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9.9.24

Wohlwollen

Als wir uns auf die Beerdigung und den Trauergottesdienst meines Schwiegervaters vorbereiteten, war das, was schön war, auch wenn eigentlich nichts schön war, die Erinnerung an Geschichten und das gemeinsame Erleben. Gerade als jemand, der erst als junger Erwachsener in die Familie kam und aufgenommen wurde, ist mir da noch einmal viel bewusst geworden. Vor allem das hermeneutische Wohlwollen, das die beiden auszeichnete und meine Schwiegermutter immer noch auszeichnet.

Dieses Wort benutze ich nicht so selten. Es ist mir wichtig als Richtschnur, es war mir wichtig, wenn ich in der Vergangenheit Unternehmenskulturen zu prägen versucht habe. Gerade weil es so anders ist als das hermeneutische Misstrauen, das für die meisten Menschen sowohl im Privaten als auch im Beruflichen die Normalhaltung ist. Mir war all die Jahre nicht klar, wo ich dieses hermeneutische Wohlwollen so prägend erlebt hatte, dass mich das Wort, als ich es in einem unglaublich unwahrscheinlichen Zusammenhang dann erstmals hörte, sofort ergriff. 

Denn in der Tat würde ich lieber verschweigen, wo ich das Wort das erste Mal hörte und sofort in meinen Wortschatz übernahm, weil ja Christian Lindner irgendwie gar nicht zu diesem Konzept passt, auch, wenn er es in meinem Lieblingspodcast erwähnte.

Mir wurde in diesem Sommer klar: Erlebt hatte ich es vom ersten Tag an, als ich in die Familie meiner Liebsten kam. Obwohl es jeden Grund für Vorurteile gegeben hätte (das ist noch einmal eine andere Geschichte), war ich sofort angenommen. Und es stellt sich heraus, dass dies eben so war mit Menschen, die neu dazu kamen. Bis zum Beweis des Gegenteils und oft auch noch lange darüber hinaus waren und sind sie neuen Menschen mit diesem hermeneutischen Wohlwollen begegnet. Also mit der Haltung, dass dieser neue Mensch es gut meine, ihnen gut wolle – und merkwürdige Sätze eher ungeschickt formuliert sein würden als böse gemeint. Dass von zwei möglichen Interpretationen einer Situation immer (und zwar wirklich immer, es scheint eine Frage der Haltung zu sein) die für den neuen Menschen positivere gewählt wurde und wird. 

Für mich war das ebenso neu wie für andere Menschen, die im Laufe der Zeit in die Familie kamen. Erst im Rückblick fällt auf, wie neu es wirklich war. Wie es zu einem Ankommen, Angenommensein, Zugehörigsein führte. Wie daraus tiefe Zuneigung wurde und ein Netz aus Vertrauen und Geborgenheit.

Für die Beschreibung von Diskussionsräumen und Kulturen habe ich schon länger dieses Wort vom hermeneutischen Wohlwollen genutzt. Aber erst im Gespräch mit dem Pfarrer ist es mir für diese Familiensituation aufgefallen. Nicht als Norm und Ziel sondern als Beschreibung des Ist. Wahrscheinlich ist dieses hermeneutische Wohlwollen das größte Geschenk, das mir mein Schwiegervater gemacht hat. In einer Situation, in der wir oft unterschiedlicher Meinung waren, politisch, theologisch, kirchlich. In der ich (und manchmal auch er) hart diskutiert habe, voller starker Überzeugungen. Und ich lernte, dass das trotzdem mit Wohlwollen sein kann. Und nicht mit Misstrauen sein muss. Das kannte ich nicht.

Wie sehr diese Haltung der beiden uns junge Leute geprägt hat und uns für unser Leben etwas mitgegeben hat, wurde vielleicht auch daran deutlich, wie viele unserer langjährigen Freund*innen jetzt, wo wir selbst alt sind, zur Beerdigung kamen oder schrieben. Und was sie zu erzählen und erinnern hatten. Und wie sehr es immer noch junge Menschen prägte und ihnen etwas für ihr Leben mitgab, zeigt sich daran, wie eng und wichtig die Beziehung zu diesen Großeltern für alle neun Enkel*innen war und bleibt, wie groß das Vertrauen auf dieses Wohlwollen bei allen neun so sehr unterschiedlichen Menschen.

Es ist mehr als alles andere – zumindest für mich – das, was bleibt. Dieser Raum aus Wohlwollen, den sie geschaffen haben um sich herum und für die Menschen, die in diesen Raum hineinkamen. Das Erlebnis, wie es sich anfühlt, wenn mir mit hermeneutischem Wohlwollen begegnet wird. Und der Ansporn, es selbst immer wieder zu versuchen.

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