9.10.23

Verzweifelter Mut

Das letzte Mal, habe ich den Eindruck, ging es mir so, als ich noch ein Jugendlicher war, vor 35 Jahren oder 40. Diese merkwürdige nagende Gleichzeitigkeit von freudiger, die Zukunft liebender Erregung und gleichzeitiger tiefer Verzweiflung angesichts der Welt und der Menschen um mich herum. 

Damals waren es auf der Habenseite eher so Sachen wie Verliebtsein oder Musik oder Lesen. Und auf der Sollseite die entstehende Festung Europa, die Ignoranz der Erwachsenen für Frieden und Umwelt, die immer dreisteren Nazis. Als mir das bewusst wurde, machte mich das in der letzten Woche sehr, sehr traurig. Weil es sich so anfühlte, als wären wir wieder an der gleichen Stelle. Nur irgendwie krasser. 

Und da war dann dieser Gefühlsmix wieder, als ich voller Freude, Liebe, Erregung den Ältesten ansah, der am Wochenende heiratete. Am gleichen Tag, an dem seine Nachbarn über Israel herfielen, einen Tag bevor weit über 60% der Wählenden in Bayern populistische und rechte Parteien wählten. Bevor Nazis doppelt so viele Stimmen bekamen wie Sozis. 

Der Sonnabend war wunderbar. Ohne dass ich einmal das Handy anmachte, außer um Fotos zu machen. Und am Sonntag dann plötzlich der wahnsinnig dicke Knoten im Magen, als ich die Nachrichten vom Vortag sah. Ich dachte, ich wäre zu alt für diese Achterbahnfahrt, für die Wechseldusche. In der sich Liebe und Mut mit Verzweiflung ablösen. In der ich mich ganz und gar zu Hause und geborgen fühle und im nächsten Moment heimatlos und ohne Zukunft. 

Tatsächlich habe ich auch damals nicht aufgegeben, waren die Liebe und die Hoffnung stärker. Und es fühlte sich lange an, als hätte sich das gelohnt. Als wäre das richtig gewesen. Werde vieles besser. 

Vielleicht wirft es mich darum so um. Weil sich nichts verbessert hat am Ende. Weil es die gleichen Dinge sind, die mich zweifeln und verzweifeln lassen. Weil alles noch viel schlimmer ist und ich mich zusätzlich auch noch politisch wieder am gleichen Scheideweg befinde wie vor 30 Jahren. 

Vor 40 Jahren haben wir über die Festung Europa geredet und ein Schreckens-Szenario gesehen, in dem der absolute worst case viel rosiger war als die Realität heute ist. Zehn Jahre lang wurde dann meine politische Heimat mürbe geschossen, bis sie 1992 dem Nazi-Mob nachgab. Und heute passiert das gleiche mit meiner politischen Wahlheimat. Und ich merke, wie mir die Kraft schwindet, das noch einmal ertragen zu wollen. Noch einmal aktiv zu werden. 

Und dann sehe ich meine Kinder und ihr Leben und ihre Wünsche und Hoffnungen und Liebe – und bin glücklich. Könnte platzen vor Glück und auch ein bisschen vor Stolz. Und bin wieder in dieser Achterbahn. Und frage mich, wie alles gut werden kann. Und merke, dass mir viel Glaube abhanden gekommen ist, der Liebe und Hoffnung trug. 

Und dann hebe ich doch den Kopf und gehe weiter. Weil ich es nicht anders kann. Nicht anders will. Sondern zusammen mit der Frau, die ich liebe, und den Menschen, die ich liebe, auf eine andere Art, aber liebe, um die Zukunft ringen mag. Ringen kann. Muss. 

Update 10.10.: Dietrich Bonhoeffer schrieb 1942: „Optimismus ist keine Ansicht über eine gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. (…) Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“ (ht Matthias Jung)

1 Kommentar:

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