
Deutschland unterscheidet sich von den meisten europäischen Ländern durch eine starke Nutzung des Sozialen Netzwerks SchülerVZ ebenda
Äh, ja. OK, soooo aktuell kann die Studie nicht sein, oder zumindest nicht der Erhebungszeitpunkt der Daten dieser Studie.

Glücklicherweise verlinkt Sascha Steuer aber im Seitenbereich seines Artikels eine Studie unter "weiterführende Links". Keine Erklärung, ob das die Studie sei, auf die er sich bezieht.
Falls es also nur ein erratisch gesetzter Link ohne Zusammenhang sein sollte (ich mag bei diesem Artikel so etwas nicht ausschließen), sei vorsorglich darauf hingewiesen, dass der folgende Absatz nicht gelten würde.

Die verlinkte Studie ist allerdings von - 2010. In Worten: aus dem Jahre Zweitausendzehn nach Christi Geburt. Die Daten wurden zwischen April und Oktober 2010 erhoben. Und damit sind sie, selbst wenn die Studie erst 2011 veröffentlicht wurde (was in diesem Internetz ja auch eine kleine Ewigkeit her ist, was den Neuigkeitswert und die Veränderungen angeht), knapp zwei Jahre alt. Mir persönlich drängt sich die Frage auf, ob der Autor sich die Website der Studie angesehen hat, bevor er seine Überschrift schrieb. Oder seinen Artikel. Ob er in den letzten zwei Jahren sich auch nur einmal mit Social Networks beschäftigt hat - denn sonst wäre ihm spätestens beim Satz über SchülerVZ aufgefallen, dass da irgendwas nicht stimmt mit diesem Artikel.

Wenn dann Menschen, die sich mit Medien und Medienpädagogik beschäftigen, auf diesen Artikel stoßen, werden sie die Fehler und die Misstöne auch schnell erkennen. Aber wie viele Menschen werden zunächst nur die Überschrift sehen (auf Twitter, Facebook oder sonstwo)? Wie viele Medien werden daraus eine noch weiter verkürzende Meldung machen für ihre Ausgabe morgen? Was wird also ankommen bei den Menschen draußen im Lande?

Fazit: Aus einer (ur-)alten Studie macht ein Autor mithilfe einer sinnentstellenden Überschrift einen reißerischen Artikel, der ein Problem suggeriert, das so nicht besteht - und damit den Blick verstellt auf die Probleme in dem Bereich, die wir haben.

Ich meine: was dieser Autor hier gemacht hat, ist unverantwortlich und eine Angstkampagne. Hoffentlich wenigstens von seiner Überzeugung getrieben und nicht einfach nur aus Nachlässigkeit passiert.

Update 26.4.
Herr Steuer, der auch der Chefredakteur der Seite ist, hat sich per Mail bei mir gemeldet und hat in seinen Artikel eingefügt, die Studie sei aktuell veröffentlicht worden und stellt es damit sogar noch mehr so dar, als sei es eine neue Studie. Das stimmt allerdings leider nicht. Möglicherweise ist am 23.4. ein Newsletter erschienen, der diese Studie zum Thema hatte. Aber sogar in den neuen Links neben dem Artikel (den alten Link auf die Primärquelle ersetzt Steuer aus einem mir nicht ersichtlichen Grund durch Links auf pdf-Zusammenfassungen der Studie in deutsch und englisch) wird darauf hingewiesen, dass die Studie bereits im November 2011 veröffentlicht wurde und die Daten aus dem Jahr 2010 stammen. Hier ergänzt Steuer also sogar noch eine (vielleicht sogar bewusste) Irreführung seiner Leserinnen. In der Mail bestätigt er übrigens, dass es nicht Nachlässigkeit sondern eine bewusste Entscheidung war, die Angstkarte zu spielen. Er weist darauf hin, dass er diese Frage "dezidiert anders" sehe als ich.

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