11.5.12

Vom naturalistischen Fehlschluss. Oder: Warum die Piraten eine gefährliche totalitäre Partei sind

Für jede, die sich mit Denken, Philosophie, Ethik oder Politik beschäftigt, kommt irgendwann der Schritt aus einer (nenne ich mal so, erkläre ich gleich) pubertären Phase in eine erwachsene. Spannend ist zu sehen, dass sehr viele einzelne Menschen dabei den Schritt nachvollziehen, den auch die europäische Denktradition in der Moderne vollzogen hat: von einer totalitären, simplifizierenden, positivistischen Erklärungsweise der Welt hin zu einer, die anerkennt, dass es (subjektive) ethische Prämissen gibt.

Typisches Kennzeichen vormodernen und totalitären Denkens (nicht zu verwechseln bitte im ersten Schritt mit totalitärer Politik) ist dabei der so genannte "naturalistische Fehlschluss"*. Dies meint: Ich beobachte etwas, beschreibe dieses "Sein" - und schließe daraus (das ist der Fehlschluss), dass es (deshalb) auch so sein soll. Oder postuliere, dass etwas sein soll (also: gut ist), weil es ist.

Dieses Denken ist pubertär oder sogar vorpubertär, weil mit Abschluss der Pubertät in der Regel die Fähigkeit zu transzendentem Denken einsetzt, also die Fähigkeit, vom aktuellen "Sein" abzusehen, wenn es darum geht, gut und böse zu bestimmen. Erst die im Zuge der Pubertät in der Regel einsetzende Auflehnung gegen die Realität/das "Sein", philosophisch gesprochen, ermöglicht ja die Erkenntnis, dass dieses "Sein" in gewisser Weise kontingent ist, also vor allem geändert werden kann - oder zumindest, dass ein anderer Zustand des "Seins" gedacht werden kann.

Naturalistische Fehlschlüsse sind vor allem deshalb totalitär, weil sie Objektivität postulieren, wo es keine Objektivität gibt. Sie leugnen ethische Prämissen, indem sie ihre Sollens-Behauptungen aus der Beobachtung der vorhandenen Realität ableiten. Ein Denken, das aber dieses tut, nennt man - so ist es quasi definiert - totalitär.

Die moderne Spielart totalitären Denkens ist der Technikpositivismus, wie er bis heute teilweise in trivialwissenschaftlichen Zusammenhängen vorkommt (also bereits da, wo Menschen "Naturgesetz" sagen und annehmen, dass damit objektive, ewige Gesetzmäßigkeiten gemeint seien, obwohl es weitgehend unumstritten ist, dass das Wort "Naturgesetz" eigentlich falsch und irreführend ist). Alles, was geht, ist gut? Eigentlich eine Position, die wir in Europa seit den 1970er Jahren für überwunden hielten. Das hat zwar teilweise zu so konservativen bis reaktionären Philosophien wie der von Hans Jonas geführt, aber der reine Positivismus (und mit ihm glücklicherweise der Utilitarimus) war weitgehend tot unter denkenden Menschen auf diesem Kontinent.

Was mich erschreckt, ist, wie er sich nun unter Menschen, die ich für denkende Menschen hielt, wieder Bahn bricht. Und selbst wenn ich Christoph Lauer für nicht immer in dieser Kategorie richtig angesiedelt hielte, kommt es mir so vor, als ob es symptomatisch für die totalitäre, technikpositivistische und vor allem von naturalistischen Fehlschlüssen irregeleitete Piratenpartei steht, wenn er im Spiegelinterview von den Gesetzen des Internet faselt, die "wie Naturgesetze stehen". Und aus denen seine Partei viele Forderungen ableite.

Der eine oder die andere mag das für pubertäres Gequatsche halten, was es vielleicht sogar sein mag. Aber es offenbart eben eine totalitäre Haltung, die auch aus anderen Äußerungen atmet: Eine im Denken digital geprägte Gruppe von Menschen nimmt an, dass sich das, was sein soll, objektiv feststellen lässt. Weshalb es auch logisch ist, dass die Führungsleute es ernst meinen und nicht etwa lächerlich finden, wenn sie zu Fragen, zu denen das digitale Denksystem (also das in Nullen und Einsen sortierte Denken) noch keine letztgültige Position hochgespült hat, nichts sagen können. Wo es nur richtig und falsch gibt, kann es zwar individuelle Meinungen geben, aber die Partei kann nur die objektiv richtige Position vertreten.

Das aber ist zutiefst totalitär. Und naiv. Und - das meine ich so, wie ich es sage, auch wenn ich intelligente und denkende Piratinnen kenne - gefährlich.

Es ist noch nie möglich gewesen, aus dem, was ist, abzuleiten, was sein soll. Außer du bist die katholische Kirche. Oder Lukatschenko. Oder die Piratenpartei.


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* Ob der Sein-Sollen-Fehlschluss als naturalistischer Fehlschluss oder als Humes Gesetz bezeichnet werden soll, ist umstritten, ebenso, ob das zwei verschiedene Dinge sind. In der Denktradition liberaler evangelischer Theologie, in der ich groß geworden bin (Stichworte: Rawls, Niebuhr, Tillich) wird dieser Begriff so verwendet, wie ich es hier tue. Und ich mag ihn sehr.

4 Kommentare:

  1. Anonym11.5.12

    Haha, großartig, Wolfgang! Ich verstehe zwar nur die Hälfte, aber Du hast bestimmt recht. Ne, im Ernst, das Postulat, dass alle in Zukunft so leben werden wie die "digitale Avantgarde" nervt mich schon lange: So entwickelt sich das, kannste nix machen, jaja. Deutlich finde ich das z.B. in der Forderung des extrem frühen Umgangs mit Computern. Als ob ein Kind, das zufällig auf dem iPad herumstreichen kann, das dann auch unbedingt so für eine gute Entwicklung *braucht*. Und als ob jemand, der gut mit Twitter umgehen kann, "weiter" oder "besser" wäre als andere, die das nicht können oder gar nicht wollen.

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  2. Ist alles gut, was geht? Mitnichten.

    Mehr als der derzeitige Erfolg der Piraten beunruhigen mich hingegen ganz andere Entwicklungen, wenn ich an einen möglichen digitalen Totalitarismus denke. Das will ich kurz skizzieren, ohne so tief in die Philosophie-Kiste zu greifen.

    Beispielsweise das nahezu perfekte Beispiel, dass Schweden, das als erstes Land in Europa das Bargeld eingeführt hat, es auch als erstes Land auf der Welt wieder abschaffen wird.

    Stell dir das mal vor, Wolfgang, du hättest kein Bargeld mehr. Du könntest mir nicht mal mehr einen „Zwanni“ leihen oder ich dir deine alte Wohnzimmercouch abkaufen, ohne das dies registriert würde. Mehr Kontrolle geht kaum in einer Welt, in der alles monetarisiert wird. Welcome to the brave new world.

    Wer würde bei uns einer solchen Entwicklung entgegenstehen? Die CDU, oder gar der CSU-Innenminister, von dem ich gar nicht wissen will, was angesichts der Möglichkeiten in seinem Kopf vorgeht? Die SPD? Die Grünen? Allein Frau Leutheuser-Schnarrenberger verdient meinen Respekt, auch wenn ich wahrlich kein FDP-Sympathisant bin. Alle anderen: Verpennt, hängen geblieben in den 90ern.

    Die Piraten haben in dem Thema Digitalisierung ihr Thema gefunden, wie die Grünen es einst im Thema Umweltschutz gefunden hatten. Und sortieren sich mehr schlecht als recht – wie sollte es anders sein.

    Die Menschen wissen zwar nicht genau was ihnen bevor steht, aber sie wissen, dass der momentane Technikpositivismus nicht Gutes für sie bedeuten muss. Und die Piraten sind die einzigen, die offen diese Befürchtungen ernst nehmen, indem sie auf ihrer Website klar formulieren: „Die überwachte Gesellschaft entsteht momentan allein dadurch, dass sie technisch möglich geworden ist und den Interessen von Wirtschaft und Staat gleichermaßen dient. Die Piratenpartei sagt dieser Überwachung entschieden den Kampf an.“ Was am Ende daraus wird? Wer weiß das schon. Aber immerhin ein Ansatz, der die Entwicklungen kritisch sieht und Erfolg hat, weil andernorts Unentschlossenheit regiert.

    Ich bin mir vor diesem Hintergrund nicht sicher, ob gerade die Piraten, wie du schreibst, einem möglichen digitalen Totalitarismus mehr Vorschub leisten als das etablierte politische Personal, das in Unwissenheit wirtschaftlichen Interessen diesbezüglich Tür und Tor öffnen würde. Die Piraten sind derzeit die einzige politische Kraft, die eine kritische Auseinadersetzung mit den Entwicklungen der digitalen Welt in die Köpfe der auch nicht so internet-affinen Bürger vorantreiben. Und allein deswegen sind sie wichtig.

    Ich fürchte deswegen, dass jemand, der die Piraten in eine totalitäre Ecke stellt, selbst wenn dir philosophische Herleitung formal richtig sein mag, nicht eben totalitären Tendenzen eher Vorschub leistet, als sie zu verhindern.

    Zum Schluss noch etwa formales meinerseits: Nein, ich bin weder verschwägert, verwandt oder engagiert bei der Piraten-Partei und ihren Protagonisten und kein unbedingter Sympathisant. Aber ich schaue mit großem Interesse auf die Entwicklungen und halte sie für zu wichtig, als sie mit intellektuell-philosophischem Handstreich vom Tisch zu wischen. Das halte ich nicht nur für falsch.

    Und das musste ich mal loswerden, wenn schon der Social-Media-Experte von Achtung-Kommunikation die Piraten als gefährlich darstellt. Wobei ich mich tatsächlich frage, in welcher Intention er das tut, wenn nicht allein aus philosophischer Formalität allein.

    Ich freue mich auf rege Diskussionen.

    Peer Brockhöfer

    PS: witzig, dass man bei gerade dir der digitalen boheme mit blog Social-Media-Profil angehören muss, um ernst genommen zu werden. Soviel zum Totalitarismus ...

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  3. Hallo Peer, zunächst: hier kann jede bewusst auch anonym kommentieren, aber eine Verknüpfung mit einem Profil (oder einer Mail) hilft mir, diejenigen zu erkennen, die an einer Diskussion interessiert sind und nicht trollen (wollen).
    Ansonsten stimme ich dir zu geschätzten 80-90% zu (außer bei der Einschätzung von LS, die bisher noch immer umgefallen und auch schon mal zurück getreten ist).
    In einer langen Reihe von Artikeln über die Piraten (siehe das entsprechende Stichwort hier im Blog) ist dies der erste kritische. Und tatsächlich macht mir die Mischung aus denkerischer und ethischer Naivität in Kombination mit der (imho falschen) Vorstellung, dass es objektiv richtige Antworten gebe, die nur gefunden werden müssen (das ist der Vorwurf des "digitalen Denkens", also des Denkens in Nullen und Einsen), und der Idee, dass sich diese rausmendeln im LQFB, Sorgen. Und sind mehr als alles andere der Grund, warum sie für mich nicht in Frage kommen.

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  4. Anonym2.2.13

    Hm. Ausgerechnet solche Vorwürfe kommen von einem Mitglied einer Partei, die sich vor allem durch ihre paternalistische Verbotspolitik auszeichnet. (Oft nach dem Motto: "Die Partei hat immer recht und das Kollektiv hat sich zu fügen".)

    Eine Partei, die unter ihren "Fundis" völlig unbewegliche Betonköpfe sitzen hat - genau den Typ Mensch also, den die 68er Bewegung eben nicht in Parteien und Regierung haben wollte.

    Sorry, aber wer so auf die Piraten schimpft und ihnen "totalitäre" Tendenzen zuschreibt, sollte erst mal die schwer totalitären Tendenzen in seiner eigenen Partei erkennen und bekämpfen.

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