20.2.12

Lasst euch nicht vergauckeln

Als er noch chancenloser Zählkandidat der Opposition war, fanden ihn viele toll. Und nun trollen sie rum, teilweise die gleichen. Meine "Timeline" bei Facebook und Twitter brachte im Grunde diese Dinge vor:
1. Gauck sei ein Faschist, weil er gegen die Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze sei.
2. Gauck sei ein rechtskonservativer 50er-Jahre-Typ, weil er erst einmal einen Döner gegessen habe und mit Mulitkulti nicht anfangen könne.
3. Gauck finde Sarrazin gut.
4. Gauck sei von einer Verschwörung aus Springer, Scholz & Friends und Bertelsmann erst gemacht worden.
5. Gauck sei ein Knecht des Großkapitals, weil er Occupy albern finde.

Was mich daran am meisten erschreckt (und ich wähle das Wort, obwohl ich zu geschätzt 60% nicht mit seinen Positionen übereinstimme, die er an der einen oder anderen Stelle formuliert hat), ist die reflexhafte Dummerhaftigkeit und mangelnde Medienkompetenz in diesem Getrolle. Ist es wirklich so, dass unter Leuten, denen ich online gerne folge, weil sie - dachte ich - ähnlich sind wie ich, so viele sind, denen alles jenseits von schwarz und weiß undenkbar ist? Die abgestumpft oder unsensibel genug sind, Zwischentöne und Zerrissenheiten nicht mehr zu sehen? Die nicht erkennen können, dass es einen Unterschied gibt, ob ich Fragen verstehe oder die Antworten darauf teile?

Vielleicht fällt es mir leichter, zu verstehen, was Gauck meint und sagt, weil ich aus einem ähnlichen geistlichen und geistigen Kontext stamme wie er, auch wenn ich aus den gleichen Wurzeln teilweise andere Triebe sprossen ließ. Aber tatsächlich scheint es mir kein Zufall zu sein, dass unter den Gauck-Trollen in meinem politischen und Onlinefreundinnenkreis so viele ideologische Religionsverächterinnen sind. Denn in evangelischen Kontexten, vor allem in deren konservativer Prägung, zu denen ich ja auch gehöre, ist einer der letzten Horte differenzierter Betrachtungen zu Hause. Was an Luthers allzu selten verstandener größten theologischen Leistung liegt: dem pecca fortiter fortius crede, der Unterscheidung der Entschuldung des Sünders von der Entschuldigung der Sünde.

Nach vier desaströsen Präsidenten kann Gauck einer werden, der Impulse und Haltung gibt. Muss nicht, aber kann. Und einiges vom dem, was einige Weggefährtinnen als allzu konservativ fürchten, schreckt mich nicht. Denn aus einer konservativen Haltung eines Gauck muss keine konservative Politik werden. Siehe (historisch) Erhard Eppler. Und eine konservative Politik geht auch ohne konservative Haltung. Siehe (aktuell) Angela Merkel.

Ich teile viele Kritik an Gauck. Aber das, was ich gestern von so manchen Onlinestars gehört habe, war ein erschreckendes Zeugnis mangelnder Medienkompetenz.

Update um die Mittagszeit
/Update

P.S. Ich habe lange hin und her überlegt und schiebe jetzt doch noch einen Hinweis zum Kommentieren nach: an diesem Post werde ich alle anonymen Kommentare löschen. Und ich bitte euch, mich nicht für dümmer zu halten als euch selbst. Ok?

5 Kommentare:

  1. Ich glaube nichtmal, dass die Gründe für dieses selbstgerechte Beifallheischen in mangelnder Medienkompetenz zu suchen sind, dafür halte ich diese Lautsprecher eigentlich für zu intelligent. Ich empfinde das als Aufmerksamkeitssucht, die Satzfragmente mit Argumenten verwechselt und für den schnellen Retweetruhm das eigene Denken abschaltet. Kann jedem mal passieren, aber gestern abend war das kalkuliert. Und weil es ohnehin nichts bewirkt außer dem Beifall der Online-Claquere, versendet es sich auch so schön. Jämmerlich.

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  2. für Wolfgang und Tapio +1

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  3. Es gibt viele Lautsprecher der Szene, die recht schematisch ihre Followerzahlen erhöhen, indem sie zu allem, was gerade trendig ist, ihren Senf dazu geben. Politische Bildung oder wenigstens gesunden politischen Menschenverstand haben nur wenige von denen. Von Montat zu Monat sinkt mein Respekt vor diesen Followersammlern.

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  4. Wolfgang, recht hast Du (Tapio und Jürgen übrigens auch). Habe das gestern so getwittert: "Wow, wie schnell mancher Netizen auf Stammtischniveau runterkommt. Mit Rückgrat ginge das garnicht."

    Da ist mir mit sowas von Patrick (und vor allem Julia dahinter) weitaus mehr geholfen: https://plus.google.com/u/0/101509481216311946430/posts/iKKMLFhRg9K

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  5. Angesichts der Troll-Posts fällt mir nur ein alter Spruch meiner Oma ein: Jeder blamiert sich so gut er kann. Unreflektieres Getrolle fällt doch nur auf die zurück, die es verbreiten. Man kann zu allem und jedem eine Meinung haben, kann sie auch sagen, ohne sie begründen zu müssen. Aber bitte mit Stil und Würde und so, dass niemand beschädigt wird. Deshalb danke für diesen Blogpost, das musste mal gesagt werden.

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