22.8.11

Liebe Yakamoz Karakurt,

du (in der 9. Klasse darf ich noch du sagen, oder? Ich bin da etwas altmodisch und Sieze ältere Schülerinnen gerne) hast in der "Zeit" 34/2011 einen Beitrag ("Mein Kopf ist voll") geschrieben, wie sehr es dich belastet, wie deine Schule organisiert ist. Leider ist der nicht online, so dass ich hoffe, dass ich deinen Namen richtig geschrieben habe. Denn ich habe deinen Artikel nur gehört, im Audiomagazin der "Zeit". Update 23.8.2011 Inzwischen ist dein Artikel hier online. Und diese Antwort wird ist auch bei Zeitonline erscheinen, wie es aussieht... /Update

Warum schreibe ich dir? Weil ich glaube, ziemlich genau zu wissen, was du meinst. Denn ich habe einen Sohn in der 10. Klasse eines Hamburger Gymnasiums und einen in der 9. Klasse einer Stadtteilschule - und bei meinem dritten Sohn steht dieses Schuljahr die Entscheidung an, wo er auf die weiterführende Schule soll oder will.

Und ja, ich kann dich verstehen. Ich kenne Jugendliche wie dich. Nicht allen geht es so, mein Sohn hat das Glück, dass er Sport und Freunde und Hobbys und Job parallel hinbekommt und trotzdem gute Noten schreibt - aber ich weiß, was du meinst. Und ich finde, dass du Recht hast: So geht es nicht.

Nur verstehe ich nicht, warum du die Antwort, die dir die Schulbehörde gab (sinngemäß: "Es gibt ja auch noch die Stadtteilschule"), so brüsk abtust. Weißt du, mein Zweiter, der war auch erst auf dem Gymnasium. Ich gebe zu, das lag vor allem daran, dass wir (also wir Eltern) nicht nachgedacht hatten. Aber darum haben wir dann irgendwann die Notbremse gezogen - und ihm ermöglicht, das Tempo etwas rauszunehmen und trotzdem das Abitur anzustreben. Heute ist er so gut in der Schule wie noch nie, weiß, was er schaffen und werden will - und hat Spaß an der Schule.

Wenn ich mal ganz offen bin: Die, auf die du wirklich böse sein solltest, sind deine Eltern. Denn die haben dich auf einem Gynmasium angemeldet, obwohl auch jede andere Schule (oder damals: jede Gesamtschule) zum Abitur führt, das überall gleich viel Wert ist, weil es ein Zentralabitur ist. Ich weiß nicht, ob das auf deine Eltern zutrifft, aber ich sehe viele, viele Eltern bei uns in der Umgebung, die aus falschem Ehrgeiz oder Unwissenheit ihre Kinder in das Schnellabitur zwingen. Euch, die ihr die Leidtragenden seid, bedauere ich sehr. Und zwar wirklich. Geht auf die Barrikaden: Gegen falsche Bildungspolitik, vor allem aber gegen eure Eltern, die euch auf die falsche Schule geschickt haben. Wechsele jetzt die Schule, jetzt geht es noch!

Denn aus der Erfahrung mit einer Stadtteilschule (woanders heißen die Gesamtschule oder Gemeinschaftsschule) weiß ich: Vieles von dem, was du möchtest, wie du dir Unterricht und Wissen vorstellst, was du da in deinem Artikel für die "Zeit" aufschreibst, findest du an einer Stadtteilschule. Einige von denen sind Ganztagesschulen ohne häusliche Hausaufgaben, einige, beispielsweise die, auf die mein Sohn geht, die Stadtteilschule Walddörfer in Volksdorf, sind Halbtagsschulen.

Ich hoffe für dich, dass du einen Weg findest zu leben neben der Schule. Und eine gute Schule findest. Und wenn du mal genau hinsiehst, wirst du merken, dass mehr und mehr gute ehemalige Gymnasiastinnen auf die Stadtteilschulen wechseln. Meine Erfahrung die letzten Jahre - und als Elternrat am Gymnasium bekomme ich ja eine Menge mit - ist diese: Wer am Ende von Klasse 4 in allen "Lernfächern" (also Deutsch, Englisch, Mathe, Natur) mindestens eine 2 hat, in zweien davon auch eine 1. Also in allen, nicht im Schnitt. Der oder die wird ohne massives Lernen durchs Gymnasium kommen, wenn sie oder er nicht in der Pubertät mal den Anschluss verliert.

Wer aber auch nur in einem dieser Fächer schlechter als eine glatte 2 ist und nicht in zweien eine 1 hat, wird nicht mehr wirklich leben können, wenn die Gymnasien in Klasse 6 und 8 das Tempo anziehen. Das sind Kinder, die gut Abitur machen können. Auf der Stadtteilschule. Die ohnehin für eigentlich fast alle Kinder viel besser ist, auch weil sie ein besseres Konzept, Unterrichtskonzept und Lebenskonzept hat, mehr Praktika, interessantere Fächer und so weiter.

Liebe Yakamoz, ich hoffe, dass du die Kurve kriegst. Und wünsche dir ein schönes Schuljahr. Frag mal bei der Stadtteilschule in der deiner Nähe an, vielleicht nehmen die dich ja nach den Herbstferien. Die sind ja bald...

Herzliche Grüße
dein Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach

3 Kommentare:

  1. Ich bin der Vater von Yakamoz. Ich habe einige Einwände gegen Ihre Argumente und "Empfehlungen" in Ihrem Kommentar.
    Erstens, fürchte ich, Sie haben den Sinn von Yakamozs Artikel nicht richtig verstanden. Dies überrascht mich, einerseits, nicht. Ich sage, wenn "der Geist von Neoliberalismus" überall ist, dann kann dies auch nicht unter den Eltern fehlen, wie lieb dies auch sein mögen. Wie ich merke, Sie argumentieren auch aus dieser neo-liberalen Perspektive.
    Wenn man die Schule nur als einen reinen Wettbewerb betrachtet, dann bleibt natürlich nichts übrig zu sagen, wer nicht in 1. Liga mithalten kann, der soll in die 2. Liga. 1. liga ist nur für die Besten aller Besten. Wir Eltern, die die Kinder in Gymnasium schicken, sind dann der Sündenbock (Schulsystem hat damit nichts zu tun!), weil wir unsere, nicht Beste aller Besten Kinder in 1. Liga schicken. Logisch ist dann natürlich der Rat: "erhebe deine Stimme gegen eigene Eltern (nicht gegen Schulsystem!), los auf die Barrikade. Parole:" Es lebe Stadtteilschule". (nicht "vernünftige Schulen)"
    Jetzt was Sie gar nicht verstanden haben: Yakamoz ist noch 15 und soweit ich sie verstanden habe, möchte sie gerade zu diesem Wettbewerb nicht gezwungen werden. Sie möchte eine vernünftige Bildung und Erziehung, eine vernünftige Vorbereitung auf das Leben. Sie glaubt, die Beste Vorbereitung auf eine Erwachsenenleben ist, dass die Kinder ihre Kindheit richtig erleben und nicht eine Figur in einem Ausleseprozess im Geist des Neoliberalismus werden. Als Eltern haben wir bisher Yakamoz nur dies beizubringen versucht.
    Sie sind auch Eltern, wir auch. Sie denken auch an Ihre Kinder, wir auch. Nur der Geist scheidet uns, uns zwar sehr tief. Ich möchte meine Tochter haben, keinen Rennpferd.
    Mit freundlichen grüssen
    Mehmet Karakurt

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  2. Hallo Herr Karakurt,

    danke für Ihre Antwort, so kommt doch wirklich ein bisschen Leben und Diskussion in das Thema.

    Was ich aber weder verstehe noch nachvollziehen kann, ist, wie Sie auf die Idee kommen, ich argumentierte aus einer Position des Neoliberalismus heraus. Ich kenne wirklich wenige Leute in meinem Umfeld, die weiter weg sind von so einer Position als ich (also "neoliberal ist" für mich ehrlich gesagt eine fast schon ehrabschneidende Beleidigung).
    Fast empfinde ich eher Ihre Argumente als neoliberal - die Rede von der ersten Liga und so weiter.

    Tatsächlich finde ich G8 falsch. Nur lehne ich - mindestens in Hamburg - nicht das Schulsystem ab. Sondern ich WEISS (!), dass alles das, was Yakamoz möchte und was Sie jetzt noch einmal unterstützen, dass Sie es auch wollen, dass sie also alles genau auf einer Stadtteilschule findet. Und es tut mir leid, wenn Sie das vielleicht als Affront empfinden, ich sage das auch immer wieder allen Eltern, die sich an dem Gymnasium meines Großen über den Leistungsdruck beschweren, so er denn da ist. Aber dass Sie - OBOWHL es pädagogisch gute Schulen gibt, die super zum Abitur führen - Ihre Tochter auf das Gymnasium geschickt haben, ist ja nicht ein Fehler des Schulsystems. Sondern Ihrer. Ich habe mit anderen dafür gekämpft (politisch), dass es gute Schulen in dieser Stadt gibt. Wenn Sie unseren Kampf nicht damit belohnen, dass Sie Ihr Kind auf eine gute Schule schicken, finde ich das schade, aber als Vorwurf bei mir falsch abgeladen.

    Mein Onkel ist Abteilungsleiter einer sehr guten Stadtteilschule bei Ihnen in der Nähe - und er berichtet, dass immer mehr Kinder aus Ihrem Stadtteil, also auch aus dem Villenstadtteil da rund um die Schule Ihrer Tochter herum, immer mehr Kinder von Akademikern und so weiter, bei ihm angemeldet werden. Nicht umsonst bietet diese Stadtteilschule inzwischen sogar Latein an und Forschungsunterricht - während mein Großer auf dem Gymnasium kein Latein lernen konnte und in den Naturwissenschaften einen eher schrägen, altbackenen Unterricht bisher hatte.

    Wenn Ihre Tochter, gerade als gute Schülerin, nicht zu diesem absurden Wettbewerb gezwungen werden möchte, in dem sie sich befindet, dann hat sie alle Chancen dazu. Auch jetzt schon, selbst wenn noch längst nicht alls toll ist an Hamburger Schulen.

    Aber wir Eltern sind da in erster Linie gefordert. Und WIR müssen unsere Denkblockaden auflösen, dass nur das Gymnasium tolle Startchancen böte. Wenn ich mir Abiturienten von Stadtteilschulen angucke und solchen von Gymnasien, erlebe ich - aber das ist nur Beobachtung, nicht wissenschaftlich belegt -, dass die von den Stadtteilschulen oft sehr viel besser wissen, was sie machen wollen und werden als die von den Gymnasien. Da gammeln dann viele erstmal rum, nehmen sich eine Auszeit und so weiter. Das ist auch ok, macht aber ja das eine Jahr, das sie "gespart" haben mit G8, irgendwie kaputt.

    Zu lernen, dass das Gymnasium eben NICHT automatisch die "beste" Schule für unsere Kinder ist, gerade wenn wir - beispielsweise als Aufsteiger - das beste für sie wollen, ist für uns Eltern nicht einfach. Aber ich versuche weiter jeden Tag, meinen Teil dazu beizutragen, dass es weitere Eltern verstehen. Und das, obwohl mein Dritter sicher eher auf ein spezialisiertes Gymnasium gehen wird. Meine Vierte dann bestimmt wieder auf die Stadtteilschule. Aber wer weiß...

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  3. Sascha Stoltenow26.8.11

    Lieber Wolfgang,

    grundsätzlich unterstütze ich Deine Argumentation, und den Begriff "neoliberal" würde ich auch zuletzt mit Dir in Verbindung bringen. Was aber könnte Herr Karakurt gemeinet haben?

    Meine Lesart: Wenn liberal meint, wir seien "frei zu wählen", könnte es tatsächlich auf Deine Worte zutreffen und damit ein Problem markieren, dass wir hier noch nicht besprochen haben.

    Was, wenn Yakamoz sich auf ihrer Schule wohl fühlt, ihrer Lehrerinnen und Mitschüler schätzt, und genau deshalb nicht auf einen andere Schule will, um ihr Leben zu optimieren, sondern erreichen will, das sie gemeinsam mit anderen ihr Schulleben so gestaltet, wie es sinnvoll ist?

    Genau davon aber sagt der Staat, der G8 übers Knie bricht, dass es nicht sein soll. Der Staat, der bewusst aussiebt, statt zu fördern, weil - und das ist die profane Wirklichkeit - niemand bereit sist, mehr Mittel in das System Schule zu investieren, und damit auch sagt, die Stadtteilschule ist ihm weniger wert.

    Ich finde es gut, dass sich Yakamoz dagegen wehren will, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere etwas zu erreichen.

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