6.12.11

So wird Inklusion nicht funktionieren

Um es vorweg zu sagen: Ich bin für Inklusion. Ich habe schon für die Integration von Kindern mit Behinderungen in die so genannten Regelschulen gestritten, da wart ihr noch nicht mal geboren, damals, in den 80ern mit Rosi Raab, da waren wir schon echt weit mit dem Thema. Dann habe ich Schulpolitik und Integrationsfragen erstmal ruhen lassen, weil meine Frau in dem Bereich aktiv war. Sie ist heute Lehrerin mit dem Förderschwerpunkt Sprache und geistige Entwicklung. Meine Beobachtungen und Erfahrungen und auch meine Haltung zu dem gesamten Komplex ist also nicht nur dadurch geprägt, dass meine vier Kinder vier unterschiedliche Schulen besuchen - sondern auch durch ihre konkreten Erlebnisse.

Hamburg setzt nun also auch endlich EU- und Menschenrechte um und versucht, Kinder mit Behinderungen standardmäßig mit anderen Kindern gemeinsam zu unterrichten. Faktisch werden die Sonderschulen aufgelöst und die Lehrerinnen auf die Grund- und Stadtteilschulen verteilt. Also alles gut, denn es sei ja kein Sparmodell, wie auch die Bildungspolitikerinnen meiner Partei immer wieder sagen? Nein, gar nichts ist gut. Denn so wird es nicht funktionieren. Und das aus mehreren Gründen.

1. Der Bedarf ist viel höher als angenommen
Seit Kinder mit Förderbedarf nicht mehr an Sonderschulen abgeschoben werden (können), gibt es auf einmal viel mehr Kinder mit Förderbedarf. Die naive Rechnung der Schulbehörde (und auch und gerade der früheren grünen Behördenleitung), dass ja gleich viele sonderpädagogische Stunden für gleich viele Kinder zur Verfügung stünden, war von Anfang an falsch - und alle, die sich ein bisschen mit Grundschulen und Sonderschulen auskennen, haben das auch vorher so gesagt. Wenn ich als Schule nun mehr Stunden bekomme, wenn ich mehr Kinder mit Förderbedarf habe, ermutige ich die Eltern, ihn anzumelden. Vorher habe ich eher entmutigt, weil ich das Kind nicht abgeben wollte.

Um das nicht falsch zu verstehen: Das ist auch gut so. Wenn alle Kinder besondere Förderung (beispielsweise wegen Problemen mit der Sprache oder dem Sprechen) bekommen, die das brauchen, dann ist das gut. Aber das geht nun einmal nicht kostenneutral.

2. Die Inklusion ist eine Verschlechterung für die meisten Kinder mit Behinderungen
In der Theorie ist es absolut richtig (und unterstütze ich es auch), dass es für Kinder mit Behinderungen besser ist, in wohnortnahen Klassen mit allen anderen Kindern gemeinsam unterrichtet zu werden. In der Praxis aber bedeutet das eine deutliche Verschlechterung ihrer individuellen Förderung.

Ein Kind, das stark stottert - um mal eine "einfache" Behinderung heranzuziehen -, kann mit echter unterrichtsimmanenter Therapie (also mit Unterricht, in dem sozusagen subkutan Sprachtherapie stattfindet) und mit kleinen Klassen (maximal 12 Schülerinnen) seine Hemmungen abbauen und sein Stottern ablegen oder damit umzugehen lernen. Mit ein bis zwei Förderstunden, in denen es aus seiner Klasse mit mehr als 25 Schülerinnen genommen wird, in der es die anderen 23 Stunden der Woche unterrichtet wird, kann das nicht gelingen.

Ein Kind mit einer geistigen Behinderung, das lesen und rechnen lernen kann in einer Lerngruppe aus fünf oder sechs Kindern, kann das nicht zwingend, wenn es faktisch als Beistellkind den nicht-behinderten Kindern soziales Lernen ermöglichen soll (ok, das war polemisch, aber es spiegelt leider dennoch die Realität in den Speckgürteln wider).

Kinder mit emotionaler oder sozialer Behinderung, insbesondere solche mit schweren psychischen Störungen, werden in großen Gruppen dauerhaft überfordert. Ohne eine individuelle Lernbegleitung haben sie keine Chance, am Unterricht teilzunehmen. Dies wird beispielsweise in Schweden deshalb auch so umgesetzt, die schon damals, in den 80ern, zu Rosi Raabs Zeiten, unser Rollenmodell waren, weil sie es besser und professioneller umsetzten als wir heute. Dort hat ein Kind mit entsprechenden Behinderungen immer eine individuelle Lernassistenz bei sich (pro Kind eine Person), mal abgesehen von fast durchgängigen Doppelbesetzungen im Unterricht.

3. Die Förderstunden der Sonderpädagoginnen kommen nicht bei den Kindern an
Die Idee, dass Lehrerinnen mit besonderen Förderschwerpunkten je nach Bedarf an den Schulen "zugebucht" und eingesetzt werden, klingt am grünen Tisch verlockend. So wird es ja nun seit mehr als einem Jahr versucht. Das Problem ist: Diese Zusatzstunden versickern im System und kommen nicht bei den Kindern an. Theoretisch werden diese Stunden für Doppelbesetzungen in den Klassen eingesetzt und zur Förderung der Kinder, für die sie als Förderbedarf angefordert wurden. Nur werden Doppelbesetzungen immer als erstes aufgelöst, wenn es zu Krankheit oder Klassenreise oder Sportveranstaltungen oder Theatergängen oder Wandertagen kommt.

In der Praxis ist mir keine einzige Lehrerin bekannt, die als Sonderpädagogin an eine "Regelschule" abgeordnet wurde und dort nicht überwiegend als "normale" Lehrerin eingesetzt wird, um "normale" Lücken zu schließen. Das ist ja auch logisch, denn die Grundversorgung geht vor. Soll sie sich weigern, die erkrankte Kollegin zu vertreten? So lange das System Schule so auf Kante genäht ist, dass im November der normale Unterricht nur schwer aufrecht erhalten werden kann, kann dieses System gar nicht anders als die sonderpädagogischen Stunden aufsaugen und verbrauchen.

4. Das Thema Inklusion ist erst spät von der politischen Leitung gesehen worden und mit einer Posteriorität versehen
Nicht in den Sonntagsreden, klar. Aber in der Praxis spielt das Thema Inklusion keine Rolle für die Leitung der Behörde, spielte noch weniger eine Rolle unter grüner Leitung. In der Reform der Schulstruktur wurden die Sonderschulen erst vergessen, dann - nach entsprechenden Protesten der Sonderschulleiterinnen - als später zu entscheiden und ersteinmal bei der Schulreform auszuklammern markiert - und schließlich irgendwie verwurstet. Keines der realen Probleme, die die Inklusion zurzeit mit sich bringt, ist für irgendwen, der sich mehr als eine Stunde mit dem Thema beschäftigt hat, überraschend. Alle Punkte, die ich oben aufführe, waren schon exakt so vorher von einigen Praktikern angesprochen worden. Da ich nicht zu denen gehöre, darf ich das sagen, denn ich habe es nicht vorher gewusst, sondern kann es jetzt, wo ich mich mit dem Thema intensiver beschäftige, zusammentragen.

Klar ist aus meiner Sicht, dass Inklusion so, wie sie in Hamburg von uns Grünen angeschoben und nun von der SPD umgesetzt wird, niemandem von denen nützt, für die sie gemacht wurde. In den Schulen werden Kinder ankommen, die Gruppen sprengen, Lernen unmöglich machen und nicht aufgefangen werden können. Die Kinder mit Förderbedarf werden schlechter gefördert als bisher. Und die Lehrerinnen, die sich um solche herausfordernden Kinder kümmern wollen, werden als Lückenfüllerinnen einer zu engen Personalplanung verbrannt.

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