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10.6.24

Ach Europa, ach, ach, ach

Vorweg: Das Ergebnis der Europawahl in Deutschland ist aus meiner Sicht ein Desaster. Und das der Grünen ist wirklich schlecht und eine Niederlage und Hypothek. Da gibt es nichts schönzureden. Mich persönlich hat es auch ein bisschen überrascht, weil ich den Eindruck hatte, dass die Hass- und Hetzkampagne und die überproportional viel zerstörten Grünen-Plakate eine gewisse Solidarisierung ausgelöst hatten. Wenn es die gab (wo ich mir nicht mehr sicher bin), hat sie nicht zu Stimmen geführt. Sondern wahrscheinlich ist dies, also die rund 12%, die Baseline. Die übrigens vor wenigen Jahren noch bei 6-7% lag, das aber nur am Rande und als Pfeifen im Walde.

Zerbrochene güne Glasflasche
Foto von CHUTTERSNAP auf Unsplash

Jetzt aber erstmal ein paar erste Gedanken zum Ergebnis und zur Perspektive, die sich daraus ergibt. Zum einen, indem ich das Ergebnis anders einordne. Zum anderen, wenn ich ganz lokal auf die genauen Stimmen gucke. Und zum dritten mit ein paar ersten Schlussfolgerungen.

Wenn wir das Wahlergebnis, wie es üblich ist, mit dem letzten Ergebnis der gleichen Wahl vergleichen, übersehen wir meines Erachtens relativ viel. Vor allem alles, was inzwischen passiert ist. Interessanterweise war ich gestern im Wahllokal überrascht, als die Grünen ganz oben auf dem Zettel standen – weil sie in Schleswig-Holstein bei der letzten Europawahl die stärkste Partei wurden. Danach lagen eine Landtagswahl, eine Bundestagswahl und eine Kommunalwahl, bei keiner dieser Wahlen haben wir auch nur annähernd wieder dieses Ergebnis erreicht. Mir war, obwohl ich ja nun selbst aktiv Politik mache, nicht mal mehr bewusst, dass es bei der Europawahl hier bei uns soooo gut war.

Viel spannender finde ich für die Analyse, das (desaströse, immer noch) Wahlergebnis zur letzten Bundestagswahl in den Vergleich zu nehmen. Das war immerhin die letzte bundesweite Wahl. Und da gibt es weiterhin die gleichen Bewegungen, die wir auch gestern und heute auf den Balken sahen, aber eben etwas anders gewichtet:

Gewinne und Verluste der Regierungsparteien, der CDU und der Nazis im Vergleich zur Bundestagswahl

Was wir sehen: weiterhin gewinnen CDU und die Nazis deutlich. Weiterhin verlieren alle Regierungsparteien deutlich. Aber weder ist die FDP stabil, wie sie uns gestern glauben machen wollte. Noch halbieren sich die Grünen, wie die FDP uns gestern glauben machen wollte. 

Die Gewichte in der Ampel verschieben sich allerdings mit dieser Wahl – wenn wir sie zumindest teilweise so interpretieren, dass sie die politische Stimmung in diesem Land widerspiegeln: War der Anteil der Grünen an der Regierung nach der Bundestagswahl 28,3%, sind es nun 38,4%. Das heißt, von denen, die für Regierungsparteien stimmten, haben fast 40% für die Grünen gestimmt. Während es bei der FDP genau andersrum ist. Bei Regierungsbildung standen sie für 22,2% innerhalb der Koalition. Jetzt nur noch für 16,8%. 

Noch einmal: das macht das Ergebnis nicht besser, überhaupt nicht. Aber es lässt Rückschlüsse zu, was wir damit anfangen könnten. Beispielsweise sagt es zumindest mir, dass wir Grüne auf keinen Fall weiter nachgeben/zurückweichen dürfen. Unser Gewicht innerhalb der Regierung wächst mit jeder Wahl. Im Vergleich zu SPD und FDP sind wir relativ gesprochen stabil. Dass uns unterwegs unsere Koalitionspartnerinnen wegbrechen, lässt uns da trotzdem vorsichtig sein – aber für das kraftmeierische Verhalten der FDP nach der Europawahl gibt es keine Datenbasis.

***

Sehr deprimierend finde ich den Blick auf die hyperlokalen Zahlen. Und trotzdem empfehle ich euch, das für euer Wahllokal auch einmal zu machen. Dass fast 20% meiner Nachbar*innen Nazis wählen, macht keinen Spaß (wobei es etwas dadurch verzerrt ist, dass die Briefwahlstimmen zwar der Gemeinde, aber nicht dem Wahllokal zugeordnet werden und sich zumindest in den Stichproben hier in Schleswig-Holstein, die ich mir angesehen habe, vor allem bei AfD und Grünen die Briefwahlstimmen massiv von denen im Wahllokal unterscheiden. Sehr viel mehr Grün, sehr viel weniger Nazis).

In meinem Wahllokal haben die Grünen 37 Stimmen bekommen und die Nazis 49. Aber 20 Stimmen haben sich auf kleine Parteien verteilt, die thematisch am ehesten mit den Grünen verwandt sind, davon allein 5 für die Tierschutzpartei, die damit 2% bekommen. Europawahlen sind anders als andere Wahlen, weil wir hier andere Hürden haben und auch Kleinstparteien Abgeordnete ins Parlament schicken. Dennoch macht mir sehr große Sorge, dass ein Drittel derer, die zur Wahl gehen und etwas wählen, das mehr oder weniger im Wertehaushalt zu Hause ist, den auch die Grünen bedienen, diese nicht (mehr) wählt, wählen will, wählen mag. Dass wir die hier verlieren und eben nicht mehr als Bündnispartei funktionieren, ist strategisch ein Riesenproblem.

Ähnlich ist es auf der rechten Seite des Spektrums. Die CDU bei uns auf den Dörfern ist eine, mit der wir Grüne ganz überwiegend gut zusammenarbeiten. Ein bisschen ist es eine Generationenfrage, aber das ist es ja oft. Was mir jetzt große Sorgen macht, ist, dass CDU und AfD bei uns hier im Wahllokal und in der Gemeinde zusammen dieses Mal ungefähr so viele Stimmen bekommen haben wie bei der Kommunalwahl die CDU alleine (ungefähr 50%). Da war die AfD nicht angetreten. Dass es die CDU ebenso wie wir nicht schafft, über die Kerngruppe hinaus Menschen bei der Europawahl an sich zu binden, ist nicht gut.

Noch mal: bei uns ist die CDU unverdächtig, mit Nazis gemeinsame Sache zu machen. AfD und CDU sind kein "Lager". Genauso wenig, wie die Partei oder Volt oder die Klimaliste unser "Lager" sind. Aber es gelingt uns beiden nicht, das Ausfransen zu verhindern.

***

Wenn ich nun noch ein paar Gedanken zu Schlüssen aus dieser Wahl aufschreibe, weiß ich, dass das latent bekloppt ist. Und ein bisschen nach Hybris und Leitartikler und alter Mann klingt. Macht nix. Ich bin ein alter Mann. Und das hier ist mein Blog. Pah.

Also. Dass die Grünen in der Bundesregierung die einzigen sind, die mit Argumenten regieren und für Kompromisse stehen, hat sie, scheint mir, in eine strategische Sackgasse geführt. Vielleicht ist die unvermeidbar, wenn der machtbewussteste Organisator der Regierungsgrünen ein großartiger Kommunikator und sehr guter Exekutivmann ist aber eben ein wirklich schwacher Stratege. Ich sehe ja auch durchaus den Sinn dahinter, die FDP nicht so zu brüskieren, dass sie vollkommen ihre Selbstkontrolle verliert. Und auch den Sinn dahinter, die SPD nicht so vorzuführen, dass sie wieder so wild um sich schlägt wie beim Durchstechen des frühen Entwurfs des Heizungsgesetzes. Aber das Regieren gegen zwei unwillige Partnerinnen kommt ja nun sehr offensichtlich an seine Grenzen.

Wenn das Europawahlergebnis eines zeigt, dann zumindest für mich vor allem, dass die einzigen, die in der Regierung nicht vollkommen untergehen, die Grünen sind. Darauf könnten wir aufbauen. Weniger Rücksicht nehmen auf einen unfähigen kleinen und einen in der Analyse falsch liegenden großen Partner. Die Mobbingversuche der FDP abperlen lassen und in der Öffentlichkeit nicht mehr auf Lindner reagieren. Scholz' Stamokap-geschulten Mann fürs Grobe hart attackieren. Dessen Analyseschwäche und Lindners wirtschafts- und finanzpolitische Unbedarftheit hart angehen. 

Denn es stimmt ja nicht, dass vor allem die FDP eine alternative Machtoption hätte. So stark kann die CDU gar nicht werden in einer Bundestagswahl, dass die FDP ihr zur Mehrheit verhelfen kann. Und wie nach jeder Regierung, an der die FDP in den letzten 30 Jahren beteiligt war, wird keine Partnerin nach der dann nächsten Wahl wieder mit ihr regieren wollen. Denn egal, mit wem sie regiert: sie verliert. Weil sie offenbar tatsächlich nicht regieren kann. Sollte die CDU eine Regierung ohne die Nazis bilden wollen nach der nächsten Wahl, hat sie nur eine reale Option: die Grünen. Diese Option versucht die Bundesführung der CDU gerade, kaputt zu machen. Umso klarer und selbstbewusster könnten die Grünen in der verbleibenden Zeit sein.



4 Kommentare:

  1. Anonym10.6.24

    Danke für die Analyse, die mir nochmal eine neue Perspektive gegeben hat.

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  2. Anonym10.6.24

    Vielen Dank für die Gedanken. Ich stimme mit dir im Großen und Ganzen überein. Nur im letzten Absatz würde ich anmerken: Die CDU hat immernoch die SPD als möglichen Partner.

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  3. Katja11.6.24

    Danke für die Analyse. Die würden vermutlich nicht allzu viele Menschen teilen, aber mir hilft sie gerade ein bisschen, weil ich insbesondere die Situation der Grünen ähnlich bewerten würde – und es immer hilft, wenn man nicht mehr das Gefühl hat, ganz allein mit dem eigenen Standpunkt zu sein.

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  4. Michael11.6.24

    Hallo Wolfgang,
    "Darauf könnten wir aufbauen. Weniger Rücksicht nehmen auf einen unfähigen kleinen und einen in der Analyse falsch liegenden großen Partner."
    Mag sein, ich sehe das aber noch nicht. Nehmen wir als Beispiel die Diskussion zum Rentenpaket II. Was kommt in der veröffentlichten Meinung vor? Eigentlich nur Kommentare (kritische und wohlmeinende) zu den vorgebrachten Punkten der SPD und FDP. Was ist die Meinung der Grünen? Vielleicht lese ich die falschen Medien, aber bei dem Thema (oder auch anderen ohne direktem Bezug zu Klima/Umwelt) finden die Grünen nicht veröffentlicht statt. Das ist ein Problem, weil ihr als Partei bei zu wenig Themen wahrgenommen werdet.

    "Ach Europa, ach, ach, ach"
    Ja, aber ganz besonders Ach Deutschland, ach, ach, ach. Ich habe in Deinem alten Wahllokal in Meiendorf gewählt, und dort sind Grüne/SPD/CDU fast gleichauf, aber alle haben ein bischen verloren, dafür hat AfD/BSW massiv gewonnen. Das heißt, wenn man sich hier mit den Leuten unterhält, in der Kassenschlange oder wo auch immer, ca. jeder 12 muss ein Idiot sein. Es ist einfach deprimierend.

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