12.9.23

Niederlage

Einer der grauenvollsten Tage war der, den ich in Lidice verbrachte. Ich habe sehr geweint. Noch nie vorher war mir das Grauen des faschistischen Vernichtungskrieges so nah. 

Peter Stehlik 2009.05.12 Lidice 002aa

Auf diesem Platz habe ich lange gesessen und gebetet und um Vergebung für meinen Urgroßonkel und meine Großväter gebeten. Einer war in der Waffen-SS, einer stand später dazu, mit einiger Scham, gerne in der HJ gewesen zu sein. Alle drei waren als ältere oder sehr junge Männer Teil der Armee, die den Vernichtungskrieg geführt hat. Auch wenn es noch acht Jahre vor der Wehrmachtsausstellung war, dass ich in Lidice stand, war mir schon klar, was viele auch während der Ausstellung noch nicht wahrhaben wollten - dass die deutschen Soldaten eben ganz überwiegend Täter und aktive Teile der Vernichtung waren. Lidice ist vielleicht der beste Ort, um das zu begreifen. Gut zwei Jahre später, als ich vor Picassos Guernica stand, habe ich es das zweite Mal gefühlt und erlebt, die Scham, die Lähmung, die Verzweiflung.

Zwei Jahre vor meinem Besuch in Lidice (es war lange vor dem Umbau und der Renovierung der Gedenkstätte, ich erinnere mich noch gut an den verwilderten Rosengarten) hatte von Weizsäcker seine berühmte Rede gehalten, in der er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnet hatte. Den Historikerstreit (in meiner Erinnerung waren es wirklich nur Männer) haben wir in der Schule verfolgt. Ich habe immer mit Weizsäckers Framing gefremdelt. Ja, ich weiß, dass es für die meisten alten Menschen, die ich nicht kannte, schon ein großer Schritt war, dass über das Kriegsende anders als in Trauer über die Niederlage geredet wurde. Dass es ein großer Schritt war, um anzuerkennen, dass sehr viel von dem, was in meiner Umgebung an kleinbürgerlichem Wohlstand entstanden war, der Arisierung und dem Raub der Soldaten in den überfallenen Gegenden Europas zu verdanken war. Dass eine Kriegsniederlage eines Volkes von den Nachfahren dieses Volkes positiv gesehen werden konnte.

Aber ich fand auch damals schon die Idee der Befreiung falsch. Zwar wurde Europa und wurden die Opfer der Deutschen von den Deutschen befreit, das schon. Es war ein Tag der Befreiung, aber nicht für die Deutschen sondern von den Deutschen. Und das habe ich als Deutscher, der 1969 geboren ist, bejubelt, auch schon vor 1985. Aber nicht Deutschland wurde befreit. Sondern Deutschland hat eine selbst verschuldete und selbst gewollte Niederlage erlitten.

Ich spreche darum bis heute lieber von einer Niederlage, weil es deutlich macht, dass die Zustimmungsdiktatur besiegt wurde. Und damit ein Land, das bis zum Schluss weitgehend seine Diktatur unterstützt hat, ihr zugestimmt hat. Bis kurz vor Schluss ging es den Deutschen in ihrer Mehrheit ja auch gut. Das Kleinbürgertum ist aus der Umverteilung akademischen Wohlstands aufgestiegen. Zu einem Zeitpunkt, als fast ganz Europa von den deutschen Soldaten ausgeraubt und in Schutt und Asche gelegt wurde, ging es denen in der Heimat gut, nicht zuletzt, weil die Soldaten Dinge nach Hause schickten. 

In gewisser Weise wurden die Deutschen vielleicht auch befreit am Ende, aber eigentlich ist das eine Geschichtsklitterung, denke ich. Denn befreit wurden vor allem die anderen. Von Deutschland und den Deutschen. Lidice und Guernica machen sehr eindrücklich deutlich, wovon die anderen befreit wurden.

Wenn in diesen Tagen vor allem Nazis, Faschist*innen und andere böse Menschen denen zustimmen, die es nicht skandalös finden, den 8. Mai als Niederlage zu sehen, ist das trotzdem schlimm. Zumal ich gerade dann, wenn ich es als Niederlage sehe, ja wohl mit den Sieger*innen anstoßen und feiern kann. Ja muss. Sollte. Will. Und voller tiefer Dankbarkeit an ihren Sieg denken. Und mich schämen, dass das Volk, in das ich hineingeboren wurde, es eben gerade nicht geschafft hat, sich zu befreien, weil es in seiner Mehrheit gar keinen Grund sah, befreit zu werden, weil es eben zustimmte. 

Ich freue mich jeden Tag und feiere jeden Tag, dass Deutschland seinen Krieg verloren hat. Und dass die Menschen in Europa von Deutschland befreit wurden. Das ist ganz wunderbar.

 

1 Kommentar:

  1. Siewurdengelesen14.9.23

    Und die nächste Runde "Deutschland, Deutschland über alles in der Welt" ist schon im Wachsen und Werden.

    Die patriotischen Daueropferdeutschen haben ja nie aufgehört zu existieren und üben sich lieber in whataboutism, was die überfallenen anderen Staaten dem unschuldigen Deutschland so angetan haben. Das die Ursache vielleicht in der eigenen Aggression und Hörigkeit gelegen haben könnte, die praktisch bis zum Schluß den braunen Terror mitgetragen hat und selbst danach eher selten in wirklicher Einsicht und Reue endete und vorher nicht einmal passiv Widerstand leistete...

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