9.6.11

Ich bin so wütend

Schon im Februar schrieb ich über unsere Erfahrung mit dem Gymnasium und dem, was wir in Hamburg "Stadtteilschule" nennen. Und seitdem ist nichts (in Worten: Nichts) besser geworden. Das Gymnasium, auf das mein Großer geht, trudelt mit einer hilflosen Führung und didaktisch heillos überforderten Lehrerinnen vor sich hin. Und ich habe Tränen der Wut und Empörung geheult, als ich (und dieses ist ein strikter Lesebefehl, der erste seit Jahren, den ich euch erteile, und ich meine es so, wie ich es sage) den Brief von Henning Sußebach an seine Tochter in der Zeit gelesen habe. Die so ziemlich einzigen schönen Passagen sind seine Erinnerungen an seine Kindheit und frühe Jugend. Ich sah mich. So wie ich meinen Großen in den anderen Teilen sah und mich um meinen Dritten sorge:
Als Kind habe ich mir Baugenehmigungen für Luftschlösser erteilt. Wenn ich an früher denke, schlendere ich als Fußballgott und Tenniskönig durch gleißend helle Nachmittage. Ich habe immer Zeit. Und es ist immer Sommer. Ein größeres Kompliment kann die Erinnerung der Kindheit nicht machen.

Wenn es regnete? Habe ich den Tropfenrennen am Fenster zugesehen oder die Holzvertäfelung neben meinem Bett angestarrt. So lange, bis sich aus der Maserung Berge erhoben und sich die Astlöcher in Vulkankrater verwandelten. Kennst Du das auch? Sußebach in der Zeit
Ich bin leicht bei der Hand, zu sagen, wer sein Kind aufs Gymnasium schickt, habe selbst Schuld. Ich sage das auch oft, wenn sich Eltern beschweren: Ihr wusstet es, ihr wolltet es, ihr seid halt doof gewesen. Und Hallo - ich bin im Vorstand des Elternrates (Elternmitbestimmung) eines Gymnasiums. Aber mit dieser Antwort ist jetzt Schluss. Ich werde Sußebachs Artikel verteilen. Ich werde die Konsequenzen ziehen. Ich bin so wütend. Auf mich, auf die Schulverwaltung, auf die Schule. In Sußebachs Brief ist nicht ein Wort, das nicht stimmte und dem ich nicht zustimmte Update: Hier irrte ich, siehe unten. Nur mit einem Unterschied:

In Hamburg, und darum bin ich wiederum saufroh, habe ich eine echte Alternative. Jede Schule führt zum Abitur (das ein Zentralabitur ist, also nix (mehr) mit Billigabitur). Immer mehr Eltern von Kindern mit "Gymnasialempfehlung" (die die SPD aus Angst gegen ihre eigene Beschlusslage nicht abgeschafft hat) denken nach, bevor sie ihre Kinder auf ein Waldundwiesengymnasium schicken. Und wählen eine Stadtteilschule, die früher Gesamtschule hieß und bis heute das Abitur nach 13 Schuljahren anbietet (und wo viele, nicht alle, Lehrerinnen schon seit Jahren sich an modernen Unterricht gewöhnen durften).

Ich habe ein Problem: Tertius ist gut in der Schule. Sehr gut sogar. Und will lernen. Und ich weiß nicht, ob ich mich traue, ihn nicht aufs Gymnasium zu geben. Auch das macht mich so wütend, dass ich heulen könnte. Und die Uhr tickt. In einem halben Jahr müssen wir uns entscheiden. Ich sollte noch mal Sußebachs Artikel lesen. Sagte ich schon, dass der verstörend großartig und wahr und eine Pflichtlektüre ist? Für euch alle?

Update 10.6.
An einer Stelle bin ich gestern zu kurz gesprungen. Denn ja, es ist ein großartig verstörender Brief, den Sußebach schrieb. Aber was er nicht reflektiert, ist seine Rolle an dem Problem. Denn wenn seine Tochter kein Leben mehr hat, wenn sie sonntags lernen muss, dann ist es ein Fehler gewesen, sie aufs Gymnasium zu geben. Punkt. Er wusste, worauf er sich einließ. Und nun hat er ein schlechtes Gewissen - schiebt es auf das "System" und die anderen, blendet aber seinen falschen Ehrgeiz, seine falsche Arroganz ("Mein Kind muss aufs Gymnasium") aus. Denn die Konsequenz muss doch sein: Wer in der Grundschule nicht überwiegend Einsen hat oder eine Drei in einem Lernfach, gehört nicht aufs G8.

Das ändert nichts daran, dass ich G8 und alles, was Sußebach beschreibt, für falsch und einen Skandal halte - aber wir Eltern müssen unsere eigene Rolle und unseren eigenen Ehrgeiz reflektieren und mit den Füßen abstimmen über das "System". Auch bei Sußebach in der Stadt gibt es eine Gesamtschule mit G9. Aber da wollte er sein Kind nicht hingeben. Warum? Weil er studiert hat und meint, sein Kind müsse, obwohl es so viel lernen muss, aufs Gymnasium, um sein Abitur zu machen? Unsere Freunde in diesem Ort haben ein Kind aufs Gymnasium und eines auf die Gesamtschule geschickt, wir haben eines auf dem Gymnasium, eines auf der Stadtteilschule (Gesamtschule). Und für beide passt es, in beiden Familien, so dass unsere Kinder jeweils noch Kind sein können und eben nicht übermäßig nachmittags lernen - sondern übermäßig nachmittags und am Wochenende chillen.

Und so möchte ich Sußebach zurufen: Änder was. Jetzt! Nimm deinem Kind den Stress. Es kann trotzdem Ärztin werden. Aus dem Irrsinn G8 kann jede schon heute aussteigen. Fast überall außer da, wo Djure wohnt vielleicht, der aber ja sehenden Auges in eine strukturschwache Gegend gezogen ist.

Und so bin ich immer noch wütend. Und immer noch auf das "System". Aber eben auch auf Henning Sußebach, der selbst seinem Kind die Kindheit nimmt.

5 Kommentare:

  1. Hehe. Was lästerst Du hier über strukturschwache Gegenden ;). Nein! Die Strukturschwäche ist nicht unser zentrales Problem. Unser Problem ist eine Landesregierung, die klassenstrebrisch immer noch in Richtung G8 rennt, wo andere Länder längst innehalten. In Niedersachsen müssen Gesamtschulen zwingend auch das G8 anbieten. Darüber hinaus werden die Gesmatschulen massiv benachteiligt, bspw. beim Klassenteiler.

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  2. Die Wahl hat man auch im relativ großen Münster nur bedingt: Hier, wo die CDU (mit einer kurzen Pause) ewig regiert hat, gibt es nur eine Gesamtschule (und die in katholischer nicht staatlicher Trägerschaft). Die wird überrannt und damit haben nicht alle Eltern die Wahl. Immerhin können die Gymnasien in NRW jetzt zwischen G8 und G9 wählen und wenigstens eins, leider ein Vorortgymnasium hat den Schritt "zurück" gewählt.

    Die "Schuld" liegt sicher oft bei den Eltern, aber (wie so oft im Leben) ist auch hier eine pauschale Schuldzuweisung unangebracht.

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  3. Anonym21.6.11

    Danke für die differenzierte Betrachtung.
    Ich selbst wohne in einem vorwiegend akademisch besiedelten Stadtteil einer Universitätsstadt im äußersten Süden der Republik, bin Mutter eines Siebtklässlers auf einem recht anspruchsvollen G8-Gymnasium und ebenfalls im Elternbeirat aktiv.
    In den letzten Jahren durfte ich in meinem Umfeld folgendes beobachten:
    Ausnahmslos alle Kinder mit einer wirklich klaren Gymnasialempfehlung, also in etwa den Grundschulnoten, die sie beschrieben haben,kommen bis jetzt gut bis sehr gut und vor allem ohne sich zu überarbeiten mit den gymnasialen Anforderungen zurecht - meines inbegriffen.
    Vor allem wenn sie zudem über die viel zu selten erwähnten, nicht zwangsläufig an die Intelligenz gekoppelten aber für den Schulerfolg nicht unerheblichen Zusatzkompetenzen wie (intrinsisch motivierte)Lernfreude,Wissbegierde, Methodenkompetenz und ja, auch etwas Fleiss und Ehrgeiz verfügen.
    Bei diesen Kindern blieb bis jetzt durchaus noch ausreichend Zeit für Spiel und Freizeit, trotz des relativ vollen Stundenplans bei G8.
    Keine Freizeit haben viele der Kinder, die den Übergang nur knapp geschafft haben.
    Gefährdet und eigentlich permanent unter Leistungsdruck (oft inklusive Bauchschmerzen und anderen körperlichen Beschwerden) sind tatsächlich oft die, die diese knappe Empfehlung nur auf Grund extremer Förderung (ich meine damit Nachhilfe, stundenlanges Üben etc.) in der Grundschule und/oder wegen des Status' ihrer Eltern erhalten haben - und das sind leider nicht wenige. Ich durfte auch live beobachten, was es mit einem Kind macht, wenn es nach einiger Zeit dann doch auf dem Gymnasium "scheitert" und ich könnte schreien, wenn ich mal wieder höre: "Wir probieren es trotz eingeschränkter Gymnasialempfehlung (und genau das sind jene knappen) mit dem Gymnasium, er/sie kann ja, wenn's nicht klappt immer noch auf die Realschule wechseln."
    Warum darf dieses Kind bitte nicht zunächst ein erfolgreicher Realschüler werden? Meines hätte es gedurft, wenn die Voraussetzungen andere gewesen wären und es wäre auch keine Tragödie für mich gewesen.
    Ich bin übrigens kein Fan des G8, weiß Gott nicht, es ist vieles, was ich nicht gut finde, aber es ist nicht vorrangig verantwortlich für die aktuelle Bildungsmisere und in den wenigsten Fällen verantwortlich für den Druck, dem die Kinder ausgesetzt sind.
    Das ist in der Tat zu kurz gesprungen.
    Anka

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  4. Danke euch, vor allem Anka für den ausführlichen Bericht vom anderen Ende der Republik :)

    Vor allem dabei fällt mir wieder auf, wie sehr G8 zumindest überall dort, wo nicht jede Schule zum Abitur führt (also überall außer in Hamburg), dem wichtigsten Zukunftsthema in der Bildungsfrage zuwider läuft: Es ist doch weitgehend Konsens, dass wir eher mehr als weniger Abiturientinnen brauchen, da die Quote immer noch zu gering ist. Wenn aber G8 faktisch dazu führt - wie es Anka und ich und viele, viele andere erleben - dass das Gymnasium für weniger Kinder als vorher sinnvoll ist, dann ist das nur dort gut, wo es Gesamtschulen flächendeckend gibt oder eben jede Schule zum Abitur führt wie in Hamburg.

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  5. Anonym22.6.11

    Ich möchte ergänzen, dass auch in BW die diversen Schulen keine Sackgasse sind, auch wenn sie nicht direkt zum Abitur führen!
    Der Weg zum Studium ist nur dann definitiv verbaut, wenn ein Kind nur einen einfachen Hauptschulabschluss schafft.
    Alle anderen Abschlüsse bieten die durchaus realistische und gangbare Möglichkeit, je nach Neigung und Eignung auf verschiedenen Wegen und mehr oder weniger schnell zu Fachhochschulreife, fachgebundener oder auch allgemeiner Hochschulreife zu kommen - schon aus diesem Grund verstehe ich die Hysterie nicht ganz, die vor der 4. Klasse ausbricht.
    Mehr als eine höhere Abiturientenquote würde ich mir persönlich übrigens wünschen, dass die anderen Abschlüsse wieder eine Aufwertung erfahren und zwar vor allem in qualitativer Hinsicht.
    In diesem Zusammenhang frage ich ganz vorsichtig und verhalten:
    Wäre es nicht denkbar,dass das eigentliche Problem darin liegt, dass man ohne Abitur mittlerweile fast nichts mehr werden kann und wir darum so viel mehr Abiturienten brauchen?
    Und laufen wir dann nicht in Gefahr auch hier an Niveau zu verlieren?
    Anka

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