21.6.23

Scham

Ich wollte darüber schon lange schreiben. Vor allem, weil mir einfach nicht in den Kopf will, wie Konservative seit Jahren immer wieder den gleichen Fehler machen, also den strategischen Fehler. Konservative hier im weiteren Sinne, aber dazu gleich mehr. Jedenfalls sind die begeisterten Reaktionen und die Tontaubheit von führenden CDU-Leuten nach dem grotesken Auftritt von Claudia Pechstein auf dem CDU-Konvent, oder wie der heißt, jetzt der Anlass. Denn dass Merz ("brillant") und Co nicht mal merken, was sie da tun, wenn sie reaktionäre, alltagsrassistische Bemerkungen bejubeln, halte ich auf der einen Seite für wenig überraschend. Auf der anderen Seite für ein Problem. Beides hat allerdings mit meinen Erfahrungen in einer Vorort-SPD in Hamburg in den Achtzigern zu tun.

Denn tatsächlich habe ich vorher und nachher noch nie so viele Menschen mit festen rechtsextremen Überzeugungen auf einem Haufen erlebt wie in Ortsvereinsversammlungen in diesem Stadtteil in dieser Partei. Das hat mich damals irre irritiert, ich baute ja eine (linke) Jusogruppe neu auf, ich war 16, naiv und engagiert. Es war noch vor dem Mauerfall. Aber während einer Zeit, die bei uns in Hamburg durchaus schon geprägt war von Nazis auf den Straßen, ähnlich wie kurze Zeit später in den Baseballschlägerjahren überall. Unser U-Bahnhof war einer der Treffpunkte der Glatzen in unserer Gegend.

Während es mich damals nur irritierte und entsetzte, habe ich erst sehr viel später begriffen, was für eine große gesellschaftliche Leistung die SPD da erbrachte damals. In anderen Gegenden war es die CDU, die diese Leistung erbrachte, je nachdem, welche der beiden Parteien die dominierende in einer Gegend war. Denn die rechtsextremen Genossen (ja, es waren ganz überwiegend Männer, ich erinnere mich nicht an eine einzige Frau in dieser Gruppe damals) waren überzeugte Sozialdemokraten. Ihre tiefen Ressentiments und ihre festen Überzeugungen haben sie nur in geschützten Räumen und meistens nur nach einigen Runden Lütt'n'Lütt formuliert. Sonst waren sie still. Angepasst. Ganz normal, sehr für Voscherau, damals Fraktionschef. 

Bis in die 90er Jahre hinein haben sich, denke ich, diese Menschen für ihre Überzeugungen geschämt. Waren sie nicht laut zu hören, wenn sie nicht unter sich waren. Es gab in der Mitte der Gesellschaft ein solides Schamgefühl für rechtsradikale Positionen. Das heißt nicht, dass sie sie nicht hatten – sondern nur, dass ihnen klar war, dass die irgendwie nicht so ganz ok sind. In Hamburg änderte sich das im letzten Drittel der 90er, als einer von ihnen, also einer aus der Mitte der Gesellschaft, zum ersten Mal wirkmächtig und von den Medien des Springerverlags gefeiert (der in Hamburg damals die einzige lokale Tageszeitung, die keine Boulevard-Zeitung war, betrieb) diese rechtsextremen Positionen laut aussprach. Ronald Schill. Und der notorisch extremismusnahe Landesverband der CDU, der mehr durch Zufall und weil es niemand anders wollte, weil es ja eh aussichtslos war, wie die Jahre von Perschau zeigten, einen halbwegs liberalen Anführer hatte, dieser an sich also extremismusnahe Landesverband den Schill auch noch mit einer Koalition adelte.

Jedenfalls erodierte in den 90ern, und nicht erst in den Jahren vor 2015, nach und nach die Schamgrenze. 1992 fiel die SPD unter Engholm vor dem Baseballschlägermob in die Knie. Schill und zehn Jahres später Sarrazin machten die vorher nur verschämt gedachten Gedanken für die Mitte der Gesellschaft sagbar. Kinder statt Inder im Jahr 2000 machte bisher unsagbare Positionen, bisher mit Scham belegte Überzeugungen, in der CDU öffentlich akzeptiert. 

Seitdem gelingt es CDU und SPD nicht mehr, die Menschen mit festen rechtsextremen Überzeugungen in ihren Reihen zu halten. Bis dahin hat die Scham verhindert, dass diese Überzeugungen wichtiger waren als andere Punkte wie Sicherheit oder Soziales. Nun "durfte" man es auf einmal öffentlich sagen, machten das Vertreter*innen der beiden großen Parteien ja auch selbst. Nun haben vor allem Konservative verschoben, was wir ohne falsche Scham sagen dürfen.

Darum halte ich es für aussichtslos, zu hoffen, dass Menschen, die die AfD wählen, massenhaft "zurück" kommen werden. Denn sie stehen – anders als vor zwanzig Jahren – einfach nur zu ihrer Meinung, die sie ohnehin und schon immer haben. CDU und SPD gelingt nicht mehr, was ihre Existenzberechtigung als Volksparteien und Kompromissmaschinen einmal war: Menschen mit festen rechtsextremen Überzeugungen ins demokratische Spektrum einzubinden, weil es genug Punkte gibt, in denen sie diesen Parteien zustimmen. Und die anderen Punkte so geächtet sind im gesellschaftlichen Diskurs, dass sie mit Scham belegt und unsagbar sind. Und damit offen rechtsextreme Parteien zu Kleinstgruppen machten.

Ich denke, dass dieser Prozess nicht umkehrbar ist. Und dass es – wenn wir nicht von "Schuld" sprechen wollen in diesem Zusammenhang, was ich etwas schwierig fände – eben nicht an konkreter Politik oder einer signifikanten Veränderung in den Haltungen der Menschen liegt. Die festen rechtsextremen Überzeugungen sind, von jungen Männern einmal abgesehen, bei denen sie zugenommen haben, relativ stabil geblieben. Sie werden nur schamlos geäußert. Und ein Wahlverhalten, das sie widerspiegelt, ist nicht mehr außerhalb des Akzeptierten, zumindest in so genannten "bürgerlichen" Kreisen.

Der Zug ist meines Erachtens abgefahren. Die strategischen Fehler vor allem der CDU liegen im letzten Drittel der 90er und in der ersten Hälfte der 2000er. Die überraschende Wahl von Merkel hat sie nur verdeckt, so wie die überraschende Wahl von von Beust sie in Hamburg vorher verdeckt hatte. Dass Merz heute nahtlos an diese Fehler seiner Politikgeneration anknüpft, ist traurig, aber nicht überraschend. Sondern höchstens Wahnsinn.

2 Kommentare:

  1. Marina24.6.23

    Danke für diese Erläuterung. Mir (33 Jahre alt) waren diese Entwicklungen in den 90er und frühen 2000er Jahren nicht in dieser Deutlichkeit bewusst und ich habe mich lediglich häufig gewundert wie Menschen, die "schon immer" SPD wählten, so rechts sein können. Bislang dachte ich, bei einigen handele es sich um altersbedingte Ausfallerscheinungen, weil vielleicht Zusammenhänge nicht mehr erfasst oder Schlagzeilen nicht mehr durchschaut werden können. Vermutlich lässt hier aber auch nur das Verschleiern der eigentlichen Gesinnung nach.

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  2. Thomas S.26.6.23

    Ignaz Bubis sagte schon Anfang der 1990er sinngemäß: Drohbriefe habe ich immer bekommen, aber früher waren sie anonym, inzwischen sind sie mit Name und Anschrift. Der Schamverlust war also bereits in vollem Gange.
    Als Folge waren Personen, die bis dato noch in den Volksparteien mitliefen, immer schwerer integrierbar. Ein Schlüsselmoment war für mich, als die CDU Hessen (!) unter Roland Koch (!!) Martin Hohmann rausschmiss. Da wurde offensichtlich, dass bestimmte Risse nicht mehr zu kitten waren.
    Wenig überraschend wurde Hohmann danach noch jahrelang von erzkonservativen Christ*innen hofiert und war gern gesehener Gast auf Konferenzen.

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